Copacabana. Dawid Danilo Bartelt

Copacabana - Dawid Danilo Bartelt


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eine neue historische Epoche. Die Nautiker des 15. Jahrhunderts waren das »operative Agens der Globalisierung« (Peter Sloterdijk). Kolumbus’ Reise war ein wichtiger Schritt von der mittelalterlichen Pilgerfahrt zur modernen Reiseunternehmung: vom kreisförmig geschlossenen christlichen Bewusstsein, das jedem Menschen seinen Weg schon bei Geburt vorzeichnete, zum Aufbruch ins Unbekannte und Ungewisse; vom Nachlaufen der Pfade aller Vorfahren, von einer Reiseerfahrung, die sich in wundersamer Form mit dem Bekannten und Gewussten deckt (die deshalb in den Tropen überall das »Paradies« vorfindet und die neuen Territorien auf den Karten entsprechend bebildert), zur Ent-Deckung des Fremden und seiner Vereinnahmung für eigene, ganz irdische Zwecke; vom Finden zum Suchen.

      Lange bevor die Europäer Brasilien entdeckten, war »Brasil« Teil der atlantischen Mythologie. Jahrhundertelang wurde nach einer »Brazil« genannten Insel gesucht. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um eine altirische Legende: Wer es schaffe, auf diese paradiesische Geisterinsel ein Stück Eisen zu werfen, könne sie betreten und dort, mitten unter strahlend schönen Jungfrauen, ein wunderbares Leben führen. Der irische Name lautet »Hy Breasail« (Land der Auserwählten). Sie wurde stets im atlantischen Raum westlich von Irland gesucht und war auf zahlreichen Atlantikkarten des Mittelalters verzeichnet.

      Der Mythos, schreibt der Historiker Holger Afflerbach, »weitete sich auf überraschende Weise aus: In den romanischen Ländern wurde die Herkunft des Namens auf brasile = feuerfarbig zurückgeführt, und es wurde vermutet, dass es auf der Insel einen roten Farbstoff oder vielleicht ein rotfarbiges Holz, aus dem Färbemittel gewonnen werden könnten, gab.«

      Womit der Mythos ganz richtig lag. Bezeichnungen wie brasile, brisilli oder Brasil tauchen bereits in italienischen Handelskarten des 12. und 13. Jahrhunderts auf. Sie bezeichneten ein rotfarbiges Holz, das aus dem Orient bekannt war, aber auch sesamähnliche Pflanzen aus dem Jemen. Und genau dieses Holz fanden die Portugiesen an der brasilianischen Küste reichlich vor. Nachdem sie ihre Enttäuschung über den Mangel an Edelmetall überwunden hatten, hielten sie sich daran, wertvolle Güter wie eben das Brasil-Holz nach Europa zu verschiffen.

      Anders als die Spanier wollten die Portugiesen ihre amerikanische Eroberung zunächst nicht besiedeln, und noch weniger das Hinterland systematisch erkunden. Die feitorias, die Handelsstationen an der Küste, entstanden als lange Zeit einzig sichtbare Zeichen der portugiesischen Kolonisation. Mit dem Anbau von Zuckerrohr auf Plantagen, auf denen afrikanische Sklaven schufteten, begann aber nur wenige Jahrzehnte später der atlantische Dreieckshandel. Er sollte Portugal für zwei Jahrhunderte hohe Einnahmen einbringen.

      Ob Gonçalves und seine Männer bei der Einfahrt in die Bucht von Guanabara so überwältigt waren von dem, was ganze Generationen nachfolgender Europäer als einzigartiges Naturschauspiel begreifen sollten, wissen wir nicht. Die Seefahrer hatten wohl andere Sorgen, und ihr Blick wird wohl vor allem den natürlichen Schutz geschätzt haben, der sich hinter den wie hingewürfelten Kegelfelsen und Übermauern bot: ein ganzes Konkav-Ensemble, Buchten in wählbarer Größe und Krümmung und Richtung. Hinzu kamen die großartigen Verteidigungsmöglichkeiten durch eine Hafenfestung, zu deren Bau kein Mensch eine Hand hatte rühren müssen. Die 140 Kilometer Durchmesser der Guanabara-Bucht weiten sich nach einer Einfahrt von lediglich 1.600 Metern Enge zwischen dem Zuckerhut und dem Santa-Cruz-Felsen.

      Die Portugiesen zogen zunächst wieder ab, nicht ohne einen kleinen, aber folgenreichen Irrtum zu begehen. Im Glauben, die Guanabara-Bucht sei die Mündung eines großen Flusses, und mit Blick auf den Kalender – 1. Januar 1502 – nannten sie den Ort Rio de Janeiro (Januarfluss). 1565 gründete der Kommandant Estácio de Sá am Strand zwischen dem Zuckerhut und dem São-João-Hügel offiziell die »Cidade de São Sebastião do Rio de Janeiro« (Stadt des Heiligen Sebastian vom Januarfluss). Doch die Portugiesen erkannten, dass die Topographie zahlreiche Möglichkeiten einer Akropolis, also einer erhöht gelegenen Siedlung, bot, und siedelten sich auf dem Castelo-Hügel an. Heute befinden sich auf Rios Anhöhen ironischerweise vor allem die Elendsviertel. Der Castelo-Hügel wurde 1922 bei umfangreichen Stadtmodernisierungen komplett abgetragen.

       Copacabana am Titicaca-See und die Schifffahrt einer Heiligen nach Rio de Janeiro

      Copacabana lag zwar offiziell innerhalb des Stadtgebiets, aber noch weit außerhalb aller Wahrnehmung. Es hieß auch gar nicht Copacabana, sondern Sacopenapan. Das Wort ist, dem brasilianischen Gelehrten Teodoro Sampaio zufolge, eine Abwandlung von çooco-apê-nupan und bedeutet soviel wie »Der Weg der Socós«, einem Raubvogel aus der Familie der Reiher, der in den Sümpfen lebte.

       Das Kirchlein der Nossa Senhora de Copacabana (1905)

      Sümpfe, Sand, Dünen, Lagunen und Felsenketten – das war das Copacabana des 16. Jahrhunderts. Das Land gehörte der portugiesischen Krone und wurde nach und nach in zumeist riesigen Lehen vergeben – der Ursprung des Großgrundbesitzes, der der brasilianischen Gesellschaft bis heute viele Probleme bereitet. Einem Versuch, nahe der großen Lagune Zucker zu produzieren, war gegen Ende des 16. Jahrhunderts wenig Erfolg beschieden. Sacopenapan hatte ab 1606 mit Afonso Fernandes wohl einen Besitzer, aber kaum neue Nutzer, und diente vornehmlich einer Viehherde als Weide.

      Viele denken, dass Copacabana eine Bezeichnung aus dem Tupí-Guaraní sei, genauso wie carioca. Diese Bezeichnung für die Einwohner der Stadt (von kara‘ïwa: »weißer Mann« und oka: »Haus«) setzte sich im 18. Jahrhundert durch. Es könnte sogar Portugiesisch sein, wenn jemand einfach copa (Pokal, Kelch, Baumwipfel, auch Anrichte) und cabana (Hütte) zusammengefügt hätte. Doch das ist linguistischer Zufall. Tatsächlich ist »Copacabana« ein Wort aus einer indigenen Sprache. Aus einer allerdings, die auf der anderen Seite des Kontinents gesprochen wurde, von Rio so weit entfernt wie Moskau von Sizilien.

      Der Name Copacabana ist vom Titicaca-See im Anden-Hochland aus nach Brasilien gelangt. Auf der bolivianischen Seite des Sees liegt eine Halbinsel: Copacabana. Copacabana war und ist heiliges Gebiet sowohl der alten Aymaras als auch ihrer Besatzer, der Inkas. Als die christlichen Spanier das Inkareich eroberten, knüpften sie an die religiöse Tradition an und errichteten ihrerseits ein Heiligtum. Hausherrin war Nuestra Señora de Copacabana (Unsere Liebe Frau von Copacabana).

      Die schönste Bucht des auf knapp 4.000 Metern Höhe gelegenen Titicaca-Sees liegt auf der Westseite der Halbinsel, überragt von zwei Hügeln aus Basaltgestein. Dort hatten schon die Aymaras ein Dorf gebaut, das die Inkas nach 1320 zu einem blühenden Zentrum ausbauten. Die Hügel waren wie natürliche Wachtürme des Sees, und daher der Name kjopac kahuaña im Aymara. Kjopac bedeutet »See« oder auch »blau«; kahuaña heißt »Aussichtspunkt«, »Ausguck«. Im Quechua, das die Inkas sprachen, wurde daraus qopa qhawana (qopa: »türkisblau«, »Edelstein«; qhawana: »Ausguck«, »Hügel«). Die Spanier schliffen und transkribierten: Copacabana. Es hieß also soviel wie »Wacht über den See«, »Aussicht ins Blaue« oder auch »Ausblick zur blauen Perle«.

      Der Titicaca-See ist der größte See Südamerikas und die nasse Naht zwischen Peru und Bolivien. Er gehört zu den wichtigen heiligen Orten Lateinamerikas. Die Bolivianer nennen ihn schlicht Lago Sagrado (Heiliger See). Copacabana ist ein religiöses Zentrum der ganzen Andenregion. Die Mythologie der Andenvölker vor der Herrschaft der Inkas nennt den See als einen der Orte der Schöpfung. Noch höhere Bedeutung verliehen der Gegend die Inkas, die dort ab dem 14. Jahrhundert herrschten. Ihnen galten die »Sonneninsel« und die benachbarte »Mondinsel« im See als Zentrum der Welt; der Tempel für den Sonnengott Wiraqocha auf der Sonneninsel war ihr heiligstes Heiligtum – ihr Jerusalem, ihr Mekka, ihr Rom.

      Den Berichten zufolge, in denen Legenden und Fakten sich unauflöslich verweben, befand sich einige Jahrzehnte nach Eroberung des Inkareiches das heruntergekommene Örtchen Copacabana auf der Suche nach einem (katholischen) Schutzheiligen. Man konnte sich nicht zwischen dem Heiligen Sebastian und der Jungfrau von Candelária entscheiden. Da passte es, dass dem Indio Francisco Tito Yupanqui, vermutlich ein Nachfahr des letzten Inka-Gouverneurs von Copacabana, eine Vision zuteilwurde.


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