Zwischen "nicht mehr" und "noch nicht". Ulla Peffermann-Fincke
Jahren – ich war zu dem Zeitpunkt 59 Jahre alt – befand ich mich genau in einer solche Situation. Ich hatte damals mit meiner Frau lange Diskussionen über unsere Zukunft geführt. Wir hatten zwölf Jahre in Lübeck gelebt, einer wundervollen Stadt an der Ostsee und der Trave. Ich sah überhaupt keinen Grund, von hier wegzugehen. Doch meine Frau – eine überzeugte Rheinländerin – bat mich inständig darum, zu versuchen, eine Pfarrstelle im Rheinland zu finden. In einem Alter, in dem andere intensiv an den Ruhestand denken, sollte ich noch einmal als Pfarrer in einer neuen Stadt, einer anderen Landeskirche, einer anderen Kultur anfangen. Dann wurde tatsächlich eine Stelle in Bad Godesberg frei.
Von da an befand ich mich in einem »liminal space«: Die Gemeinde in Bad Godesberg hatte Interesse, meine alte Gemeinde hätte mich gerne behalten. Ich hatte einige schlaflose Nächte, war hin- und hergerissen, habe die Frage »durchkaut«, wie es Ignatius von Loyola in seinen Exerzitien vorgibt. Ich kam damit aber nicht weiter. Geholfen hat mir dann der heilige Franz von Assisi.
Einer unserer spirituellen Lehrer, den wir in unserem Buch öfters erwähnen, ist der Franziskanerpater Richard Rohr. Wir mögen seinen wertschätzenden, aber gleichzeitig kritischen Blick auf unsere christliche Tradition und seine Offenheit für andere spirituelle Wege. In seinem »Center for Action and Contemplation« in New Mexico lehrt er die franziskanische Spiritualität, bei der es um einen praxisbezogenen Weg geht und weniger um theoretische Überlegungen theologischer Art. Er beschreibt beispielsweise die Lösung von Problemen bei einer Entscheidungsfindung gerne so: Wenn der Heilige Franz auf einer Wegkreuzung stand und nicht wusste, wo er hingehen sollte, streckte er seinen rechten Arm aus, drehte sich, und dort, wo der Arm am Ende des Drehens hinzeigte, ging er lang. Wenn der Weg richtig war, dankte er Gott. Und wenn der Weg falsch war, drehte er wieder um und dankte ebenfalls Gott, der ihn nun rechtzeitig hatte umkehren lassen und ihn jetzt ganz sicher den richtigen Weg führen würde. Ich nahm die Stelle also an, ging mit meiner Frau ins Rheinland, unsere Tochter fing an zu studieren und ich erlebte noch sechs intensive und erfüllende Jahre als Pfarrer bis zum Ruhestand.
Zwischen jeder der Lebensstufen gibt es solche Zwischenräume. Es sind Zeiten, in denen wir eine besondere Klarheit finden, Mut und innere Kräfte, um das, was uns hemmt und unfrei macht, abzugeben. Und es sind Zeiten der Offenheit und Gottesnähe. Ich muss durch diese Zwischenräume kommen. Es führt kein Weg daran vorbei.
Van Gennep beobachtete in diesen Zwischenräumen bestimmte, immer wiederkehrende Abläufe von ritualisierten Handlungen. Diese Rituale können sehr hilfreich sein für die Bewältigung von Krisenzeiten. Man kann drei Abschnitte unterscheiden, die man am besten am Beispiel einer Brücke und eines Flusses zeigen kann.
Rückblick und Abschied: die Ablösungsphase
Übung
Stellen Sie sich einmal vor, vor Ihnen liegt ein großer, breiter Fluss. Auf der anderen Seite sieht man schemenhaft das andere Ufer. Sie merken: Dieser Fluss ist tief und breit, hier kommen sie nicht mehr weiter, der Weg ist an diesem Fluss zunächst an sein Ende gekommen.
Sie müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass etwas zu Ende geht: das Arbeitsleben, die Jugend, die Ehe, das Leben, das Leben der Lieben. Sie möchten das möglicherweise gar nicht. Sie möchten, dass es immer so weiter geht wie bisher. Aber das nützt alles nichts. Unser Körper altert sogar schon vor dem Alter, die Zeit bleibt nicht stehen, der Ruhestand steht bevor, Beziehungen sind nicht mehr zu retten.
Wenn ich das nicht akzeptieren kann, laufe ich wie ein Hund am Fluss hin- und her und bin kreuzunglücklich, weil ich den Weg nicht finden kann. In unseren Kursen machen wir an dieser Stelle eine einfache Übung: Wir drehen uns um und blicken zurück auf das, was war.
Es geht dabei darum, danke zu sagen – zum Beispiel für die Zeit meiner Jugend mit ihren Ambivalenzen: Es gab schöne Zeiten in der Schule. Der erste Kuss, gute Noten, gute Freunde. Aber es gab auch unglückliche Zeiten, wenn die Angst da war, keinen passenden Partner zu finden, alleine zu sein, vielleicht in der Schule ein Jahr wiederholen zu müssen. Ähnliches gilt für andere Lebenszeiten, in denen es ebenfalls immer Glück und Unglück gab. Für beides versuche ich dankbar zu sein und dann ohne Bitterkeit Abschied zu nehmen. Ohne dieses »Umdrehen«, um ehrlich mein Leben zu betrachten, kann ich nicht wirklich frei werden für die nächste Phase.
Innehalten zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«: die Zwischenphase
Übung
Sie betrachten wieder den Fluss. Jetzt sehen Sie eine schmale Brücke oder eine Hängebrücke, die darüberführt. Um ans andere Ufer zu kommen, müssen Sie über diese Brücke gehen. Eine wackelige Angelegenheit. Als Sie mitten auf der Brücke sind, können Sie nach unten blicken. Tief nach unten. Sie merken plötzlich, dass Sie nicht mehr zurückgehen können. Der Rückweg ist versperrt.
Das ist der schwierigste Moment: Wenn wir merken, wir sind in dieser Schwellensituation, wie Richard Rohr diesen Übergang nennt. Es ist ein Moment existenzieller Angst, aber zugleich auch tiefer Vorfreude. Werde ich die neue Situation bewältigen oder werde ich scheitern? Diese Zeit der Unsicherheit muss ich aushalten, man kann sie nicht abkürzen, ohne seelischen Schaden zu nehmen. Es ist auch eine Zeit des inneren Kampfes. So wie Jesus in der Wüste mit dem »Verführer« kämpfte, kämpfe ich mit meinen Dämonen, meinen Schattenseiten. Zudem muss ich diesen Weg alleine gehen, niemand kann es mir abnehmen, das durchzustehen und meine eigenen Entscheidungen zu treffen – und mit den Konsequenzen zu leben. So wie der etwa 40-jährige Mann, der an einem unserer Seminare teilnahm. Es stellte sich heraus, dass er kurz vor seiner Hochzeit stand. Das Brautkleid, der Anzug waren schon gekauft, die Feier organisiert und die Gäste eingeladen. Eigentlich eine Zeit großer Vorfreude. Er fühlte sich aber kreuzunglücklich bei dem Gedanken, verheiratet zu sein. In dieser besonderen Zeit, auf der Schwelle zum Eheleben, wurde ihm immer klarer, dass er nicht heiraten wollte. Es wäre nur Theater. Doch was nun? Manche Klarheit entsteht erst in einem solchen Zwischenraum!
Ausblick und weitergehen: die Integrationsphase
Übung
Stellen Sie sich vor: Sie gehen Ihren Weg über die kleine Brücke. Sie sind sicher, Sie werden es schaffen. Sie kommen am anderen Ufer an.
Integration meint, mein bisheriges Leben mit all seinen Höhen und Tiefen mit dem neuen Lebensabschnitt zu verbinden. Das Alte ist vorbei, aber die Erfahrungen, die ich gemacht habe, haben mich geprägt, mich zu dem, zu der gemacht, der oder die ich heute bin.
Erwachsenwerden bedeutet, den eigenen Weg zu gehen, Übergänge und Brüche zu bewältigen, die das Leben für uns bereithält. Das braucht manchmal Abgrenzung, ist schmerzlich, voller Enttäuschungen. Und es heißt manchmal auch, andere zu enttäuschen, um sich selbst treu zu bleiben, sein Leben zu leben und nicht von anderen gelebt zu werden. In unserem Beispiel entschied sich der Bräutigam, die Hochzeit abzusagen. Für die Braut brach eine Welt zusammen. Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen und zahlte alle entstandenen Kosten, aber er spürte, dass die Entscheidung richtig war.
Diese Übergangsphasen durchlaufen wir immer wieder auf den verschiedenen Lebensstufen. Wir bleiben nicht stehen, Leben geht immer nur vorwärts, auch wenn wir es oft erst im Rückblick verstehen. Aber es lassen sich Phasen erkennen, die jeder Mensch mehr oder weniger deutlich durchläuft und durchlebt oder durchleben muss. Daher möchten wir im Folgenden die zehn Lebensstufen etwas genauer anschauen.
Die zehn Lebensstufen
Hier zunächst ein Überblick über alle Lebensstufen, welchem Lebensalter sie ungefähr zuzuordnen sind und welche Grundthemen dabei eine Rolle spielen.
Lebensstufe 1 (Schwangerschaft bis 1. Lebensjahr)
Urvertrauen versus Misstrauen
Lebensstufe 2 (2. bis 3. Lebensjahr)
Erste Emanzipation von Vater und Mutter
Lebensstufe 3 (4. bis 6. Lebensjahr)
Ich wäre so gerne …
Lebensstufe 4 (6. Lebensjahr bis zur Pubertät)
Neugierde versus Frustration
Lebensstufe 5 (Pubertät bis zum 16.