Sicher eingewöhnen. Käthe Bleicher

Sicher eingewöhnen - Käthe Bleicher


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dass nicht primär die Mutter-Kind-Beziehung über das psychische Wohlbefinden des Kindes entscheidet, sondern das Kind auch zu anderen Personen, beispielsweise dem Vater oder einer anderen Bezugsperson, eine ebenso starke Bindung aufbauen kann, die bei ihm ein psychisches Wohlbefinden erzeugt. Um neben der starken Bindung an die Mutter zu einer anderen Bezugsperson ebenfalls eine Beziehung eingehen zu können, muss das Baby allerdings einen genauso intensiven Kontakt zu dieser anderen Bezugsperson haben und eine Vielzahl an Interaktionserfahrungen über eine längere Zeit hinweg sammeln.5

      Der Mensch, das Kind, ist also darauf angewiesen, sich an eine Bezugsperson zu binden, um sich frei entwickeln zu können und ein psychisches Wohlbefinden zu erleben. Georg von Arnim drückt es so aus: «Der Mensch ist ein soziales Wesen, und sein innerer Entwicklungsimpuls hängt von dem Aufgenommensein in einen sozialen Organismus ab.»6

      Gerade im ersten Jahrsiebt, in dem das Kind von Natur aus ein nachahmendes Wesen ist, ist es besonders wichtig, dass es sich an eine feste Bezugsperson binden kann, die ihm auch als Vorbild dient, um die Welt ergreifen und mit ihr in eine Beziehung treten zu können. Denn der Mensch lernt das Menschsein nur am Menschen. Und ein Kind kann sich auch nur wirklich individuell und selbstständig entwickeln, wenn es in seiner Umgebung Sicherheit, Zuwendung, Geborgenheit, Ruhe und Geduld erlebt.

      Wie bindet sich aber ein Kind an seine Eltern? Was sind die Bedingungen für ein solches Bindungsverhalten?

      Wie sich das Kind an seine Eltern bindet

      Wenn ein Säugling das Licht der Welt erblickt, ist er von der ersten Minute an bereit, sich an die Personen zu binden, die ihm Schutz geben, und deren Nähe aufrechtzuerhalten. Das sind in der Regel die leiblichen Eltern des Kindes. Diese Bindung entsteht durch eine Vielzahl an Interaktionserfahrungen während des Zusammenseins mit den betreffenden Personen – sie wenden sich dem Kind zu, geben ihm Liebe und stillen seine Bedürfnisse prompt und angemessen. Durch diese Erfahrung bindet sich der Säugling an die Personen und sucht bei ihnen Sicherheit, Zuwendung und Geborgenheit.

      Aufgrund der emotionalen Bindung an eine Bezugsperson fühlt sich das Kind sicher, wird in seinem Spielverhalten angeregt und kann sich der Welt besser widmen. Empfindet es nun beispielsweise während der Exploration – wenn es also in vielfältiger Weise seine Umgebung erkundet und die Welt erforscht – Angst oder Unsicherheit, oder entfernt sich gar seine Bezugsperson plötzlich aus seinem Sichtfeld, so wird es deren Nähe suchen oder gar mit Nachlaufen oder in Form von Protest durch Weinen versuchen, wieder die Nähe zu ihr herzustellen.

      Das Baby bringt aber nicht nur die Bereitschaft zu einem Bindungsverhältnis mit, sondern es geht diese Bindung auch bedingungslos ein. Der Kinderarzt John Bowlby spricht sogar von einer instinktiven Qualität des Bindungsverhalten des Kindes. «Das Kind bindet sich an die Eltern und andere Bezugspersonen unabhängig davon, wie gut und zuverlässig sie seine Bedürfnisse befriedigen», resümiert daher Remo Largo.7

      Wie stark es eine Bindung zu seinen Eltern eingeht, wird also nicht dadurch bestimmt, ob diese mit dem Kind nun liebevoll und empathisch umgehen oder grob und rabiat. Vielmehr bindet es sich an seine Mutter, seinen Vater, weil sie ihm vertraut sind. Dieses bedingungslose Bindungsverhältnis seinen Eltern gegenüber, ob sie es nun schlecht oder gut behandeln, kann auch schwerwiegende Folgen für das Kind haben. Denn es ist von Natur aus so ausgerichtet, dass es immer bei Personen Schutz sucht, die es kennt und zu denen es eine Beziehung hat, auch wenn es von ihnen misshandelt wird. Das Kind ist emotional von den Eltern oder von Bezugspersonen abhängig, sodass es im schlimmsten Fall sogar Misshandlungen durch sie über sich ergehen lässt.8

      Das bedeutet: Das Kind geht zu Mutter und Vater nicht nur eine starke Bindung ein, wenn es von ihnen liebevoll und gut behandelt wird, es kann auch eine starke Bindung und emotionale Abhängigkeit zu seinen Eltern aufbauen, wenn es von ihnen misshandelt wird oder es ihnen gleichgültig ist. Die zahlreichen und vielfältigen Missbrauchsskandale und Kindesmisshandlungen, die immer wieder in der Öffentlichkeit bekannt werden, zeigen dies ganz deutlich. Es ist also nicht die Qualität der Beziehung, die bestimmt, wie intensiv sich das Kind an seine Eltern bindet. Vielmehr bindet es sich an Mutter und Vater, weil es ihnen «vorbehaltlos zugetan» ist.9

      Es ergibt sich somit eine große Verantwortung für uns als Eltern, mit dieser vorbehaltlosen Zuneigung, die uns die Kinder entgegenbringen, behutsam und respektvoll umzugehen und auch das eigene Verhalten zu reflektieren.

      Ein Kind ist nicht nur in der ersten Zeit seines Lebens, sondern auch bis ins Schulalter hinein in der Lage, feste Beziehungen in dieser Form einzugehen. Allerdings ist die Bindungsbereitschaft später nicht mehr so vorbehaltlos wie in den ersten zwei Lebensjahren. Und auch die Art und Weise, wie das Kind sich bindet, hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen spielt eine entscheidende Rolle, welche Bindungserfahrungen es in seiner ersten Lebenszeit gemacht hat. Ein Kind, das viel Geborgenheit und Sicherheit erfahren hat, zeigt eine stärkere Bindungsbereitschaft als eines ohne eine stabile Bindungserfahrung. Zum anderen spielt auch die Bereitschaft der Bezugsperson, sich an das Kind zu binden, eine wichtige Rolle für das spätere Bindungsverhalten des Kindes.10

      Die Notwendigkeit einer Bindung ist bei allen Kindern vorhanden. «Ohne emotionale und zuverlässige Zuwendung wäre ein Säugling ebenso verloren, könnte nicht wachsen und gedeihen, wie wenn ihm das Wasser zum Trinken und die Luft zum Atmen fehlten», schreibt etwa Karl Heinz Brisch in seiner Empfehlung zur «Betreuung und Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern in Krippen».11 Die Bereitschaft, sich zu binden, ist jedoch nicht bei jedem Kind in demselben Maße angelegt. So sind gleichaltrige Kinder oft unterschiedlich stark gebunden, und ihre emotionale Abhängigkeit ist nicht immer gleich stark. Auch die emotionalen Bedürfnisse – wie Zuwendung, Geborgenheit, Liebe, Schutz und Aufmerksamkeit – variieren von Kind zu Kind und können sehr verschieden ausgeprägt sein.12

      Dennoch hat jedes Kind das Bedürfnis, sich zu binden. Und es ist von Geburt an auch bereit dazu. Es benötigt aber eine ihm vertraute Person, die dieses Bedürfnis zu stillen vermag. In der Regel sind es die Eltern, die dem Bedürfnis verlässlich und nachhaltig nachkommen und bereit sind, eine Bindung zu ihrem Kind einzugehen.

      Die Bindung der Eltern an das Kind beginnt schon während der Schwangerschaft

      Das Bindungsverhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern ist nicht so bedingungs- und vorbehaltlos wie dasjenige der Kinder gegenüber ihren Eltern. Die Entwicklung einer Bindung von Mutter und Vater zu ihrem Kind beginnt bereits während der Schwangerschaft, wenn sich die werdenden Eltern emotional auf es einlassen.

      So muss sich die Mutter etwa damit vertraut machen, dass sie in einigen Monaten ein Kind zur Welt bringen wird und sie dann eine große Verantwortung für es zu tragen hat. Sie stellt sich auch viele Fragen: Wie wird sich das Kind entwickeln? Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Ist es gesund oder krank? Wird sie alles richtig machen, wenn es auf der Welt ist? Wie verändert sich die Partnerschaft, wenn das Kind erst einmal da ist? Hunderte von Fragen tauchen während einer Schwangerschaft auf – nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Vater. Und bereits diese Fragen – ob mit einem negativen oder einem positiven Gefühl belegt – wirken sich auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind aus. So betont auch Remo Largo: «Wiederkehrende Ängste und Zweifel bei den Eltern gehören, genauso wie freudige Erwartungen, zu jeder Schwangerschaft. Sie sind Ausdruck der großen inneren Umstellung, die angehende Eltern gedanklich und gefühlsmäßig zu bewältigen haben.»13

      In den letzten Monaten der Schwangerschaft, wenn die Eltern das heranwachsende Wesen spüren können und die Geburt immer näher rückt, beginnen sie, sich immer mehr an ihr Kind zu binden; sie versuchen, sich das Wesen des Kindes vorzustellen, sie überlegen sich schon Namen für ihren Sohn oder für ihre Tochter, malen sich aus, wie das Leben mit dem Kind wird, und beginnen, ihm bestimmte Charakterzüge zuzuschreiben. Sie lassen das Kind in ihrer Fantasie lebendig werden.14

      Während der Schwangerschaft bilden sich bei der Frau verstärkt emotionale Reaktionen. Man könnte sagen: Es entwickelt sich ein gewisser «Mutterinstinkt»,15 der dafür sorgt, dass sich die Mutter nach der


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