Stille Wasser sind auch nass. Mila Roth

Stille Wasser sind auch nass - Mila Roth


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      »Ich weiß.« Sie setzte sich in Bewegung. Während sie lief, zog sie das Haargummi von ihrem Zopf und fasste ihr kupferrotes Haar rasch erneut zusammen. »Ist es eigentlich okay, wenn ich Susanna und Till auch ein paar von den Sachen beibringe, die ich hier lerne?«

      Markus drehte sich um und lief rückwärts. »Du meinst, wie sie sich gegen einen bewaffneten Überfall wehren können?«

      Sie lachte auf. »Na ja, vielleicht nicht gerade gegen so etwas, aber es kann doch nicht schaden, wenn ich ihnen ein paar grundlegende Handgriffe zeige, oder?«

      Markus drehte sich wieder um und lief noch ein paar Meter, dann begann er mit den Übungen, die Janna zuvor auch schon absolviert hatte. »Schaden kann das bestimmt nicht. Wenn ich überlege, wie oft ich mich in dem Alter geprügelt habe ...«

      »Geprügelt?« Janna hielt mitten in der Bewegung inne.

      »Auf der Straße mitten in einer Großstadt lebt es sich nicht so behütet wie bei euch auf dem Land.«

      »Ich weiß. Ich meine ...« Sie schwieg. Natürlich wusste sie rein gar nichts darüber, wie es war, bereits als Kind quasi auf sich allein gestellt zu sein. Bis zu seinem dreizehnten Geburtstag war Markus bei seiner drogensüchtigen und alkoholkranken Mutter aufgewachsen. Er hatte es nicht leicht gehabt und sich mit Diebstählen und bestimmt auch anderen kriminellen Handlungen über Wasser gehalten. Umso bewundernswerter war es, dass er nicht vollends in der Gosse gelandet war. Sein Vater war der Kriminaldirektor Klaus Scherhag, der das BKA in Meckenheim leitete. Ihm war es zu verdanken, dass Markus‘ Leben damals eine positive Wende genommen hatte, auch wenn Markus das nicht gerne zugab, weil er sich mit seinem Vater nicht gut verstand.

      »Schon gut.« Markus hatte ihr Zögern bemerkt und winkte lässig ab. »Ich meine ja nur. Gibt es einen besonderen Grund, dass du den Zwillingen Selbstverteidigung beibringen willst?«

      »Nein.« Janna machte ein paar Dehnübungen. »Ich dachte nur ... einfach so. Man kann nie wissen, wann man mal in eine Situation gerät, in der man solche Kenntnisse benötigt. Ich meine, wer weiß schon, was einen an der nächsten Straßenecke erwartet? Die beiden sind jetzt neun, aber bald werden sie zehn und dann elf und ... Die Zeit vergeht so schnell und plötzlich sind sie Teenager, und man hört doch immer wieder, was alles passieren kann in Discos und auf Partys und überhaupt. Wenn sie so früh wie möglich lernen, sich zu behaupten und, falls nötig, auch zu verteidigen, kann das doch nur sinnvoll sein, oder? Ich habe meinen ersten Selbstverteidigungskurs mit achtzehn gemacht, das war schon zu spät, denn immerhin wurden meine Freundin und ich damals, als wir mit sechzehn auf dem Konzert von R.E.M. waren, von diesen Typen angegriffen, und wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht rein zufällig ...«

      »Janna!«

      Sie erschrak und verschluckte sich fast. »Was?«

      Markus schmunzelte. »Du tust es schon wieder.«

      »Oh.« Wenn sie nervös war, redete sie oft wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma. »Entschuldige.«

      »Hol tief Luft und beruhige dich. Niemand hat etwas dagegen, wenn du den beiden ein bisschen Selbstverteidigung beibringst.«

      »Gut.« Sie atmete geräuschvoll ein und wieder aus.

      »Solange du keine institutsinternen Geheimnisse weitergibst.«

      »An Till und Susanna? Sie sind noch Kinder!«

      »Eben.« Markus bedeutete ihr, ihm zu dem Geräteraum zu folgen.

      »So etwas würde ich nie tun. Auch nicht jemand anderem gegenüber.«

      »Dann ist es ja gut.« Lächelnd deutete er auf den Stapel Sportmatten. »Davon brauchen wir vier Stück.« Er hielt inne. »Nein, besser sechs ... nein, acht.«

      »Acht Matten? Was in aller Welt hast du vor? Mit Melanie habe ich immer auf vier Matten trainiert.« Verblüfft half sie ihm, die Matten in die Halle zu tragen und so nebeneinander anzuordnen, dass sich eine große zusammenhängende Fläche ergab.

      »Melanie hat weniger Kraft als ich. Ich will nur verhindern, dass du versehentlich den Abflug machst und auf dem Hallenboden landest.«

      »Was?« Sie starrte ihn so entgeistert an, dass er laut lachte.

      »Kleiner Scherz.« Er deutete auf die Matten. »Zeig mir erst mal, was du bis jetzt schon gelernt hast.«

      Janna trat zögernd näher. »Die erste Stunde lang hat Melanie mir nur beigebracht, wie man richtig fällt und sich abfängt. Danach haben wir einfache frontale Angriffe geübt.«

      »Okay, dann mal los.« Ehe Janna sich versah, machte Markus einen großen Schritt vorwärts und griff nach ihren Oberarmen. Instinktiv wollte sie zurückweichen, erinnerte sich aber glücklicherweise noch rechtzeitig daran, dass sie Markus’ Schwung ausnutzen musste, wenn sie ihn zu Fall bringen wollte. Sie versuchte, die Bewegungen auszuführen, die Melanie ihr in den vergangenen drei Trainingsstunden beigebracht hatte, doch ihre Kraft reichte nicht, Markus auch nur ins Straucheln zu bringen. Stattdessen wirbelte er sie herum und sie landete im nächsten Moment unsanft auf ihrem Allerwertesten.

      Markus half ihr sogleich, wieder aufzustehen. »Das war schon gar nicht übel für den Anfang.«

      »Nicht übel?« Janna schüttelte sich leicht. »Du hast mich umgeworfen, als wäre ich aus Pappe.«

      »Nur weil du zu viel nachgedacht und noch keinen Kampfinstinkt entwickelt hast.« Er bedeutete ihr, sich erneut aufzustellen. »Außerdem musst du bei einem wesentlich größeren und schwereren Gegner noch ein bisschen mehr eigene Kraft aufwenden.« Er erklärte ihr, was sie beim nächsten Versuch anders machen sollte, und sie probierten es erneut. Diesmal brachte sie ihn zumindest ins Straucheln, landete aber erneut auf der Matte.

      »Ich zeige es dir noch mal.« Er zog sie an der Hand hoch, sodass sie schwungvoll auf die Füße kam. »Greif mich an, aber in Zeitlupe.«

      »Ich bin viel leichter als du.«

      »Tut nichts zur Sache. Ich will dir nur die Handgriffe zeigen.«

      »Okay.« Sie übernahm den Part des Angreifers, bemühte sich aber, die Bewegungen ganz langsam und kontrolliert auszuführen. Markus tat es ihr gleich, sodass sie im nächsten Moment wie im Zeitraffer gepackt, gedreht und durch die Luft gehoben wurde. Diesmal landete sie einigermaßen sanft auf der Matte, weil Markus ihren Sturz abfederte. Für einen Moment verharrten sie so – sie auf dem Boden, er über sie gebeugt. Er hatte ihren Arm nicht losgelassen. In ihrer Magengrube kribbelte es heftig, als sich ihre Blicke trafen.

      »Kapiert?« Er grinste wieder und zog sie auf die Füße.

      »Schon lange.« Sie seufzte. »Aber gegen jemanden wie dich werde ich trotzdem immer den Kürzeren ziehen.« Sie hielt inne. »Was mache ich denn, wenn ich es nicht sofort schaffe, meinen Gegner zu Fall zu bringen?«

      »Dann musst du kreativ werden.« Markus trat einen halben Schritt zurück. »Versuchen wir es noch mal. Diesmal bin ich wieder der Angreifer.«

      »Ok... Shit!« Sie hatte nicht mit seinen flinken Bewegungen gerechnet. Zwar schaffte sie es, ihn erneut ins Straucheln zu bringen und ihm ihren Arm zu entziehen, dennoch machte sie erneut Bekanntschaft mit der Matte. »Das war unfair!«

      Markus lachte. »Gewalttätige Übergriffe sind kaum jemals fair. Hey!«

      Janna hatte sich mit Schwung auf der Matte gedreht und trat mit beiden Füßen zu, sodass ihre Waden gegen die von Markus prallten. Der Schwung reichte aus, um ihn zu Fall zu bringen.

      Verblüfft starrte er sie an. »Wann hast du das denn gelernt? Das gehört in den Kurs für Fortgeschrittene.«

      Überrascht, dass ihr Gegenangriff tatsächlich geglückt war, richtete sie sich halb auf. »Das habe ich mal in einer Fernsehserie gesehen.«

      »Ach.«

      »Ich hätte nicht gedacht, dass es funktioniert.«

      »Tja, das hat es ganz offensichtlich.« Von seiner liegenden Position ihr schräg gegenüber


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