Sicher eingewöhnen. Käthe Bleicher
oder zweiten Tag des Kita-Besuches von seiner Mutter getrennt wird?
«Heute Morgen bin ich mit Mama in so einen großen Raum gegangen, da war wirklich was los. Ganz viele Kinder waren da, und es war laut und roch ganz anders als bei uns zu Hause. Da gab es auch ganz viele Spielsachen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte.
Zum Glück war ich auf Mamas Arm. Da ist es immer so schön warm und gemütlich, und ich fühle mich da immer so sicher.
Aber dann kam plötzlich eine komische Frau, die wollte mich von Mamas Arm nehmen. Das wollte ich aber gar nicht, die kenne ich doch nicht. Die Frau hat dann ganz viele Spielsachen geholt und mit mir gesprochen. Ich glaube, sie wollte mich von Mamas Arm locken. Aber ich bin bei Mama geblieben, obwohl ich gerne mit den bunten Holzklötzen gespielt hätte.
Dann hat die Frau zu meiner Mama gesagt sie solle mich nun ihr auf den Arm geben und kurz den Raum verlassen. Ich habe gespürt, dass meine Mama mich nicht der Frau geben wollte, aber die Frau wollte mich unbedingt halten. Da hat meine Mama mich der Frau in den Arm gedrückt und ist einfach gegangen.
Ich habe dann ganz laut geschrien, damit meine Mama wieder zurückkommt. Zum Glück hat sie mich gehört und ist wieder zurückgekommen. Danach habe ich mich wieder beruhigt und aufgehört zu weinen. Aber morgen möchte ich nicht mehr zu dieser komischen Frau. Ich bleibe lieber bei Mama, wo ich mich sicher fühle.»
Solche Empfindungen und Erlebnisse hat vielleicht ein Kleinkind, wenn es bereits am ersten oder zweiten Tag in einer Krippe von seiner Mutter getrennt wird.
Schauen wir uns einmal alle Beispiele genauer an, können wir sehr schnell ablesen, dass Bindung und Beziehung bei der Eingewöhnung im Kleinkindbereich eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Genauso wie Zeit, Geduld, Achtsamkeit, Ruhe und ganz viel Empathie und Fingerspitzengefühl. Werden diese Dinge missachtet und nicht in einen Eingewöhnungsprozess eingebettet, werden schnell Erfahrungen gemacht, wie wir sie eben in den Beispielen gesehen haben.
Was können wir also tun, damit solche Erlebnisse in Zukunft nicht mehr so häufig vorkommen und eine Eingewöhnung zu einer positiven Erfahrung für Eltern, Pädagogen und Kinder wird?
Ich werde Sie in diesem Buch auf eine kleine Reise mitnehmen. Sie lernen ein von mir entwickeltes, bindungsorientiertes Eingewöhnungskonzept kennen, das nach den Grundlagen der Waldorfpädagogik arbeitet.1 Wir werden einen kleinen Ausflug in die Bindungstheorie machen, um zu verstehen, was sie bedeutet und welche Rolle sie bei der Eingewöhnung spielt. Wir beleuchten die Rolle der Pädagogen und der Eltern bei der Eingewöhnung. Und wir wollen versuchen, uns vorzustellen, was eine Eingewöhnung wohl für ein Baby oder ein Kleinkind bedeutet.
Da ich im Folgenden die verschiedenen Aspekte der Eingewöhnung sowohl von der Rolle der Bezugserzieherin her betrachte – und hier vor allem die Erzieherinnen, aber auch die Tagesmütter anspreche – als auch aus Sicht der Eltern, den Hauptbezugspersonen des Kindes, und dabei besonders deren Fragen im Blick habe, schildere ich das Konzept der «sicheren Eingewöhnung» von zwei Blickwinkeln her. Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei Aspekten, die für beide Lesergruppen relevant sind, zu einigen Wiederholungen kommt. Kapitel 3 wendet sich an Erzieherinnen und Tagesmütter, Kapitel 4 dagegen ist für Sie, liebe Mütter und Väter, geschrieben. Wenn Sie möchten, können Sie sich also, je nach Ihrer Rolle im Prozess der Eingewöhnung, hauptsächlich mit Kapitel 3 oder mit Kapitel 4 beschäftigen. Lesen Sie Kapitel 3 und Kapitel 4, dann werden Sie im Laufe der Lektüre auf bereits geschilderte Gesichtspunkte stoßen – was aber für ein festes Einprägen des Konzepts und seiner Grundlagen durchaus auch von Vorteil sein kann.
Wir begeben uns also gemeinsam auf den Weg, um am Ende des Buches so viel Wissen und Verständnis zu haben, dass wir sicher eingewöhnen können. Wir vereinen Kopf und Herz und geben der Theorie und unserem eigenen Bauchgefühl so viel Platz, wie notwendig ist, um ein ausgewogenes Gleichgewicht herzustellen.
Wir machen uns nun auf die Reise, um zu lernen, was «sicheres Eingewöhnen» heißt und wie es gelingen kann. Nur durch Ihre Hilfe und Ihr Mitwirken können wir dazu beitragen, die Qualität der Eingewöhnung für unsere Kinder in den Krippen zu verbessern.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, dieses Buch zu lesen und sich mit dem Thema zu beschäftigen!
*Die in diesem Buch verwendeten Beispiele dienen der Verdeutlichung und Veranschaulichung der Thematik sowie der Darstellung einer möglichen Umsetzung in der Praxis und stammen aus den Erfahrungen meines beruflichen Alltags. Alle beschriebenen Personen und Namen in den Beispielen sind frei erfunden.
Bindung und Beziehung
Das Bindungsverhalten verstehen
Es ist in unserem Wesen als Menschen angelegt, dass wir ein Leben lang auf der Suche nach Geborgenheit, Zuwendung, Liebe und Sicherheit sind. Und nur ein Mensch vermag unser Verlangen nach diesen Gefühlen zu stillen. Dabei kann es zwar sein, dass dieses Verlangen, solche Gefühle zu erleben, individuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist und jeder ein unterschiedliches Maß an Geborgenheit und Sicherheit braucht. Aber dennoch sind wir grundsätzlich alle in einem bestimmten Ausmaß von diesem Gefühl abhängig.
Das Beziehungsverhältnis, das ein Mensch zu einer anderen Person eingeht, ist sehr individuell. Manchen genügt es völlig, überwiegend oberflächliche Kontakte zu anderen Menschen zu haben. Andere hingegen haben das Verlangen, immer sehr tiefe Bindungen zu anderen Personen einzugehen, und sind an oberflächlichen Beziehungen nicht interessiert.
So schreibt etwa der bekannte Schweizer Kinderarzt und Pädagoge Remo Largo: «Wie auch immer die Beziehungen gestaltet sind, ein Grundmuster findet sich immer wieder: Menschen binden sich an andere Menschen in der Erwartung, von ihnen angenommen, umsorgt und beschützt zu werden. Menschen umsorgen und beherrschen andere Menschen, weil ihnen deren Abhängigkeit ein Gefühl von Sicherheit vermittelt.»2
Der Mensch hat ein ständig wechselndes Bindungsbedürfnis. Ein Baby braucht zum Beispiel eine ganz andere Beziehung zu seiner Mutter und hat auch ein anderes Bedürfnis, Geborgenheit, Liebe, Zuwendung und Sicherheit zu erfahren, als etwa ein Kleinkind. In jeder Entwicklungsphase macht sich beim Kind also ein anderes Bedürfnis nach Bindung bemerkbar, und es zeigt, damit einhergehend, auch immer bestimmte Verhaltensweisen, beispielsweise das sogenannte Fremdeln gegen Ende des ersten Lebensjahres. Die Eltern sind darum aufgerufen, in ihrem Bindungsverhalten gegenüber ihrem Kind stets beweglich zu bleiben und mit ihm so umzugehen, dass es sich weiterentwickeln kann. Denn das Kind soll Geborgenheit, Sicherheit und Zuwendung von den Eltern bekommen, ohne dass es daran gehindert wird, sich zu einem selbstständigen und individuellen Menschen zu entwickeln.3
Wieso aber hat die Natur es so eingerichtet, dass der Mensch ein solches Bindungsverhalten hat? Wenn man Kinder in verschiedenen Kulturkreisen betrachtet, kann man sagen, dass sie alle in den ersten zwölf Lebensjahren auf ihre Eltern oder zumindest auf Bezugspersonen angewiesen sind. Ohne die Fürsorge und den Schutz von Mutter und Vater oder anderer Bezugspersonen würden die Kinder nicht überleben. Sie müssen von ihren Eltern ernährt und beschützt werden.
Das Bindungsverhalten hilft dem Kind aber nicht nur zu überleben, sondern ist auch entscheidend dafür, dass es sich das komplexe Sozialverhalten der jeweiligen Gesellschaften zu eigen machen kann. Und um dies zu erreichen, braucht es Vorbilder, also eine Bezugsperson, an der es sich orientieren kann.
Dazu noch einmal Remo Largo: «Eine starke gegenseitige Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern, aber auch zu anderen Kindern und Erwachsenen ist notwendig, damit dieser jahrelange Sozialisierungs- und Bildungsprozess gelingen kann.»4
Lange Zeit ging man davon aus, dass in jedem Fall die Beziehung zur Mutter von entscheidender Bedeutung für das psychische Wohlbefinden von Babys und Kleinkindern ist. Diese Auffassung hat sich aber in den letzten