Copacabana. Dawid Danilo Bartelt

Copacabana - Dawid Danilo Bartelt


Скачать книгу
und Rio ist Brasilien, diese Gleichung gilt bis heute. Copacabana war immer gleichzeitig Utopie und belebtes Nationaldenkmal in einem. Auch wenn es schon goldenere Zeiten gab: Brasilien, insofern es sich als moderne, lebendige, dem Meer und damit der Außenwelt zugewandte Nation versteht, kommt in Copacabana zu sich selbst. »Rio 2016, eine andere Zukunft hat begonnen«, versprachen Transparente bei den Feiern. In ihren besten Zeiten war Copacabana – die Copacabana – die Zukunft selbst.

      Eine Heilige mit Migrationshintergrund Sacopenapan und die portugiesische Kolonie

      Einmal im Jahr ist die Copacabana weiß, baumwoll- und lilienweiß. Am letzten Tag des Jahres verwandelt sich der Strand nicht nur in die größte Volksfestmeile der Welt mit etwa zwei Millionen Besuchern und einem gigantischen Feuerwerk, das seinen Platz in der Tagesschau und auf CNN sicher hat. Copacabana wird an diesem Tag auch zu einem überdimensionierten Wallfahrtsort für die Göttin Iemanjá.

      Priesterinnen und Priester dieser Göttin des Meeres in der afrobrasilianischen Religion des candomblé halten Göttinnendienst am Strand. Am Ende der Zeremonien empfängt Iemanjá ihre Opfergaben. Noch Tage später ist der Strand von Blumenstängeln und Blütenblättern bedeckt, die die Menschen an Silvester den Wellen übergaben. An Silvester haben die Brasilianer einen Wunsch frei. Er kostet eine weiße Blume für Iemanjá. Manche legen etwas drauf.

      Wer am Silvestertag über den Strand wandert, muss achtgeben, nicht in eines der vielen 40 – 60 Zentimeter tief in den Sand gegrabenen Löcher zu treten, damit er die kleinen Kerzen nicht löscht und die Opfergaben – eine Flasche Schnaps, ein wenig Obst und immer wieder Blumen, weiße Lilien vor allem – ihr Richtiges bewirken können.

      Weiß ist die Farbe des Tages, und auch die meisten derer, die nur zur Silvesterfeier an die Copacabana kommen, kleiden sich weiß. Die Religiosität ist den Brasilianern nicht abhandengekommen, nur weil sie sich – nimmt man die ebenso prosperierenden wie lautstarken evangelikalen Kirchen aus – aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Und ein guter Katholik hat in Brasilien allemal ein Eckchen in seiner Seele reserviert für eine Gottheit des Candomblé, umbanda oder einer anderen Spielart der afrobrasilianischen Religion. Iemanjá ist besonders beliebt. Und die Aufgeklärten holen das weiße Hemd aus dem Schrank getreu dem Motto: Ich glaube zwar nicht dran, aber wer weiß schon genau, was wird? Die gesamte diensthabende Redaktion der größten Tageszeitung Rios, O Globo, arbeitet am 31. Dezember in Weiß.

       Prozession am Strand von Copacabana zu Ehren Iemanjás

      Dass Iemanjá hier in diesem Umfang gehuldigt wird, ist naheliegend, oder besser: folgerichtig. Denn der Strand Copacabanas ist sozusagen als Wallfahrtsort geboren worden.

       Überseefahrten und die Landnahme in der »Neuen Welt«

      Man könnte sich den Beginn der Geschichte Copacabanas als Begegnung zweier Linien vorstellen, die sich in dem später so berühmten weißen Halbrund treffen. Die eine nimmt ihren Anfang 1492 beziehungsweise 1500 in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon; die andere ein paar Jahrzehnte später am bolivianischen Ufer des Titicaca-Sees.

      Die geologische Formation von Fels, Vegetation, Lagunen, Sediment und Sand, auf der der Stadtteil »Copacabana« im Süden der Stadt Rio de Janeiro entstehen wird, ist jedenfalls sehr alt. Und natürlich war hier, als die Europäer landeten, schon lange jemand zu Hause.

      Der Spezialist John Hemming schätzt die indigene Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Brasilien um 1500 auf 2,4 Millionen Menschen: Jäger, Fischer und Sammler, deren Herkunft im Dunkeln liegt, da sie anders als die mittelamerikanischen indigenen Hochkulturen weder Schriften noch Bauten hinterließen. An der Küste Rio de Janeiros siedelten vor allem die der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie zugehörigen Tamoio und Tupinambá. Als zu Jahresbeginn 1502 in der Bucht von Guanabara eine portugiesische Karavelle aufkreuzte, machten sie, um ein treffendes Wort Georg Christoph Lichtenbergs zu verwenden, eine »böse Entdeckung«. Die Annalen lassen im Unklaren, wer das Kommando hatte über die kleine Flotte von vermutlich sechs Schiffen, ob es André Gonçalves, Gaspar de Lemos oder D. Nuno Manuel war, der den ersten europäischen Blick auf Rio de Janeiro warf. Sehr wahrscheinlich war es der Matrose im Ausguck, während Gonçalves, Manuel und de Lemos in der Offiziersmesse zu Abend aßen. Für den Ausguck und die anderen Mannschaftsmitglieder interessieren sich die Annalen gewöhnlich nicht. Dies völlig zu Unrecht, denn die Pionierleistungen des Kolumbus, von Pedro Álvares Cabral oder Gonçalves wären ohne die Namenlosen nicht denkbar. Und nicht zuletzt zählen jene vom Schicksal Verschlagenen und Ausgespuckten – Abenteurer, Glücksspieler, Habenichtse sowie zahlreiche Verbannte und zum Tode Verurteilte – zu den Stammvätern des heutigen brasilianischen Volkes.

      Zwei Jahre zuvor, am 22. April 1500, war der portugiesische Kommandant Pedro Álvares Cabral in der Bucht von Cabrália an Land gegangen, nördlich des heutigen bekannten Badeorts Porto Seguro im Bundesstaat Bahia. Brasilien war »entdeckt«. Zunächst im Glauben, eine Insel gefunden zu haben, nannte Cabral sie später Terra da Vera Cruz (Land des Wahren Kreuzes). Die Kontaktaufnahme mit den unbekleideten Indios gestaltete sich friedlich, und man tauschte Geschenke aus. Cabral blieb neun Tage, ließ einen Gottesdienst abhalten, den die Hausherren weidlich bestaunten, und stellte erste Erkundungen der Gegend und astronomische Berechnungen über deren Lage an. Nunmehr gewiss, doch eine Landmasse entdeckt zu haben, ergriff Cabral im Namen seines Königs und in souveräner Überzeugung, hierzu von höchster – sprich göttlicher – Stelle berechtigt zu sein, von dem Land formell Besitz. Wie Cabral wusste, war Kolumbus am 12. Oktober 1492 auf der kleinen Insel Guanahani von Bord gegangen, hatte das Banner seiner Könige in den ihm völlig unbekannten Strand gerammt und – auf Spanisch – eine Erklärung verlesen. Darin sprach er das Land der spanischen Krone zu und erklärte die anwesenden (und nicht anwesenden) Bewohner zu Untertanen der Krone. In einem Bericht merkte er an: »Y no me fue contradicho« – »Man widersprach mir nicht«.

      Spät, aber heftig brach im Zuge der Feiern zur 500. Wiederkehr des 12. Oktober 1492 in der iberoamerikanischen Welt ein öffentlicher Streit aus. Es ging – und geht – um die Frage, ob die Landnahme der Europäer in Lateinamerika eher als Entdeckung oder Eroberung, als Begegnung der Kulturen oder als Massaker, als frühkapitalistische Ausbeuterunternehmung oder Erweckung moderner Nationen aus ihrer finsteren Vorgeschichte zu werten sei. Lange sind in der offiziellen Geschichtsschreibung beiderseits des Atlantiks die kalkulierten Grausamkeiten, die europäischen Taktiken und Praktiken von Macht und Herrschaft, die Menschen, Kultur und Natur vernichteten, verschwiegen oder kleingeschrieben worden. Eine Geschichte Lateinamerikas ist aber ohne sie nicht zu erzählen. Die Tupinambá machten am 1. Januar 1502 wirklich eine »böse Entdeckung«, denn sie wurden in Rio de Janeiro, wie auch weiter im Norden, in einem großangelegten Feldzug zwischen 1564 und 1574 nahezu vernichtet. Bereits 1570 war die indigene Bevölkerung Brasiliens um etwa zwei Drittel auf 80.000 gesunken. Eingangs des 17. Jahrhunderts waren in Rio de Janeiro vielleicht noch 1.000 Tupinambá am Leben.

      Doch die (Kolonial-)Geschichte Lateinamerikas ist nicht nur eine Geschichte des Feuers, sondern auch eine Erzählung vom Wasser und von der Erde. Eine Erzählung von denen, die die Angst überwanden, die dem Fluch des Raumes, dem kulturellen Ballast eines jahrhundertelangen Schreckens vor dem Meer trotzten und sich den trügerischen Planken der Wellen verschrieben.

      Die Fahrt hinaus auf das offene Meer, dessen Weite unabsehbar und dessen Tiefe nicht zu erahnen war, war schon bei aller Vernunft betrachtet ein Wagnis. Ihr ging jedoch ein Sieg voraus, den es zu erringen galt, bevor das erste Segel gehisst war: der Sieg über den Mythos, die eigene Tradition und Geschichte. Im Wagnis, hinaus auf den Atlantik zu fahren, auf der Suche nach einem Hinüber, vermischten sich die widersprüchlichsten Motive: großer Mut und Machthunger, Entdeckergeist und unermessliche Gier, kühne Spekulation und berechnende Planung, Sendungsbewusstsein und missionarischer Eifer.

      Ohne die vor allem ökonomischen Rationalitäten der großen Seereisen kleinzureden, die als risikokalkulierte Großinvestitionen die Staatskassen füllen sollten,


Скачать книгу