Wie ein Schmetterling im Käfig. Frauke Bielefeldt

Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt


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      „So ’n Quatsch, so könnten Sie hier zwei Stunden sitzen!“, war ihre Antwort. Als die Kanüle für die Infusion endlich gelegt war, schaffte ich es gerade noch aus dem Stationszimmer nach draußen. Auf dem Flur fiel ich dann ohnmächtig zu Boden, mit angelegter Infusion am Arm, den Infusionsständer in der Hand. Niemand hat es gesehen.

      Wirklich widersinnig erscheint es mir, wenn Informationen über die Krankengeschichte (Anamnese) nicht einbezogen werden. In der Theorie spielt dies eine große Rolle, aber in der Praxis sieht es oft anders aus. Ein eigentlich sehr renommierter Arzt (immerhin Chefarzt einer Uniklinik) sah in meiner geschädigten Schilddrüse die Ursache für alles, dabei zeigte ich ihm anhand meiner Befunde, dass die Schilddrüsenwerte in den ersten Jahren in Ordnung gewesen waren.

      Besonders eindrücklich erlebte ich dies auch bei meinem Krankenhausaufenthalt in der Diagnostik. Die Stationsärztin zeigte anfangs echte Anteilnahme. Dann hieß es, meine Beschreibungen würden sich ja wirklich ganz nach CFS anhören, ob ich etwa vorher die Seiten im Internet gelesen hätte? (Hatte ich nicht, meine Beschreibungen hörten sich deshalb so ähnlich an, weil meine Symptome so ähnlich waren.) Doch diese Diagnose genügte ihnen nicht, denn sie wollten unbedingt „was Richtiges“ finden, wie sie sagten. Als schließlich gegen Ende nur die üblichen diffusen Unauffälligkeiten auf dem Papier standen, kam die Frage, die wohl jeder ME/CFS-Kranke kennt und fürchtet: „Machen Sie eigentlich Sport?“

      „Nein, ich kann leider nicht“, lautete meine Antwort. Da ich die Logik dahinter inzwischen kannte, beeilte ich mich hinzuzufügen: „Aber als die Krankheit ausbrach, habe ich im Verein Handball gespielt und bin in der Woche über 100 Kilometer Rad gefahren.“

      Ich traute meinen Augen nicht, als ich hinterher im Bericht las: „Insgesamt … raten wir zu einem Kuraufenthalt mit körperlichem Training wegen bestehenden Trainingsmangels.“ Der zugrunde liegende Befund (hoher Laktatanstieg aufgrund einer extrem niedrigen anaeroben Schwelle) wurde für mich im Nachhinein dennoch hilfreich (Hinweis auf gestörte Mitochondrienfunktion). Sie hatten ihn dort einfach nicht deuten können, aber die Begründung mit dem fehlenden Sport hätte aufgrund meiner Anamnese eigentlich ausgeschlossen werden müssen.

      Manche Ärzte reagieren richtig beleidigt, wenn man ihnen als Patient Informationen geben möchte. Als mich mein Hausarzt einmal für eine Spezialuntersuchung (EEG = Elektroenzephalogramm) zu einer Neurologin schickte, wusste man dort mit meiner Überweisung nichts anzufangen. Ich war inzwischen daran gewöhnt, dass ich mich mit ME/CFS besser auskannte als viele Ärzte, und erklärte ihr, was es damit auf sich hat und warum ich dafür ein EEG bräuchte. Im Arztbrief stand später, ich hätte mein „Gegenüber unterschwellig entwertend behandelt“ und bräuchte eine Psychotherapie. Wir hatten gerade einmal fünf Minuten miteinander geredet und das ausschließlich darüber, warum mein Hausarzt ein EEG haben wollte. Am liebsten hätte ich ihr auch ein Gutachten geschrieben.

      Die Psychofalle

      Das bringt uns zu einer weiteren Variante von Arztgeschichten, und die verläuft so:

      Keiner der Fachleute findet etwas Bedeutsames. Ihr Hausarzt schickt Sie daraufhin zum Psychologen. Der findet auch nichts Konkretes, aber da Sie darauf beharren, dass es Ihnen nicht gut geht und Sie wenig Kraft haben, attestiert er Ihnen eine leichte Depression. Wenn Sie die psychischen Symptome dafür nicht bieten können, gibt es noch die larvierte (= verkappte) Form. Oder man nimmt an, dass Sie sich Ihren kranken Zustand nur einbilden, und erklärt Sie zu einem Hypochonder (wenn es nicht gleich darauf hinausläuft, dass Sie ein Simulant seien, der seinen Zustand bewusst vortäuscht, um an Sozialleistungen zu kommen).

      Das geschieht leider ziemlich oft. Selbst in Studienzeiten hatte ich dies schon öfter miterlebt. Ein Kommilitone hatte nach einem Sportunfall schwere Schwindelanfälle. In der ersten Klinik konnten die Ärzte auf dem Röntgenbild aber nichts Verdächtiges erkennen und so wurde ihm nahegelegt, dass es die Psyche sei. (Nach einem Sportunfall!) Spätere Untersuchungen erbrachten dann doch einen Befund an der Halswirbelsäule und die Psycho-These war sofort vom Tisch. Eine Studienkollegin brauchte nach einer Borreliose einige Monate, um wieder auf die Beine zu kommen. Irgendwann wurde ihr gesagt, dass es wohl die Psyche sei, was bei ihr wirklich an den Haaren herbeigezogen war. Ohne konkrete Ansatzpunkte wurde einfach eine Behauptung aufgestellt, da man sich nicht anders zu helfen wusste.

      Ein so wenig erforschtes Krankheitsbild wie ME/CFS macht die Sache natürlich nicht einfacher. Mein erster Internist meinte, ich hätte vielleicht Angst vor dem Abi. Ich war völlig überrascht, denn ich kam in der Schule gut klar und hatte nie Prüfungsangst erlebt. Nicht dass daran etwas Anrüchiges gewesen wäre, aber es stimmte einfach nicht. Ein späterer Internist, dem ich inzwischen von meiner Holzschutzmitteldiagnose erzählen konnte, legte mir nahe, dass ich aus ideologischer Überbesorgtheit um die Umwelt ein hypochondrisches Syndrom entwickelt hätte. Ich war so fassungslos, dass ich mich nicht erinnern kann, wie das Gespräch überhaupt endete. Erst später las ich über das Konzept des „Ökochondrismus“ und erinnerte mich an die Begegnung.

      Geradezu absurd war meine Begegnung mit einem Vertretungsarzt, der mir eigentlich nur eine Infusion anlegen sollte. Stattdessen hielt er mir einen Vortrag über unsere einengende Gesellschaft, die mich wohl krank gemacht hätte. Er wollte mir allen Ernstes nahelegen, dass es ja schon eine Zumutung an die persönliche Freiheit sei, dass man im Straßenverkehr auf der rechten Seite fahren müsste. Auf einer einsamen Insel würde es mir sicher viel besser gehen. Irgendwann musste ich ihn unterbrechen, um endlich zu meiner Infusion zu kommen. Das Wartezimmer war rappelvoll.

      Das Fatale an solchen Erlebnissen ist, dass medizinische Hilfe ausbleibt, wo sie eigentlich nötig wäre. Außerdem wird man dazu angeleitet, seine Wahrnehmung völlig neu zu bewerten. Seelische Probleme, von denen man vielleicht das eine oder andere tatsächlich an sich entdecken kann, sollen so gravierend sein, dass sie ein massives Krankheitsbild hervorbringen – allein dies muss jemand, der spürt, dass er ernsthaft krank ist, erst einmal psychisch verkraften.

      Wer ein paarmal solchen Situationen ausgesetzt gewesen ist, infiziert sich schnell mit diesem Virus des Selbstzweifels: „Könnte es nicht doch sein? Wie war die Gefühlsregung eben in mir? Und habe ich die nicht schon öfter gehabt? Bin ich nicht tatsächlich ein bisschen labil?“

      So lernt man nach und nach, seine Körperwahrnehmung in eine seelische Wahrnehmung umzuformen. Für ME/CFS-Patienten bedeutet das zum Beispiel: „Ich bin schlapp. – Aha, mir fehlt der Antrieb. Also bin ich depressiv. Ich darf jetzt nicht in Lethargie versinken, sondern muss mich antreiben und außerdem die Probleme ausfindig machen, die mich unbewusst lahmlegen.“ Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was sie wirklich brauchen: „Ich bin schlapp. – Aha, mir fehlt die Energie, deshalb werde ich mich etwas ausruhen.“

      Ich habe gute zehn Jahre gebraucht, um mir meiner selbst so sicher zu werden, dass ich mich nicht mehr von jedem „dahergelaufenen“ Arzt verunsichern lasse, der gerade mal einen ersten Blick in meine Krankenakte geworfen hat. Von solchen Denkstrukturen kann man sich nur ganz bewusst abgrenzen. Doch dazu braucht man Selbstsicherheit und gerade die schwindet, wenn man durch seinen kranken Körper in seinem Empfinden zutiefst verunsichert ist. Hier sehe ich Probleme in der Psychosomatik, auf die wir in Kapitel 8 zurückkommen werden.

      Übrigens erleben es auch psychisch Erkrankte, dass sie willkürlich und oberflächlich mit den verschiedensten Diagnosen belegt werden. Psychiater verschreiben oft leichtfertig Psychopharmaka, um einen schnellen Erfolg zu erzielen, und manche Rehakliniken setzen auf die immer gleichen Methoden von „Aktivierung“ und „Kognitiver Verhaltenstherapie“, um am Ende Menschen für arbeitsfähig zu erklären, deren eigentliches Leiden noch gar nicht erfasst wurde.

      Im Dschungel der Therapieangebote

      Kommen wir zum fünften Szenario:

      Der Facharzt, an den Sie überwiesen wurden, ist sehr an Ihrem Fall interessiert. Immer neue Untersuchungen und Therapien werden vorgenommen. Irgendwann fragen Sie sich, wem hier eigentlich mehr gedient wird: der Wissenschaft, der Pharmaindustrie oder Ihrer Gesundheit.


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