Wie ein Schmetterling im Käfig. Frauke Bielefeldt
etc.) einbezogen werden.
So weit die Theorie. In der Praxis ist es oft weit schwerer, an seine Brötchen zu kommen, wie wir weiter unten sehen werden. Außerdem ändern sich die Gegebenheiten häufig. Als dieses Buch 2005 erschien, war die große Gesundheitsreform von 2004 noch ziemlich frisch und es lohnte sich, über die Änderungen zu informieren. Seitdem ist so vieles wieder zurückgenommen oder weiter verändert worden, dass man sich aktuelle Informationen am besten nicht aus Büchern holt, sondern aus dem Internet, in Selbsthilfegruppen oder von den Sozialverbänden (vgl. Kasten).
Was sich mit den Jahren ebenfalls geändert hat, ist die Sparpolitik der Krankenkassen: Immer häufiger wird die Erstattung von Medikamenten, Untersuchungen und Therapien verweigert, die nicht genau dem schulmedizinischen Konsens entsprechen. Auch Privatkassen zahlen inzwischen Mittel wie Vitamine und Mineralien, die bei manchen chronischen Krankheiten nachweislich eine wichtige Rolle spielen, nicht mehr, da diese offiziell auf dem Katalog der „Nahrungsergänzungsmittel“ stehen, die nicht mehr als erstattungspflichtig gelten.
Kämpfe mit Gutachtern
Als ich zum ersten Mal in die örtliche ME/CFS-Selbsthilfegruppe kam, steckte ich noch im Studium und hatte damit von arbeitsrechtlichen Vorgängen keine Ahnung. Das erste Wort, das ich in seiner Tiefe verstehen lernte, war das Wort „Gutachter“. Ungefähr die Hälfte der Gruppenmitglieder war in irgendein Verfahren verwickelt, das ihnen die Anerkennung als Kranke sichern sollte, dessen Endziel ihre finanzielle Grundversorgung darstellte. Die einen mussten zum Gutachter der BfA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, heute Deutsche Rentenversicherung), die anderen zum Amtsarzt und eine zusätzlich noch zur Berufsgenossenschaft, weil es sich um eine Vergiftung am Arbeitsplatz handelte.
Immer wieder erzählten sie hinterher frustriert, dass ihnen nicht geglaubt worden sei. Ich fand es ziemlich offensichtlich, dass wir alle ganz schön krank waren, aber Sparzwänge sind besonders leicht umzusetzen, wenn Patienten eine umstrittene Diagnose haben – ganz egal, wie schlecht ihr Zustand ist. Irgendwann hatten es die meisten von ihnen geschafft, wenigstens für die nächsten Jahre. Doch die Kämpfe haben unglaublich viele Nerven gekostet. Meinen ersten eigenen Gutachtertermin hatte ich auf dem Sozialamt, nachdem ich einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung gestellt hatte. Immerhin war ich schon seit einigen Jahren Rollstuhlbenutzerin. Die Arztberichte, die ich eingereicht hatte, klangen ebenfalls stichhaltig und so bekam ich eine Einladung zur Untersuchung auf dem Versorgungsamt.
Insgeheim dachte ich, dass es eigentlich nicht so schwierig sein dürfte, die Gutachter von meiner Bedürftigkeit zu überzeugen. Doch was dann folgte, glich den bekannten Geschichten: „Machen Sie doch mal diese und jene Bewegung.“ Natürlich konnte ich das, und ich erklärte der Amtsärztin, dass ich nicht funktionell eingeschränkt sei, sondern im Kräftepotenzial. Ich hatte mir ein paar prägnante Beispiele überlegt, um meinen normalen Tagesablauf mit seinen Begrenzungen zu schildern. Außerdem stand das ja alles schon in den Berichten meiner behandelnden Ärzte. Doch nichts konnte sie beeindrucken. Am Ende riet sie mir noch, öfter die Treppe zu meinem Zimmer im dritten Stock auf und ab zu gehen.
Schließlich wurde ich mit einem Behinderungsgrad von 30 % abgespeist – was einem nichts nützt außer einer winzigen Erhöhung des Steuerfreibetrags (den man erst einmal erreichen muss). Mein Folgeantrag zwei Jahre später, in dem ich noch meine chronischen Wirbelsäulenprobleme anführte, hievte mich dann auf phänomenale 40 %. Arbeitsrechtlich interessanter wird es erst ab 50 % und für den ersehnten Parkausweis hätte ich 100 % mit zusätzlicher schwerer Gehbehinderung gebraucht. Das wird für mich wohl mein Leben lang unerreichbar bleiben und so heimse ich mir immer wieder mal das ein oder andere „Knöllchen“ ein.
Viele machen die schockierende Erfahrung, dass offizielle Gutachter gar nicht das wirkliche Ausmaß der Erkrankung wissen wollen, sondern vor allem darauf aus sind, Simulanten zu entlarven. Dazu sind sie in geschickten Fragetechniken geschult, die einen verwirren und dazu bringen sollen, Dinge zu sagen, die man eigentlich nicht sagen wollte. Ein Psychologe, selbst an ME/CFS erkrankt, gab uns in einer anderen Selbsthilfegruppe den strikten Rat, auf Gegenwehr, Argumentation und Aufregung aller Art zu verzichten. Die Logik hinter der Strategie der Gutachter erklärte er uns so: „Wer sich noch ärgern kann, kann so krank nicht sein.“
Löcher im sozialen Netz
So müssen also trotz der relativ guten Sicherungssysteme in Deutschland viele chronisch Kranke irgendwann um ihr Recht kämpfen, sei es für die Rente, den Behindertenausweis oder die Rückerstattung bei der Krankenkasse. In vielen Fällen ist es angesagt, sich einen Anwalt zu suchen, der sich im Sozialrecht auskennt. Viele wenden sich an den Sozialverband VdK („Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands“), um Beratung und Rechtsbeistand zu bekommen. Der VdK ist ein starker Verband mit über einer Million Mitgliedern, der bei Regierungen und anderswo die Interessen von Behinderten und anderen sozial Benachteiligten vertritt. Er verfügt über ein dichtes Netz von Zweigstellen und die erste Rechtsberatung dort ist sogar für Nichtmitglieder kostenlos.
Doch manchmal kann auch die beste juristische Hilfe nicht verhindern, dass man durch die Maschen des sozialen Netzes fällt. Das Problem der irrtümlichen Psychiatrisierungen haben wir schon in Kapitel 2 angesprochen, nun kommt also der Simulantenverdacht hinzu. Bei ME/CFS wird gleich das ganze Krankheitsbild psychosomatisiert; in Deutschlands Medizinerkreisen hält sich die Vorstellung immer noch hartnäckig, dass wir an einer „falschen Krankheitsauffassung“ leiden, d. h. dass wir uns letztlich die Kraftlosigkeit nur einbilden, weil wir von einem Infekt genesen sind, ohne es gemerkt zu haben. Es ist ein Skandal, wie viele Schwerkranke aufgrund dieser Verharmlosung nicht nur um Anerkennung und Behandlung ihrer Krankheit gebracht werden, sondern auch um die finanzielle Unterstützung, die ihnen eigentlich zusteht.
Und dann gibt es noch den unglücklichen Umstand, dass man einfach zu früh in seinem Leben krank geworden ist. Wenn die Krankheit (wie bei mir) noch zu Schulzeiten ausbricht, hat man keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente, selbst wenn man einige Jahre in die Sozialsysteme einzahlen könnte. Abgesehen davon würde sie minimal ausfallen, wenn man von vornherein nur teilzeitig arbeiten konnte und die Rentenhöhe entsprechend anteilig berechnet wird. So bleibt nur die Grundsicherung (früher Sozialhilfe, heute nach Sozialgesetzbuch/SGB 12), für die man fast keinerlei Erspartes im Rücken haben darf. Rücklagen für das nächste Auto, das einem die müden Beine ersetzt, oder Medikamente und Therapien,