Copacabana. Dawid Danilo Bartelt

Copacabana - Dawid Danilo Bartelt


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Stadt gab es im 19. Jahrhundert »mehr Afrika«. Sklaven, in bunten Gewändern oder halbnackt, aneinandergekettet oder mit einem Korb auf dem Kopf, Sklaven, die sich als Tagelöhner verdingten, Sklavinnen, die am Straßenrand Essen verkauften, und vor allem Sklaven, die Lasten trugen: »Durch diese nützliche Menschen-Klasse werden alle Kaufmannsgüter vom Hafen in die Stadt geschafft; sie tragen vereint zu zehn und zwölf, durch Gesang oder vielmehr Geheul sich im Tacte haltend, schwere Lasten an großen Stangen«, beobachtete 1815 der deutsche Ethnologe Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied. Sklaven trugen Wasser für die Haushalte oder Exkremente aus den Haushalten, die zusammen mit dem Müll ins Meer gekippt wurden, oder schleppten ihre Herrinnen in Sänften. Es gab kein Haus, keinen Garten, kein städtisches Handwerk und keine Manufaktur, wo nicht Sklaven tätig waren – als Hilfs-, aber auch als Facharbeiter. Sklaven liefen ausschließlich barfuß, fertigten aber Schuhe nach Maß an. Sklaven schmiedeten jene dornenbewehrten Halsbänder, die zu ihrer Bestrafung dienten. Sklaven backten das französische Weißbrot, das in Mode gekommen war und das sie selbst nie aßen. Ohne Sklaven hätte es, wirtschaftlich gesprochen, kein Rio de Janeiro des 19. Jahrhunderts gegeben.

      Erst 1888, als zweitletztes Land Amerikas, schaffte Brasilien die Sklaverei offiziell ab. Sie hat vier Fünftel der bisherigen Geschichte Brasiliens nach der Eroberung von 1500 geprägt. Und sie wirkt in allen gesellschaftlichen Beziehungen nach – auch am Strand von Copacabana, wie wir noch sehen werden. Konservativen Berechnungen zufolge wurden während der Kolonialzeit, also bis etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zwei Millionen Afrikaner zwangsweise nach Brasilien verfrachtet und verkauft. Andere Schätzungen liegen bei fünf Millionen, und dabei muss man sich klarmachen, dass viele weitere zwar die Schiffe lebend betraten, aber während der Reise an den unglaublichen Zuständen unter Deck zugrundegingen. Ein Grund für die hohen Zahlen lag in der wirtschaftlichen Logik des Sklavenhandels und -gebrauchs: Die Preise für einen jungen männlichen Afrikaner waren derart, dass sich die »Sklavenzucht« nicht lohnte. Wenn der Sklave nach durchschnittlich 15 Jahren Arbeit verbraucht war und starb, war es billiger und somit rationaler, einen neuen zu kaufen, als Sklaven Kinder haben zu lassen, die dann über Jahre zu versorgen waren, bis sie denselben Nutzen brachten, zumal die Frauen als Schwangere, Wöchnerinnen und Mütter nicht die volle Arbeitsleistung bringen konnten. Es gab Sklavenfamilien, aber viele Frauen erlitten Aborte oder Totgeburten, und für die Lebendgeborenen lag die Aussicht, das Erwachsenenalter zu erreichen, bei fünf Prozent. Viele Sklavenkinder wurden ihren Eltern weggenommen und in kirchliche Findelhäuser abgeschoben. Weniger als ein Drittel von ihnen überlebte.

      Natürlich hat es persönliche Beziehungen zwischen Sklaven und ihren Herren oder Herrinnen gegeben. Das gilt insbesondere für die, die im Haus tätig waren. Aber ein Sklave war, rechtlich wie faktisch, ein Wegwerfartikel. Die Sklavin Isaura, die 1986/1987 in der gleichnamigen Telenovela das Thema auf deutsche TV-Bildschirme brachte, war daher denkbar untypisch: Sie war weiß, sie kam frei und sie wurde nicht nur geliebt, sondern sogar von einem Plantagenbesitzer geheiratet.

      So fußte die Gesellschaft des Kaiserreichs weiter auf einem offenen Gewaltverhältnis. Nicht nur deshalb waren die Menschen in der Stadt Rio de Janeiro ständig in Sorge um ihre Sicherheit. So etwas wie einen vertraglich gesicherten Arbeitsplatz gab es bis weit ins 20. Jahrhundert kaum. Auch der Staat hatte einem freien, aber armen Untertanen keinen Schutz zu bieten. In den nur ausnahmsweise gepflasterten Straßen bedrohten schlingernde Karren, ausschlagende Pferde, faulender Unrat und Kot das Wohlbefinden von Knochen und Nase. Und nach Einbruch der Dunkelheit, in Rio also etwa nach 18 Uhr, konnte es tatsächlich gefährlich werden. Denn »diese Stadt ist des Nachts miserabel beleuchtet«, wie 1833 der Engländer Charles Bunbury feststellte. »Viele der kleinen Straßen liegen in vollständiger Dunkelheit, in den anderen die Laternen derart weit auseinander, dass sie ihren Zweck verfehlen.« Die Klage über fehlende Straßenbeleuchtung durchzieht die Akten der Stadtverwaltung Jahrzehnt um Jahrzehnt. Gute Bedingungen für die capoeira. Capoeira bezeichnete schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert die ritualisierten und von Musik begleiteten Kampftechniken, die heute junge Menschen in jeder europäischen Großstadt praktizieren. In der Hauptsache bildeten schwarze capoeiristas aber organisierte Gruppen, die sich der Polizei widersetzten, Passanten angriffen und Diebstähle begingen.

      Die öffentliche Hand blieb nicht nur unsichtbar, sondern auch untätig. Das änderte sich zur Jahrhundertmitte. 1838 verkehrte der erste Pferdebus, ab 1850 erhielten die Straßen im Kommerzviertel Candelária flächendeckend Pflaster, 1854 brachten die ersten Gaslaternen mehr Licht in das beklagte nächtliche Dunkel. Für die 1860er Jahre konstatierte der Schweizer Johann Jakob von Tschudi bereits eine »ausgezeichnete Gasbeleuchtung: Die Flammen leuchten vorzüglich rein und klar und sind bis in die entferntesten Stadttheile in fast verschwenderischer Menge angebracht«. 1862 begann der Bau einer Kanalisation. Aber mit Ausnahme einiger Prachtstraßen wie der Rua do Ouvidor, deren Läden importierte Luxuswaren feilboten, war um die Jahrhundertmitte das Zentrum Rios, des alten kolonialen Rios, ein intensiv genutzter, kleiner Raum; eng, stickig und stinkig. Den größten Platz, den Campo de Sant’Ana, sah Tschudi 1858 so: »Man glaubt sich daselbst weit eher in einer Wasenmeisterei [Abdeckerei, D.B.], als im Mittelpunkte einer Residenz zu befinden. Verwüstete Grasplätze, ekelhafte Unrathhaufen, Leinen mit Wäsche behangen, alte, kranke Pferde und Maulthiere, die die letzten Tage ihres mühevollen Daseins hier noch so lange kümmerlich fristen, bis sie endlich todt zusammenstürzen und dann oft tagelang unverscharrt liegen bleiben.«

      Die Oberen haben niemals im Stadtzentrum Rios Wohnung bezogen. Wer konnte, wohnte eher außerhalb und erhöht und überließ die Stadtstraßen den Händlern, den Wasserträgern und anderen Haussklaven, dem Markttreiben, den Mücken, dem Müll und dem Gestank.

      Prinzregent João und die portugiesischen Adeligen bezogen chácaras, wie die herrschaftlichen Landhäuser genannt wurden, im kühleren São Cristóvão; die Niederen der Entourage suchten sich im benachbarten Rio Comprido eine Unterkunft. Catete, damals südlicher Stadtrand, wuchs um 1820 zum ersten Diplomatenviertel heran. Die französischen Künstler bevorzugten Tijuca, die zahlreichen englischen Geschäftsleute hingegen die strandnahen Glória, Flamengo und Botafogo, dazu etwas landeinwärts Laranjeiras, wo edle Residenzen langsam die Wochenendhäuser ablösten und Straßen die Gemüsefelder einebneten.

      Und dann war in Richtung Süden Schluss. Eine Abfolge von Felsmassiven, beginnend mit dem Morro Cara de Cão, auf dem das Sankt-Johann-Fort die Einfahrt in die Bucht überwachte, weiter über den Zuckerhut, Urca, den Telegraphenhügel Babilônia, São João, Cabritos … Wie eine Wand ragten sie auf. Dahinter lagen Leme, Copacabana, Ipanema, Leblon, die zwar bekannt, aber nur auf beschwerlichem Wege zu erreichen waren. Doch schon damals lohnten sie sich für eine Landpartie.

      Die zweite Eroberung Brasiliens Naturforscher und Rio-Reisende im Dienste ihrer Zivilisation

       Nichts von dem, was ich bisher gesehen habe, kann sich in seiner Schönheit mit dieser Bucht vergleichen. Neapel, die Firth of Forth [in Schottland], den Hafen von Bombay und Trincomalee [im heutigen Sri Lanka] hielt ich alle für perfekt, aber alle müssen hier zurückstehen; die Bucht übertrifft sie alle in je eigener Weise. Erhabene Berge, Felsen, die sich zu Säulen auftürmen, edle Hölzer, helle Blumeninseln, grüne Ufer, dazwischen weiße Häuser; jede kleine Erhebung krönt eine Kirche oder ein Fort; Schiffe vor Anker oder auf Kurs; und unzählige flinke Boote, dazu das angenehmste Klima – all dies zusammen macht Rio de Janeiro zur bezauberndsten Szenerie, die die Einbildungskraft nur hervorbringen kann.

      Hätten wir daneben gestanden, wir hätten wohl die Feder vibrieren gesehen, mit der die Engländerin Maria Graham am 15. Dezember 1821 dies notierte. Dieser Augenblick hatte über drei Jahrhunderte den Charakter einer Grenzerfahrung: »Für jeden Menschen stellt die erste Einfahrt in die Bucht von Rio de Janeiro einen prägenden Einschnitt in sein Leben dar«, war sich Reverend Daniel Parish Kidder sicher, der ihn etwa 20 Jahre später erlebte. Der Anblick der Bucht habe die Kraft, einen Menschen zur Einsicht in die Göttlichkeit der Schöpfung zu bewegen. Die Inselkette an der Buchteinfahrt erinnerte den Geistlichen an die Säulen vor dem Tempel von Luxor, die Bergkette im Hintergrund rief in ihm Alpenbilder wach. Viele Autoren bemühten Analogien aus der Weltgeschichte; der Engländer William Scully sah die Stadt »hingestreckt, wie das alte Rom über das Amphitheater seiner sieben Hügel


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