Copacabana. Dawid Danilo Bartelt
Damen ohne Herrenbegleitung durften eine Dienerin mitführen, dieser war das Baden aber nicht gestattet. Kidder und Fletcher zufolge bedurfte es allerdings wahren Muts, diese Badeanstalt zu nutzen, zumindest vor der Verbesserung des Abwassersystems der Stadt. Nach und nach entstanden entlang der Strände vom Stadtzentrum bis Botafogo Hotels, die auf Badegäste setzten; Antonio Francioni war 1828 wohl der Erste, der für sein neues Hotel mit dem belebenden Effekt des Meerwassers warb, und wo konnte sein Etablissement anders gelegen sein als am Strand von Caju, den der königliche Kranke für solche Unternehmungen geadelt hatte. Einige Jahrzehnte später hat das Meerbad eine andere Referenz. »Ihr Meeresbad in Luxus und nach heutigem Kenntnisstand ist der Hauptzweck dieses wichtigen Hotels; unser System entspricht dabei dem der Seehotels in den USA, England, Frankreich und der Schweiz«, wirbt das Große Seehotel von Botafogo 1883. Die Parameter der großen Seebäder Europas – medizinische Wissenschaft und Regelhaftigkeit einerseits, soziale Exklusivität, Luxus und Komfort andererseits – sind bindend geworden für das organisierte Salzwasserbad in den Tropen. In dieser Zeit wirbt auch schon ein kleines Hotel in Copacabana mit medizinischen Meeresbädern.
Viele kleinere Strände des 19. Jahrhunderts liegen heute unter Hafenbeton, Geschäftsvierteln oder dem Asphalt der Avenida Beira-Mar, wie der Strand von São Cristóvão oder der Strand von Santa Luzia. Die gleichnamige Kirche stand damals direkt am Strand, vom Portal führte eine Treppe bis ans Wasser, und ausweislich eines Photos sprangen junge Kühne noch 1917 von hohen Holzgerüsten hinein. Santa Luzia war ein Strand für die einfachen Leute und nicht zuletzt deswegen so populär, weil dort, gegen ein paar Groschen, Holzkabinen zur Verfügung standen: anderthalb auf zwei Meter, eine Bank, ein Spiegelchen, aneinandergebaut in langen Reihen. Santa Luzia und Boqueirão – der etwas weiter westlich verlief, wo sich heute der Passeio Público befindet – hatten eingangs des 20. Jahrhunderts zusammen sieben solcher Badehäuser. Sie gehörten Franzosen und Italienern. Madame Dordeau, die 1870 mit 50 Kabinen in Santa Luzia anfing, hatte 1904 mit 400 Kabinen die größte casa de banho. »Die schmalen Korridore so dunkel, daß es Gaslaternen brauchte; überall hing nasse Badekleidung, und es roch beständig und gesund nach Algen, nach Meer«, so der Chronist und Flaneur Paulo Barreto alias João do Rio 1911.
Vor dem großen Ansturm: Copacabana und der Zuckerhut (um 1910), in der Bildmitte der erst in den 1950ern gänzlich abgetragene Inhangá-Felsen
»Es gab einen Moment, da nahm ganz Rio ein Bad im Meer«, beschreibt Barreto die Entwicklung zum Ende des Kaiserreichs. Und zwar vor allem am Boqueirão, einem Strand, der geographisch wie sozial mitten im Leben liegt. Einige Jahrzehnte lang führte dieser Strand die Cariocas zusammen, zu einer gemeinsamen, wenn auch subtil differenzierten und segmentierten Veranstaltung:
»Am Boqueirão, in jenem Winkel der Bucht, machten sich nun die gesellschaftlichen Schichten sichtbar. Die Ärmsten badeten noch im Dunkel, vor vier Uhr, gratis, denn sie zogen sich direkt im Sand um. Ab fünf wurde es voll: bleiche Damen im Mantel, den Korb mit der Kleidung in der Hand, ganze Familien vom Stöpsel bis zur kleinen schwarzen Amme, Herren, die noch nicht im Bette waren, Damen zweifelhafter Lebensführung, die Rheumatiker, die Ausgezehrten. Mit Sonnenaufgang trafen im Gefolge der Invasion der Handelsangestellten die Wohlhabenderen ein: Beamte, Familien mit großem Namen, Titelträger. Einige kamen aus Botafogo mit dem Wagen … Von acht bis neun Uhr die Apotheose, im Meer wie in den Kabinen und im Café. In den Umkleidebereichen herrschte ein geschäftiges Kommen und Gehen, noch Nasse liefen an schon Bekleideten vorbei, Grüße und Gelächter flogen hin und her, Hände wurden geschüttelt, die Herzlichkeit menschlicher Gruppenbildung, die durchaus zu dauerhafter Bindung, zu Liebe und zu emotionaler Verwirrung führen kann. Im Meer konnte man die Gruppen der verschiedenen Umkleidehäuser erkennen; die Gruppen begegneten sich nicht, außer am Sonntag.«
Dieses getrennte Miteinander mitten in der Stadt war ausgangs des Jahrhunderts schon wieder Geschichte. Die Damen der Gesellschaft und die Titelträger mieden den Boqueirão; sie waren an die standesgemäßeren Strände von Flamengo und Copacabana weitergezogen. Übrig blieben die Armen, die etwas zu Lauten und die jungen Ruderer mit ihren starken Muskeln, die sie den Mädchen vorführten, auch den leichten.
So näherte sich die Elite im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam dem Strand an, während das Volk schon längst vergnügt plantschte. Noch vor der großen urbanen Aufräumaktion eines Francisco Pereira Passos, dessen Reformen die Stadt buchstäblich umkrempelten, entwickelte sich der Strand Rio de Janeiros zu einem Praxisraum städtischer Hygiene, die medizinisch wie sozialpsychologisch aufgefasst wurde und daher das »Genau-Fünf-Minuten-Bad« vor Tagesanbruch auf nüchternen Magen, wie es der Arzt verschrieb, ebenso meinte wie das Sichtreibenlassen auf morgensonnenglitzernder Welle. Bürgermeister Pereira Passos erließ 1906 die erste städtische Verordnung für die Bäder der Stadt. Danach musste jedes einen großen und gut belüfteten Raum vorweisen können, für die Ertrunkenen oder fast Ertrunkenen. Ebenso mussten sie über eine gut ausgestattete Apotheke verfügen, einschließlich Mundöffner und Mundsperren, Pinzetten, Spritzen, Verbänden und Klinikhandschuhen. Die Baderegeln des Doktor Debay von 1907 empfahlen dringend, nicht mehr als ein Bad täglich zu nehmen, nach einer Mahlzeit drei bis vier Stunden zu warten, beim Bad ganz einzutauchen, sich dabei zu bewegen und beim ersten Frieren das Wasser zu verlassen. Einen Skandal verursachte die französische Starschauspielerin Sarah Bernhardt 1886 nicht nur, weil sie sich bei ihrem ersten Rio-Aufenthalt zum Meerbad an den entlegenen, wilden und nur beschwerlich zu erreichenden Strand von Copacabana begab. Wie der Tourismushistoriker Marcelo Machado berichtet, verweilte sie außerdem noch Stunden im Badeanzug und schaute einfach hinaus bis zum Horizont. Und sie ging nach sieben Uhr morgens ins Wasser – schlichtweg undenkbar in jener Zeit.
Am Ende dieses Jahrhunderts finden wir zahlreiche für das Meerbad eingerichtete Strände vor, ein Netz von Badeanstalten, einen Sittenkodex mit vielen Artikeln und noch mehr Verstößen, eine Bademode, die noch keine ist, und Projekte für eine großartige Erweiterung des Raums wie des Konzepts von Strand in Rio de Janeiro. Der Durchstoß des Alten Tunnels 1892, von dem gleich die Rede sein wird, brach dem Mythos eine Bahn. Es begann, eher bescheiden, mit Picknicks an der Copacabana.
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