Sicher eingewöhnen. Käthe Bleicher
Frau häufig auch zu einer Rückbesinnung auf die eigene Kindheit und die Beziehung zur eigenen Mutter. «Diese Erfahrungen», führen Gerald Hüther und Ingeborg Weser aus, «sind in ihrem Körper und ihrer Psyche gespeichert und beeinflussen in vieler Hinsicht die Art und Weise, wie sie mit dem eigenen Kind umgeht. So kann es Frauen, die als Baby keinen liebevollen Körperkontakt erlebt haben, bisweilen schwerfallen, dem eigenen Kind mit körperlicher Nähe zu begegnen.»16
Selbstverständlich kann diese Form der Rückbesinnung und der inneren Auseinandersetzung mit den erlebten Beziehungserfahrungen aus der eigenen Kindheit, wenn sie positiv waren, durchaus eine große Unterstützung und eine Hilfe darstellen, sich auf das Muttersein und den zukünftigen Bindungsaufbau zum Kind besser einzulassen. Hat die werdende Mutter das Verhalten ihrer eigenen Eltern während ihrer Kindheit als liebevoll und feinfühlig empfunden, ist dieses Erlebnis für sie eine wichtige Ressource für ihre künftige Rolle.
Die Beziehungsfähigkeit der Mutter ist nicht automatisch gegeben. Beim Beziehungsaufbau zwischen ihr und dem Kind sind viele Faktoren, äußere wie innere, von Bedeutung. Körperliche und seelische Aspekte wirken sich auf ihr Bindungsverhalten zum Kind aus und können es beeinflussen. Es hängt beispielsweise von folgenden Gesichtspunkten ab: Welches Bindungsmuster hat die Mutter? In welchen Lebensumständen befindet sie sich zurzeit? Wie ist es um die Partnerschaft bestellt? Ist das Kind gewollt? Wie geht das Umfeld mit den jungen Eltern um?
Auch für die Bindung zwischen Vater und Kind spielen solche Fragen eine Rolle, wenn auch nicht in demselben Maße, da der Beziehungsaufbau zwischen den beiden in den ersten zwei Lebensjahren meistens eher sekundär ist.17
Bezugspersonen. Wie viel Mutter braucht das Kind?
Viele Menschen sind der Auffassung, dass die Mutter für das Kind die einzige und wichtigste Bezugsperson ist. Sicherlich ist sie vor allem im ersten Lebensjahr für den Säugling von sehr großer Bedeutung, da sie ihn im Normalfall stillt und schon während der Schwangerschaft eine Beziehung zum Säugling aufgebaut hat. Dennoch kann, wie erwähnt, auch eine andere Person, zum Beispiel der Vater oder eine ganz andere Person, für das Kind eine Bezugsperson sein und sogar zur primären Bezugsperson werden. Darauf weist Remo Largo unter Bezugnahme von Bindungsstudien hin: «… die leibliche Mutter ist nicht die einzig mögliche Bezugsperson für ein Kind (Lamb 1977, Field 1978, Parke 1978, Scarr 1990). Untersuchungen, die in Kinderheimen und bei Adoptivfamilien durchgeführt wurden, belegen: Aus der Sicht des Kindes kann jede Person, die sich ausreichend um es kümmert, zu einer Bezugsperson, ja selbst zur Hauptbezugsperson für das Kind werden (Tizard 1977, 1978). Nicht die biologische Herkunft bindet, sondern die Vertrautheit, die durch Fürsorge, Nähe und Zuwendung entsteht.»18
Es gibt Bedürfnisse in drei wichtigen Bereichen bzw. auf drei wichtigen Ebenen, die eine Person beim Kind befriedigen muss, damit sie zu einer Bezugsperson für den heranwachsenden Menschen wird. Der erste Bereich ist das körperliche Wohlbefinden. Die Bezugsperson muss die körperlichen Bedürfnisse des Kindes, also Essen, Trinken, Wickeln usw., stillen. Der zweite Bereich ist das psychische Wohlbefinden. In ihn gehört vor allem das Erleben von Liebe, Sicherheit, Geborgenheit, Zuverlässigkeit und Zuwendung. Der dritte Bereich, die dritte Ebene, ist die Entwicklung. Die Bezugsperson muss die Umgebung des Kindes so gestalten, dass es sich frei entwickeln und Erfahrungen und Wissen sammeln kann.19
Eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür, dass eine Person zu einer Bezugsperson für das Kind werden kann, ist sicherlich die Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens. Es ist ausgesprochen wichtig, dass das Kind genügend Zeit bekommt, um mit der Person vertraut zu werden, und diese Zeitdauer ist von Kind zu Kind auch sehr unterschiedlich. Das gilt natürlich auch umgekehrt, denn der Erwachsene braucht ebenfalls Zeit, um das Kind, seine Bedürfnisse und seine Eigenheiten kennenzulernen; auch hier werden individuelle Unterschiede bei der jeweiligen Person eine große Rolle spielen.
Ein Baby ist in den ersten Lebensjahren in der Lage, mehrere Bindungsbeziehungen zu verschiedenen Bezugspersonen einzugehen und aufzubauen. Dabei entwickelt es allerdings, wenn wir es schematisch ausdrücken, eine bestimmte Anordnung der Bezugspersonen, ähnlich dem Aufbau einer Pyramide. Es gibt eine sogenannte Hauptbezugsperson, die an der Spitze der Pyramide steht und zu der das Baby das größte Vertrauen hat, da sie ihn nach seinen Erfahrungen am nachhaltigsten beruhigen und ihm den größten Schutz bieten kann. Unterhalb der Hauptbezugsperson stehen die nachgeordneten Bindungspersonen, zum Beispiel der Vater, nahe Verwandte oder auch die Krippenerzieherin. Erlebt das Kind nun Stress, Angst oder Kummer, wird es immer die Nähe zu seiner Hauptbezugsperson suchen. Ist diese nicht verfügbar, wird es sich auch von einer der nachgeordneten Bezugspersonen trösten oder seine Bedürfnisse stillen lassen. Allerdings dauert die Beruhigung durch eine der nachgeordneten Bezugspersonen länger als durch die Hauptbezugsperson. Dennoch lässt das Baby auch den Körperkontakt und die Nähe einer nachgeordneten Bezugsperson zur Beruhigung seines aktivierten Bindungsbedürfnisses zu. Hat es die Wahl, wird es sich aber immer primär an seine Hauptbezugsperson wenden.20
Grundsätzlich kann man festhalten, dass es keine festgelegte Anzahl von Bezugspersonen pro Kind gibt. Hier können wir große individuelle Unterschiede ausmachen, die vom Alter des Kindes und von seiner Persönlichkeit abhängen. Es spielt auch eine Rolle, ob die Eltern ihr Kind anderen Personen anvertrauen können. Generell lässt sich aber sagen, dass mehrere Bezugspersonen für ein Kind durchaus positiv und wichtig sein können, da es von verschiedenen Vorbildern lernt und mehr Erfahrungsmöglichkeiten hat und dadurch vor allem seine Beziehungsfähigkeit vergrößert und stärkt. Dennoch braucht es stets einen festen Kern, sogenannte Hauptbezugspersonen; das sind in der Regel die Eltern, denn nur mit ihnen ist das Kind umfassend vertraut.
Man kann sich das so vorstellen, dass die Hauptbezugspersonen das «Haus» bilden, von dem das Kind umgeben ist. Sie ermöglichen ihm, sich wirklich sicher und geborgen zu fühlen. Und in der Regel hat das Kind auch nur zu ihnen vollstes Vertrauen, hier fühlt es sich zu Hause. Alle weiteren Bezugspersonen sollten eine Art Kreis um das «Haus» bilden, sie sind gewissermaßen die «Nachbarhäuser», in die das Kind ab und an zu Besuch hineingeht, in denen es eine gewisse Zeit verbringt und in denen seine Bedürfnisse auch nur begrenzt befriedigt werden können. Der wesentliche Fokus des Kindes ist also auf das «Haus», die Hauptbezugspersonen, gerichtet, und hier sollte sich auch im Wesentlichen sein Leben abspielen.
Die Eingewöhnung
«Sicher eingewöhnen» – das Modell
Die meisten Kinder werden mit dem Eintritt in eine Krippe, Kleinkindgruppe oder Spielgruppe zum ersten Mal die Erfahrung einer Fremdbetreuung in einer pädagogischen Einrichtung machen. Das ist ein großer und wichtiger Schritt für die Kleinen und sollte mit viel Empathie, Ruhe, Zeit, Geduld und Achtsamkeit begleitet werden.
Denn Eingewöhnung bedeutet immer auch Bindungsaufbau. Von einer sicheren Basis aus muss das kleine Kind eine weitere Beziehung zu einer ihm bis dahin völlig unbekannten Person aufbauen – eine Erfahrung, die auch das spätere Verhalten des Kindes im Hinblick auf seine Bindungsfähigkeit prägen wird.
«Sicher eingewöhnen» ist ein bindungsorientiertes und feinfühliges Eingewöhnungskonzept, dessen Grundpfeiler die waldorfpädagogischen Säulen der Ein- und Ausatmung und ein sich rhythmisch wiederholender Tagesablauf bilden. Dabei steht immer im Vordergrund, die Bedürfnisse des Kindes zu achten und eine sichere Beziehung zwischen ihm und der Erzieherin herzustellen. Es geht um eine Beziehung, die Hülle und Vertrauen schafft – sowohl für das Kind als auch für die Eltern.
Ich werde Sie nun Stück für Stück durch das Konzept «Sicher eingewöhnen» lotsen, sodass Sie, liebe Erzieherinnen, am Ende ein Eingewöhnungsmodell kennengelernt haben, das Sie zu Ihrem eigenen Werkzeug machen können. Und das Ihnen dabei helfen wird, eine sichere, tragfähige und feinfühlige Beziehung zum Kind aufzubauen.
Wir beginnen mit dem äußeren