Copacabana. Dawid Danilo Bartelt
in diesem Stück Natur-Kultur gar politisch relevante Kräfte: »Der kalte und phlegmatische Politiker des Nordens hat selten die Wirkung einer schönen Gegend auf die menschliche Seele berechnet; sonst würde er wohl nicht erwartet haben, daß der portugiesische Hof seinen neuen Aufenthaltsort verlassen sollte. Dies ist ein stiller, aber mächtiger Sachwalter; seine Wirkung ist allgemein und immerwährend; sie wird bei jedem Aufgang der Sonne erneuert und von jedem Strahl des Mondes unterstützt.«
Und noch gut einhundert Jahre später empfanden viele die Landung in Rio wie Stefan Zweig als »einen der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen«, waren »fasziniert und gleichzeitig erschüttert«.
Zweifelsohne bot und bietet die Bucht von Guanabara ein besonderes Schauspiel: ein Ensemble von Wasser, Inseln, schroffem Bergfels, üppiger Flora und Barockarchitektur, im Panoramablick vom Oberdeck aus zu erfassen. Schönheit, Erhabenheit, Panorama – das sind Schlüsselkategorien des Pittoresken, das die europäische Ästhetik seit dem späten 18. Jahrhundert bestimmte. Zwischen Französischer Revolution und Zweitem Weltkrieg war Brasilien neben Mexiko für Europäer und US-Amerikaner das beliebteste Reiseland Iberoamerikas. Das galt nicht zuletzt für solche Reisende, die ihre Erfahrungen verschriftlichen wollten. Das wohl beste Verzeichnis Bibliografia do Rio de Janeiro de Viajantes e Autores Estrangeiros von Paulo Berger nennt rund 2000 gedruckte Ausgaben von Reiseberichten (Übersetzungen eingeschlossen) zwischen 1531 und 1900, die Betrachtungen zu Rio de Janeiro enthalten. Das 19. Jahrhundert lieferte die reichhaltigste Produktion. Nach 1800 hörte das Fernreisen auf, ein aristokratisches Privileg zu sein. Es war vielleicht das Jahrhundert der Entdeckungsreisen, in dem Menschen des Nordens die Länder des Südens naturwissenschaftlich vermaßen und kartographierten. Fast alle Brasilien-Reisenden, ob sie dem Amazonas, dem dürren Hinterland des Sertão, den deutschen Siedlungen im Süden oder dem noch weitgehend unbekannten brasilianischen Zentralplateau zustrebten, wählten Rio als Start- und Zielort ihrer Exkursionen und Feldforschungen, von den in Geschäften und im Dienst der Diplomatie Reisenden einmal ganz abgesehen. Rio de Janeiro diente ihnen als Schleuse, Übergangszone zwischen Vertrautem und Fremdem; als Ort der langsamen Gewöhnung ans Klima wie an die Kultur. Zentral für die Erkundung der Neuen Welt durch diese Reisenden aber war etwas, was sich in der Bucht von Guanabara in schönster Verklärung zeigte: die Natur.
Kleingeschrieben: Wirkungen europäischer Wissenschaft
»Der allgemeine Eindruck ist wahrhaft erhaben. Aber als der Segler sich der kahlen Küste nähert, sehen wir die besonderen hellblättrigen Bäume Brasiliens, hier und da einen purpurblühenden Quaresma-Baum, wir beobachten die schlangenartigen cacti, wir sehen, wie die reich wuchernden Parasitenpflanzen sogar von den steilen und schroffen Wänden des Zuckerhuts herunterhängen …«
Pfarrer Kidder war durchaus keiner der vielen Botaniker, die Brasilien auf der Suche nach Katalogisier- und Benennbarem durchkämmten, wie die Deutschen Prinz zu Wied-Neuwied, Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich von Martius, der Schweizer Louis Agassiz oder der Brite George Gardner, um nur einige der bekannteren zu nennen. Dennoch war die tropische Flora und Fauna ihm besondere Aufmerksamkeit wert, denn in ihr spiegelte sich die Seele dieser Neuen Welt und zugleich ihre Unterlegenheit. Die Lehre des französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon, wonach Amerika als feuchter Erdteil ein ungesunder, seine Fauna degenerierender Kontinent sei, war im Europa des 19. Jahrhunderts noch weithin akzeptiert. Für viele andere Autoren war die Bevölkerung des neuen Kontinents zivilisatorisch notwendig unterlegen. Wenige Seiten in Henry Thomas Buckles voluminöser History of Civilization in England über ein Land, das der Autor nie gesehen hatte, stürzten brasilianische Intellektuelle in Verzweiflung. Buckle, der in »Klima, Boden, Nahrung und dem allgemeinen Aspekt der Natur« die wichtigsten Einflussfaktoren auf die menschliche Rasse sah, zählte Brasiliens Natur in ihrer unvergleichlichen Fruchtbarkeit und Üppigkeit zu den Weltwundern. Doch das übermäßige Zusammentreffen von Hitze und Feuchtigkeit überfordere eine unfähige Bevölkerung, so der 1862 verstorbene Brite:
Blick auf die Bucht von Guanabara (um 1880)
»Wie alle Menschen in der Kindheit ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stehen die Einheimischen der Unternehmung ablehnend gegenüber … Entlang der Küste Brasiliens hat europäischer Einfluss zu einem gewissen Grad von Zivilisation geführt, den die Einheimischen aus eigener Kraft nie erlangt hätten. Aber diese sehr unzulängliche Form von Zivilisation hat hintere Winkel des Landes nie erreicht … In ganz Brasilien lassen sich keine Monumente einer Zivilisation auffinden, nicht einmal einer niedrigen; es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Menschen sich jemals über den Stand erhoben hätten, in dem sie sich befanden, als man ihr Land entdeckte.«
Buckles vernichtendes Urteil ist in Brasilien mehrfach übersetzt und weithin gelesen worden. Das gilt auch für die Reisebeschreibung des bekannten Naturforschers Louis Agassiz. Anders als Buckle oder auch Buffon hatte sich Agassiz immerhin in Brasilien aufgehalten – und dort eine paradigmatische Bestätigung der Rassentheorien europäischer Wissenschaft vorgefunden:
»Ein jeder, der an der schädlichen Wirkung der Rassenmischung zweifelt, und aus falsch verstandener Philanthropie die Schranken zwischen den Rassen niederreißen will, sollte nach Brasilien kommen. Dann wird er die üblen Folgen nicht mehr leugnen, die aus der Verschmelzung der Rassen entstehen, einer Verschmelzung, die hier weiter reicht als in jedem anderen Land der Welt, und die die besten Qualitäten des weißen Mannes, des Negers und des Indio auslöscht, um sie durch einen undefinierbaren Bastard-Typuszu ersetzen, dem es an körperlicher wie seelischer Energie gebricht.«
Die Natur ringt mit der Kultur oder, wie man damals eher sagte, mit der Zivilisation. Europäer und US-Amerikaner sehen darin den Urkonflikt jener überseeischen Länder und Völker, und einen, den sie nur verlieren können. So erhaben sich die Natur darstellt, so unzulänglich zeigt sich den Reisenden das, was an Zivilisatorischem, wie beispielsweise in der nachlässigen Pflege der Kaffeeplantagen, erkennbar ist.
Beständig konstatieren Europäer in ihren Texten über Rio einen Mangel: Rio ist kaum herrschaftlich, als Kaiserresidenz nicht präsentabel, hat kaum Straßen, die den Namen verdienen, und die Abwasserentsorgung ist ein Gräuel.
Brasilien war nicht nur der zu erwartenden Fülle von Eindrücken wegen als Reise- und Forschungsland besonders beliebt. In den meisten der jungen hispanoamerikanischen Republiken herrschte politische Unrast. Im Ringen um die Macht war die Waffe schnell bei der Hand. Das Kaiserreich Brasilien wartete hingegen mit politischer Stabilität und mehr Sicherheit auf. Das große Territorium versprach vielfältige Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Klimazonen, ohne die Unbill von Grenz- und Zollschranken fürchten zu müssen.
Das lange 19. Jahrhundert ist als das »Jahrhundert der Wissenschaften« gekennzeichnet worden, und diesem Trend hatte sich auch Brasiliens Kaiser Pedro II. verschrieben. »Die Wissenschaft bin ich«, soll er einmal gesagt haben, wohl mit Augenzwinkern in Richtung eines berühmteren Amtskollegen im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung differenzierten sich Natur- und Gesellschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert aus, Voraussagen anhand empirisch ermittelter Fakten wurden zum neuen Glauben der Zeit, und der Wissenschaftler zur gesellschaftlich relevanten Figur. Nach Brasilien gelangten die vielen neuen Ideen mit Verspätung und fanden nur selektive Aufnahme: Bei den Intellektuellen einer postkolonialen, »rassisch gemischten« Gesellschaft standen Positivismus, Sozialdarwinismus und rassistische Theorien hoch im Kurs. Unter Pedro II. entstanden die ersten rechtswissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten, historisch-geographische Institute und naturwissenschaftliche Forschungs- und Bewahrungseinrichtungen. Mit Ausnahme des von Pedros Großvater João VI. gegründeten Nationalmuseums in Rio wurden Naturkundemuseen und Botanische Gärten allerdings erst im letzten Drittel des Jahrhunderts verwirklicht. Bis dahin war das Sammeln und Bezeichnen der brasilianischen Flora und Fauna ausschließlich Sache der ausländischen Experten, und Pedro II. unterstützte sie kräftig dabei.
In ihrem Hochzeitsgefolge brachte die Habsburgerin Leopoldine von Österreich im Juli 1817 zahlreiche deutschsprachige Künstler und Wissenschaftler