Zwischen "nicht mehr" und "noch nicht". Ulla Peffermann-Fincke

Zwischen


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– Krisen und Reifung

      Die Entwicklung unserer Persönlichkeit verläuft nicht linear, sondern in Stufen und mit den dazwischenliegenden Übergängen. Jeder Übergang bringt Unsicherheit mit sich. Das führt zu einer Krise, deren Bewältigung für die Entwicklung der Persönlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Mit diesen Sätzen kann man einen Kern der Erkenntnis des berühmten deutsch-amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Erik H. Erikson beschreiben.

      Im Unterschied zum Begründer der Psychoanalyse, Siegmund Freud, der die Entwicklung der Persönlichkeit vor allem durch innere Kräfte (Triebe) gesteuert und motiviert sah, hält Erikson zusätzlich die psychosozialen Beziehungen für wesentlich. Wir sind eben nicht nur triebgesteuert, sondern entwickeln uns auch – und manchmal mehr – durch familiäre und freundschaftliche Beziehungen, aber ebenso durch Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen. Die einzelnen Lebensstufen haben alle ihre besonderen Aufgaben, Chancen und Gefahren. Es sind Zeiten besonderen Glücks und es sind Phasen, die anstrengend und überfordernd sein können.

      Jede Lebensstufe hat aber auch eine gemeinsame Aufgabe: Sie soll uns bei der großen Frage nach unserer Identität helfen, bei der Suche nach Antworten auf die Frage: »Wer bin ich, und wer könnte ich sein?« Und: »Was ist der Sinn meines Lebens?«

      Wir sind technisch und von unserem Wissen her in der Lage, unseren Planeten zu zerstören. Aber sind wir auch in der Lage, von unserem Bewusstsein, unserem Glauben, unserer mentalen Kraft her die Erde zu schützen und zu bewahren? Wenn man die politischen Führungspersonen in den verschiedenen Ländern betrachtet, kann einem Zweifel kommen. In immer mehr Ländern sind Autokraten an der Macht. Demokratie wird von vielen Menschen offensichtlich nicht mehr als die beste Gesellschaftsform angesehen. Der bekannte Psychiater und Neurologe Borwin Bandelow schreibt: »In Krisen reagieren wir noch immer steinzeitlich. Wir wollen einen starken Anführer und wir wollen einen einfachen Ausweg« (Märkische Zeitung 20.05.2020).

      Das muss aber nicht so sein. Es gibt auch eine andere geistige Grundhaltung, die jedoch häufig schwieriger einzunehmen ist, weil sie uns fordert: Ein non-duales Denken, das die Wirklichkeit nicht nur in »richtig« oder »falsch« unterteilt, sondern in »sowohl« und »als auch«. Es ist leichter, in Schwarzweiß-Kategorien zu denken. Damit werde ich aber der Wirklichkeit, die meist differenzierter und damit spannungsreicher ist, nicht gerecht. Ein Beispiel: Barack Obama wurde auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin gefragt, wie er mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten umgeht. Er antwortete: »Ich frage mich in solchen Situationen, ob der andere nicht auch recht haben könnte – und sei es nur ein wenig!« Eine solche Haltung erfordert, die Perspektive zu wechseln, Spannungen auszuhalten und keine einfachen Lösungen zu suchen. Jesus treibt das Ganze auf die Spitze, indem er von seinen Jüngern fordert, nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde zu lieben (Matthäus 6,27–35). Die Beispiele großer Friedensstifter – Jesus, Martin Luther King, Mahatma Gandhi – zeigen, dass es ein lebenslanger, oft dorniger Weg ist, seine Feinde zu lieben, der einen manchmal sogar das eigene Leben kostet.

      Es geht aber bei dieser Haltung nicht nur um die äußeren Feinde, sondern auch um die inneren: um Leidenschaften, die mir das Leben schwer machen, wie Neid, Geiz oder Wut. Diese Leidenschaften können wir nicht einfach wegzaubern, aber wir können sie zähmen. In diesem Buch geht es daher nicht nur um Krisenzeiten, sondern auch darum, herauszufinden, wer ich bin und wer ich sein will. Und es geht um das eigene Selbstbild und Fremdbild, also: Wer bin ich und für wen halten mich die anderen beziehungsweise wer möchte ich nach außen sein?

      Von diesem Zwiespalt oder diesem inneren Kampf erzählt das bekannte Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: »Wer bin ich?«:

      Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

      ich träte aus meiner Zelle

      gelassen und heiter und fest,

      wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

      Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

      ich spräche mit meinen Bewachern

      frei und freundlich und klar,

      als hätte ich zu gebieten.

      Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

      ich trüge die Tage des Unglücks

      gleichmütig lächelnd und stolz,

      wie einer, der Siegen gewohnt ist.

      Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

      Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

      Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

      ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

      hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

      dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

      zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

      umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

      ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

      müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

      matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen

      Wer bin ich? Der oder jener?

      Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

      Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

      Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

      Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

      das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

      Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

      Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

      (Widerstand und Ergebung, S. 188)

      Wer sind wir und wie können wir uns weiterentwickeln auf unserer Lebensreise? Diesen Fragen wollen wir in diesem Buch nachgehen.

      Erik H. Erickson unterscheidet acht Stufen der Entwicklung, die jeweils eine spezifische Herausforderung für den Menschen bereithalten. Bei aller Zustimmung zu diesem Entwicklungsmodell, das vor allem dazu diente, die Entwicklungsschritte junger Menschen auf dem Weg ins Erwachsenwerden zu beschreiben, ist zu beachten, dass auch in der zweiten Lebenshälfte einschneidende Lebensveränderungen und »Sprünge« auf uns warten.

      Heute wissen wir, dass die Dynamik der Persönlichkeit in der individualisierten, pluralisierten und multioptionalen Gesellschaft auch in höheren Jahren noch dramatische Veränderungen mit sich bringt. Deshalb unterscheiden wir hier zehn Lebensstufen, die durch Zwischenräume getrennt sind. Wenn wir diese Lebensstufen mit ihren Herausforderungen besser wahrnehmen und verstehen, kann uns das helfen, auf eine gute Weise in unserer Persönlichkeit zu wachsen.

      Der deutsch-französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) hatte vor allem bei indigenen Völkern beobachtet, dass beim Übergang von einer Lebensstufe zur nächsten (zum Beispiel vom Jugendlichen zum Erwachsenen) besondere Rituale eine große Rolle spielen, die sogenannten Rites de Passages (Übergangsriten), die in den Zwischenräume zur Geltung kommen. Es sind Zeiten, in denen wir spüren, dass eine Veränderung im Leben ansteht, aber noch nicht da ist. Victor Turner, ein Ethnologe mit Schwerpunkt Ritualforschung, benutzt für diesen Zustand den Begriff »liminal space«. Dieser drückt aus, dass es sich um einen Grenzraum handelt, einen Zustand auf der Schwelle, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht greift. Es geht darum, diesen Spannungszustand bewusst zu durchleben. Nichts verläuft wie immer oder normal, weil es in dieser Phase keine Normalität mehr gibt. Alles ist anders und deshalb wird eine erhöhte Aufmerksamkeit von uns gefordert. Wir werden mit uns selbst auf eine neue Art konfrontiert. Ein Beispiel: Wenn ich mich auf eine neue berufliche Herausforderung beworben, eine Zusage erhalten habe und meinem neuen Arbeitgeber bestätigen muss: Ja, ich werde die Stelle antreten. Plötzlich werde ich unsicher. Soll ich das wirklich tun? Soll ich meinen Wohnort


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