Copacabana. Dawid Danilo Bartelt

Copacabana - Dawid Danilo Bartelt


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85 Säugetiere, 350 Vogelarten, 130 Amphibien, 116 Fische, 2.700 Insekten und 6.500 Pflanzenarten sammelten. Ihre dreibändige Reise nach Brasilien in den Jahren 1817 – 1820 wurde auf Jahrzehnte hin zum Standardwerk für naturwissenschaftliche Forschung zu Brasilien. Die Sammlung wurde vollständig in den Botanischen Garten von München verfrachtet, und an Pflanzen hatten beide alsbald geadelten Forscher so viel Dubletten dabei, dass auch Herbarien in Berlin, Leipzig, Wien, Petersburg, Leiden, Genf und das British Museum in London bedacht werden konnten. In Brasilien verblieb nichts – oder doch: das von den Europäern freundlicherweise vermittelte Wissen, wie die vielen Arten, die schon immer da waren und auch schon einmal Namen gehabt hatten, denn nun hießen.

      Die Botaniker und Zoologen beschränkten sich in ihren Texten keineswegs auf ihren Forschungsgegenstand im engeren Sinne. Wie die anderen Autoren traten sie auch an, die Geschichte und Gesellschaft, Ökonomie und Politik Brasiliens systematisch und vor allem so »wahrhafftig« zu beschreiben, wie es schon frühe Reisende des 16. Jahrhunderts betonten. Beispiele hierfür sind der hessische Landsknecht Hans Staden und seine Wahrhafftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen von 1557 oder wenig später der Bayer Ulrich Schmidel, der die Wahrhafftige und liebliche Beschreibung etlicher fürnemen Indianischen Landtschaften und Insulen … vorlegte.

      Die Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts hielten sich ausnahmslos für berufen und befähigt, Brasilien »als solches« mit Autorität und Wahrhaftigkeit zu beurteilen. Ihr unauflösliches Amalgam aus individuellen Erfahrungen, Gefühlen und vorgeprägten Vorstellungen verwandelte sich in kollektives Wissen mit Echtheitssiegel. Aus heutiger Sicht vereinigen die Reiseberichte jener Zeit oft verschiedene Textarten in sich: Forschungsbericht, Reportage, Roman, Geschichtsschreibung, Manifest und Drama.

      »Der Reisende ist zwar aus seiner Heimat gefahren, aber nicht aus seiner Haut«, wie Friedrich Katz in seinen Begegnungen in Rio 1945 feststellt. Wenn sie über Fernes und Fremdes schreiben, berichten Reisende auch immer über sich selbst, und manchmal mehr als über ihren Gegenstand. Das Fremde in ihren Texten entsteht, indem sie den anderen Europäern daheim von dem erzählen, was ihnen bekannt vorkommt, und das Gesehene so bewerten, wie sie und die Leser es gewohnt sind. Das ist kaum anders möglich und bedeutet doch, dass die Neue Welt, wie sie in diesen Texten erscheint, auch eine Erfindung durch den spezifisch europäischen Blick ist. Dieser ist geprägt von der tiefen Überzeugung zivilisatorischer Überlegenheit, von Jahrhunderten selbstverständlicher kolonialer Praxis und dem unerschütterlichen Glauben an einen Determinismus, nach dem »Rasse«, »Natur« und »Klima« Faktoren sind, die die Tropen und ihre Bewohner im Wettstreit der Nationen unrettbar hintanstellen.

      Man könnte auch sagen: Die Reiseliteratur trägt dazu bei, die globale Peripherie zu produzieren; das, was später »Dritte Welt« genannt werden sollte. Daher sind die europäischen und US-amerikanischen Reiseberichte wichtiger und fortwirkender Teil der lateinamerikanischen Wirklichkeit zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. Sie setzen Wahrheiten, mit denen sich die also Beschriebenen auseinandersetzen müssen. Mit Blick auf die Reisenden, die Geschäftsleute, Maler und Zeichner, Naturwissenschaftler, Söldner und auch die vielen Einwanderer aus Europa hat der brasilianische Historiker Sérgio Buarque de Holanda von einer »zweiten Entdeckung Brasiliens« gesprochen. Die Schriften und ihre Folgen für die Entstehung einer brasilianischen Literatur und Wissenschaft, aber auch für die Auseinandersetzung um nationale Identität und die richtige Gesellschaftspolitik könnte man auch als eine zweite, semantische Eroberung bezeichnen. Der europäische Spiegel steht weiterhin im brasilianischen Schlafzimmer, und er wird uns noch mehrmals begegnen.

       Das Bild von Johann Moritz Rugendas, »Praya Rodriguez: près de Rio de Janeiro« (1835), zeigt Copacabana als unberührtes, palmenbestandenes Areal mit einem einzigen sichtbaren Haus

       Sandbank und Fels – Copacabana wird noch nicht entdeckt

      Zurück in die Bucht von Guanabara: Es gibt eine große Gemeinsamkeit der Rio-Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie verschwenden bei ihrem Erstkontakt keinen eigenen Blick auf die Vielzahl der Strände, die die Fächer der Bucht zu bieten haben. Und auch im Zweitkontakt vermögen die Strände Rios wenig zu beeindrucken. Maria Graham, in Rio bald Zofe der späteren portugiesischen Königin Dona Maria, besuchte in der Umgebung von Rio nicht nur Kaffeeplantagen. Bei ihrem zweiten Rio-Aufenthalt zwei Jahre später stattete sie auch Copacabana einen Besuch ab:

      »Ich schloß mich einem angenehmen Ausritt nach Copacabana an, einem kleinen Fort, das eine der kleinen Buchten hinter der Praia Vermelha verteidigt. Von dort hat man eine der schönsten Aussichten hier. Die Wälder der näheren Umgebung sind wunderschön und bringen eine exzellente Frucht in großen Mengen hervor, die Cambucá genannt wird; und zwischen den Hügeln finden sich Opossums und Gürteltiere in großer Zahl.«

      Zehn Jahre später erlebte der Franzose Jean-Baptiste Debret Copacabana so:

      »Mitten im Sand erblickt man die kleine Kirche, die sich auf einem kleinen Plateau erhebt. Rechts davon bildet eine Berggruppe eine zweite Ebene. Sie fällt zum Meer ab und verdeckt den Bogen dieser Sandbank. Dahinter taucht ihr äußerstes Ende auf mit seinen Feldern, geschätzt für ihre köstlichen Ananas-Früchte …«

      Auf der Suche nach dem Pittoresken schweift der Blick auch über die »Sandbank« hinweg. Maria Graham erlebte den Strand von Gamboa sogar als »einen der angenehmsten Orte, die ich je betrachtet habe, mit einem wunderschönen Panorama, das alle Richtungen beherrscht«. Gamboa wurde im 20. Jahrhundert erst vom Hafen absorbiert, dann ganz eingedeicht und ist heute ein Stadtteil im Zentrum Rios.

      Doch nicht einmal John Luccock, wiewohl als Brite aus dem Land der Seebadpioniere, war beim Anblick eines wahrhaftigen Badeparadieses der Gedanke an ein Eintauchen zu entlocken: Mit seinen Begleitern gelangte er zu einer »Bai, die unserer Beachtung wert schien. Sie wird auf der einen Seite vom festen Lande begrenzt, auf der anderen durch eine Restinga oder Sandbank, welche die See als Grenze sich gebildet hat. Diese Bank besteht aus weißem Sand, erhebt sich 20 Fuß über die Oberfläche der See und ist im Durchschnitt 400 Ruten breit und 20 englische Meilen lang. Größtenteils, besonders in der Mitte, ist sie ganz kahl, an andern Seiten ist sie mit verschiedenen Flechtenarten bedeckt, welche den Boden zusammenhalten, auf dem Gipfel wachsen ein wenig Unterholz und am nördlichen Ende etwas Mangle [Mangrovenbäume, D.B.]. Nach der See zu ist sie steil und die Brandung heftig; nach der Bai zu ist sie eben und sanft abhängig.«

      Der Blick geht immer weg vom Strand. Der Sand hat keinen Wert, so weiß er auch ist. Weder Wellen noch ruhiges (und sicher angenehm warmes) Wasser wecken Lust auf ein Bad. Copacabana besticht durch das Panorama, interessiert aber vor allem unter militärischen Gesichtspunkten:

      »Wer die Mühe nicht scheut und eine mannigfache Aussicht liebt, wird sich reichlich belohnt finden, wenn er den Telegraphen besteigt. [Dort] steht auf einem vorspringenden Felsen ein kleines Fort, welches sehr fest durch seine Lage ist, aber in jämmerlich zerfallenem Zustande sich befindet, und ohne eine einzige brauchbare Kanone, obgleich es eine Korporalwache hat. Diese Vernachlässigung ist indeß verzeihlich, indem es zu weit abliegt, um die Küste zu bestreichen, wo überdies auch die heftige Brandung die sicherste Vertheidigung ist, an den beiden äußersten Punkten der Bai ausgenommen. Der südlichste wird durch die runde, fast verfallene Kapelle Copo Cabano [sic!] verschönert. Diesen Ort sollen Schleichhändler sehr oft benutzen, indem die Wege ins Innere schmal und schwer zu passiren sind.«

      Berufsspezifisch ist der Blick, den der Franzose Francis de Laporte de Castelnau um 1850 über Copacabana schweifen lässt. Auch er kommt über den Telegraphenhügel, den heutigen Babilônia, und findet sich nach steilem Abstieg »inmitten einer weißen Sandzunge, und das registriert man mit Interesse in diesen großen Ebenen: man findet keinen höheren Baum, nur hier und da einige Büsche, die wie Oasen aus dem Sand wachsen und sich aus sehr unterschiedlichen Pflanzen zusammensetzen, offenbar vor allem den Familien der Myrtazeen, der Guttiferen und der Leguminosen zugehörig …«

      Es


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