Mit dem Altern wachsen. Silke Jahr
Nach einer Weile sagt Golo: „Auch ich habe ein sehr ambivalentes Gefühl im Hinblick auf das bevorstehende Ende meines Arbeitslebens. An Stress fehlt es mir ebenfalls nicht. Die Mitarbeiter jammern schon jetzt, dass sie allein unmöglich alles schaffen können. Hinzu kommt, dass sich in regelmäßigen Abständen alle in neue Computerprogramme einarbeiten müssen. Kurzum, ich sehne den Tag herbei, wenn ich in den Ruhestand gehen kann, und ich bin mir sicher: Die Arbeit werde ich nicht vermissen.“
„Das kann ich gut verstehen“, meint Kiri.
„Doch andererseits, wie wird es mir ergehen, wenn ich morgens nicht mehr früh aufstehen muss? Ich kenne meinen Hang, am Wochenende erst spät hochzukommen. Wie wird es sein, wenn ich nicht mehr täglich zur Arbeit gehe? Im Ruhestand wird dann der Tag vor mir liegen – ohne Aufgaben.“
„Du wirst dich schon zu beschäftigen wissen, da habe ich keine Sorge.“
„Wahrscheinlich schon, doch werde ich Dinge tun, die ich ebenso lassen könnte.“ Golo hält inne. „Außerdem, was kommt auf mich zu? Krankheit, Gebrechlichkeit – ein erschreckender Gedanke. Überhaupt: das Verschwinden von dieser Erde. Das ist für mich nach wie vor unbegreiflich.“
„Und dieses Gefühl“, ergänzt Lisa, „in die letzte Phase des Lebens einzutreten. Das bereitet ein tiefes Unbehagen.“
Max isst genüsslich seinen Käsekuchen und meint: „Schwer haben es Menschen, die eine besondere Rolle im Berufsleben gespielt haben. Ich habe oft beobachtet, wie ‚Freunde‘ sich um solche Personen mit Einfluss scharten. Wer ‚wichtig‘ ist, der wird zum Essen, zum Segeln, zu Partys eingeladen.“
„Sind solche Personen jedoch weg von ihrem Posten, dann sind auch die Freunde weg“, bestätigt Kiri und rührt nachdenklich in ihrem Kaffee.
„Viele ahnen das und sehen ihrem Ruhestand daher sehr beunruhigt entgegen. Neulich ging ich bei einem Empfang auf den alten Chef zu, der einsam dastand. Früher hätte er mich kaum registriert. Ich merkte, wie dankbar er war, dass er mit jemandem reden konnte.“
„Eine junge Mitarbeiterin meiner Bibliothek fragte mich kürzlich, ob ich Angst vor dem Ruhestand hätte“, ergänzt Lisa. „Ich war überrascht. Ihre Großmutter sage immer: ‚Jeder Tag ist gleich, das Leben ist so eintönig. Ich weiß noch nicht mal, ob Sonntag, ein Feiertag oder ein Wochentag ist.‘ Die junge Frau war entsetzt darüber und wollte wissen, ob ich mit Schrecken an mein Rentnerdasein denke.“
Vorstellungen vom Ruhestand – und wie die Realität aussieht
„Der Ruhestand wird unweigerlich kommen. Viele Menschen haben Vorstellungen von dem, was sie dann tun wollen“, sagt Alma. „Und ich meine jetzt nicht, was ich von Frauen bisweilen höre: ‚Endlich habe ich dann Zeit, alle Schränke mal so richtig aufzuräumen.‘“
„Schränke aufräumen!“, wiederholt Kiri, „und dann? Meine Freundin Susanne redete seit Jahren davon, mit ihrem Mann – wenn sie erst mal in Rente sind – in den Süden Deutschlands zu ziehen. Dort sei es wärmer, die Kleinstädte so schnuckelig mit schönen Boutiquen und gemütlichen Cafés. Dort mache das Leben so richtig Spaß.“
„Was ist Spaß? Und macht Spaß zufrieden?“ Lisa wirkt etwas ungehalten. „Susanne ist sich sicher nicht darüber bewusst, was sie aufgeben würde. Heimat, sie lebt doch seit 50 Jahren in unserer Stadt. Vertrautheit mit der Stadt, den Menschen, der Landschaft.“
„Ganz zu schweigen von den Freunden und Bekannten“, betont Kiri und schüttelt den Kopf. „Ich empfinde die Zugehörigkeit zu meiner Stadt als gewisse Geborgenheit. Hier fühle ich mich wohl und ich möchte im Alter nicht in eine fremde Stadt ziehen. Übrigens ist Susanne nie weggezogen.“
Nun meldet sich Golo zu Wort: „Manche Leute haben wirklich falsche Vorstellungen von der Realität des Alters. Dazu gehört meine ehemalige Kollegin, die erklärte: ‚Also, wenn ich im Ruhestand bin, dann reise ich in andere Länder und werde dort vor allem wandern.‘
Und was war? Sie buchte eine Wanderreise nach Kreta. Dort merkte sie, dass sie die Hitze nicht vertrug. Am nächsten Tag brach man zur Wanderung auf. Die Knie taten ihr bald schrecklich weh. Sie weiß noch heute nicht, wie sie überhaupt wieder zurück in ihr Quartier gekommen ist. Danach saß sie nur noch im Café, während die anderen wanderten. Sie war total niedergeschmettert.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, wirft Max ein.
„Sie war ganz verzweifelt und meinte: ‚Mein Leben lang habe ich mich im Beruf engagiert, kaum Freizeit gehabt. Ich habe auf den Ruhestand gewartet, um endlich Zeit für Bergtouren zu haben. Das ist immer mein Traum gewesen. Ich bin zu alt, ich schaffe es nicht mehr.‘ Dann brach sie in Tränen aus.“
„Ihre Vorstellung vom Leben nach dem Ende der beruflichen Tätigkeit war also zerbrochen.“
„Ja, so ist es, wenn man sein Leben aufschiebt.“ Golos Stimme klingt gelassen.
„Nicht selten sprechen Menschen über 50 vom Ruhestand als einer schönen Zeit, die ihnen bevorsteht“, sagt Alma. „Ich antworte dann jedes Mal: ‚Ist ja alles gut und schön, aber du bist dann auch alt.‘ Sie machen dann ein irritiertes Gesicht.“
Das Alter verdrängen
„In der Jugend liegt die Zukunft wie eine Verheißung vor uns. Was wird sie mir an Überraschungen, an hinreißenden Erlebnissen, an großen Gefühlen bringen? Wir stürzen uns ins ersehnte Vergnügen. Die Jagd nach Glück. Den Tod gibt es nur für andere, er ist so weit von mir weg.“ Bei diesen Worten wirkt Golo etwas entrückt.
„Schöne Jugendzeit!“ Ein Schimmern tritt in die Augen von Max.
„Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit einer Nachbarin, einer sehr alten Frau.“ Kiri spricht auf ihre lebhafte Art. „Plötzlich stutzte ich. Die sehr alte Frau ist doch jünger als ich! Mir wurde bewusst, wie alt ich geworden bin. Selbst wenn ich mich innerlich noch jung fühle, ich weiß von meinem Alter. Ich verberge es auch nicht, aber ich fühle es nicht.“
Alma bestellt noch einen Kaffee: „Eine Freundin, inzwischen 65, eine kluge Frau, Finanzexpertin, hält den Prozess des Alterns für einen verbreiteten Irrtum, dem die Leute eben anhängen. ‚Der Mensch ist nicht wie eine Maschine, die verschleißt. Abnutzung gibt es nicht. Das sind alles nur Stoffwechselstörungen, die im Prinzip zu beheben sind. Altern ist nur eine verbreitete Vorstellung.‘ Meinen Einwand, dass alle Lebewesen altern, weil irgendwelche Stoffwechselvorgänge gestört seien, wies sie zurück. Das habe nichts mit dem Alter zu tun, das könne auch Junge treffen.“
„So kann man sich selbst betrügen“, meint Lisa.
„Leider ist ihr Knie seit einem halben Jahr in Mitleidenschaft gezogen, sie kann nur noch mühsam gehen. Die vielen Therapien, denen sie sich unterzogen hat, scheinen nicht so recht anzuschlagen.“
Körperliche Beschwerden werden deutlich spürbar
„Hat doch auch positive Seiten, wenn man fähig ist, sein Alter mit seinen Beschwerden zu verdrängen“, meint Max. „Meinem Freund gelingt das prächtig und er macht einen zufriedenen Eindruck. Ich verstehe nicht, warum Verdrängen so verteufelt wird.“
„Irgendwann tritt das Problem mit umso größerer Wucht zutage. Die betreffende Person ist unvorbereitet und kann dann noch schwerer damit fertig werden“, antwortet Kiri darauf.
„Und das trifft ebenso zu, wenn man die Krankheit des Partners ignoriert“, ergänzt Lisa. „Manch einer fällt dann aus allen Wolken. Eine Frau erzählte mir, ihr Vater sei mit 79 gestorben. Er war bereits zuvor ziemlich krank, doch ihre Mutter wollte seinen Verfall nicht wahrhaben. Schwer krank kam er nach einer Behandlung aus dem Krankenhaus und