Mit dem Altern wachsen. Silke Jahr
wir Alten die besten Kunden der Autoindustrie, die gewiss dagegen Sturm laufen würde“, beruhigt ihn Golo.
Das Lebensgefühl ändert sich
„Im Ruhestand ändert sich nicht nur die Lebenssituation drastisch, sondern auch mein Lebensgefühl“, bemerkt Kiri. „Ich erlebe deutlich: hier die Berufstätigen, dort die Ruheständler. Bei einem Besuch in meiner alten Schule sind alle nett: ‚Komm doch mal wieder vorbei.‘ Doch eine leichte Traurigkeit bleibt bei mir zurück. Ich gehöre nicht mehr dazu. So richtig Lust, der Einladung zur Weihnachtsfeier zu folgen, habe ich eigentlich nicht. Lieber treffe ich mich mit den alten Kollegen, die auch aufgehört haben zu arbeiten. Hier fühle ich mich einfach besser.“
„Ähnlich erging es mir in einem Chor mit vielen jungen Leuten“, wirft Lisa ein. „Diese waren zwar freundlich, aber was für mich schlimm war, man ignorierte mich einfach. Jetzt habe ich mir einen Chor gesucht, in dem viele Ältere mitsingen. Hier fühle ich mich gut aufgehoben.“ Lisa macht dabei ein zufriedenes Gesicht.
„So empfinde ich das auch“, bestätigt Alma. „Wir Alten untereinander sind uns mit unserer Lebensweise gegenseitig vertraut. Man gehört mit zum ‚Bund der Alten‘ und fühlt sich einfach wohler als in einer Gruppe nur junger Leute.“
Mit dem Alter leben lernen
Nun meldet sich Golo zu Wort: „Neulich traf ich einen alten Kollegen, circa 75, und fragte ihn, wie es ihn gehe. Darauf antwortete er, diese Frage solle man einem alten Menschen nicht stellen. Er hat recht. Jeder hat mehr oder weniger körperliche Beschwerden, kann nicht mehr all die Dinge tun, die ihm früher wichtig waren. Wie geht’s? – Ich vermeide jetzt lieber diese Frage.“
„Eine dümmere Frage gibt es eigentlich nicht“, erwidert Kiri, „denn man möchte ja gar nicht die Kranken- und Leidensgeschichte des anderen hören. Jedenfalls nicht von jemandem, den man nur flüchtig kennt.“
„Ja, also sollte man anders fragen, sich auf das Jetzt beziehen, auf das gegenwärtige Tun. Zum Beispiel: ‚Was machen Sie gerade?‘ ‚Was führt Sie in die Stadt?‘ ‚Wollen Sie etwas Bestimmtes kaufen?‘ Darauf kann jeder unbefangen antworten und es kann sich ein interessantes Gespräch entwickeln.“
Die Lebensgestaltung
„Im Alter leben wohl die meisten Menschen so, wie sie leben möchten“, setzt Lisa das Gespräch fort. „Man geht seinen Interessen nach, ist zum Beispiel kreativ im Malzirkel, beim Töpfern, Handarbeiten, Knüpfen, Musizieren.“
„Viele haben auch den Wunsch, für andere da zu sein. Gleichzeitig suchen wir Unterhaltung und Zerstreuung“, ergänzt Max.
„Wie nicht mehr im Beruf stehende Menschen ihr Leben gestalten ist sehr vielfältig“, sagt Alma. „Eine Freundin sprach von ihrer Oma, die schon Jahre vor ihrem Rentnerdasein äußerte: ‚Für mich gibt es nichts Schöneres, als den ganzen Tag im Sessel zu sitzen und mich bedienen zu lassen.‘“
„Das wäre mir nun wirklich zu langweilig“, kommentiert Max.
„Gut, dass wir die Möglichkeit haben, ins Kino, ins Theater und in Sportgruppen zu gehen oder Ausstellungen zu besuchen und vieles mehr“, sagt Kiri und nippt an ihrer Tasse Tee.
„Überhaupt gibt es heute eine Menge Vernissagen und Finissagen mit Häppchen und einem Glas Wein. Man wird Mitglied in diversen Fördervereinen, wie dem Museumsverein, Theaterverein, Bibliotheksverein, Glockenverein und sonstigen Vereinen. Hier trifft man sich regelmäßig und das verschafft ein gutes Gefühl.“ Golos Stimme klingt etwas ironisch.
„Man will Alter und Einsamkeit verdrängen“, entgegnet Max.
„Warum auch nicht?“, verteidigt Kiri ein solches Verhalten. „Die Älteren nehmen die Kulturangebote wahr und freuen sich daran. Sollen sie zu Hause versauern? Ich bin ebenfalls in zwei Vereinen und finde es gut, wie viele Leute sich für eine sinnvolle Sache einsetzen.“
„Du hast recht. Nur manchmal glaube ich, eine gewisse Zwanghaftigkeit in diesem Tun zu entdecken“, gibt Golo zu.
„Jedenfalls möchten viele etwas tun, womit sie der Gesellschaft irgendwie nützlich sind. Daher sind eine Reihe von Menschen auch ehrenamtlich tätig“, betont Max.
„Man kann es aber übertreiben“, meint Lisa. „Eine meiner betagten Nachbarinnen ist geradezu besessen aktiv. Jeden Tag ist sie von morgens bis abends beschäftigt. Sie sitzt in verschiedenen Gremien der Kirche, kümmert sich um den Friedhof, besucht Kranke, singt im Chor und organisiert Gemeindefeste.“
„Ob sie sich wirklich dabei wohlfühlt?“
„Ich weiß es nicht, vielleicht kompensiert sie ihr Singledasein. Innere Ruhe und Ausgeglichenheit strahlt sie nicht gerade aus.“
Kiri führt das folgende Beispiel an: „Eine Nachbarin, die bereits 69 ist, erfüllt es, jedes Jahr für zwei Monate als Ärztin in die Slums von Kalkutta zu gehen. ‚Hast du denn keine Angst, dich mit einer schlimmen Krankheit anzustecken?‘, habe ich sie gefragt. Sie zuckte die Achseln: ‚Es ist mir wichtig, das zu tun.‘“ Kiri ist die Bewunderung für ihre Nachbarin anzumerken.
„Ein Freund von mir“, sagt Golo, „spricht von der schönsten Zeit seines Lebens. Er studiert jetzt Geschichte, muss keine Prüfungen ablegen und kann die Lehrveranstaltungen besuchen, die er mag.“
„Ist das Alter wirklich die schönste Zeit seines Lebens?“ Lisa hat da ihre Zweifel. „Macht er sich etwas vor oder hatte er wirklich ein so armseliges Leben? Alt zu sein als ideal empfinden! Ich glaube, dahinter verbirgt sich eher die Flucht nach vorn.“
„Sein Freund ist immerhin besser dran als andere“, mischt Max sich ein. „Die Aufgabe im Beruf ist weg, darauf folgen bei manchen Antriebsschwäche, Lahmheit, Trägheit. Eine Bekannte trennte sich von ihrem Partner, weil er nur noch im Sessel saß und nichts tat. Zuvor war er ein sehr umtriebiger Banker gewesen.“
„Andere lieben es, ständig unterwegs zu sein.“ Kiri wirkt belustigt. „Mein Schulfreund zum Beispiel reist und reist. Und das nicht nur in der wärmeren Jahreszeit, auch der Winter muss überstanden werden. Kürzlich war er im Januar auf Sardinien. Es war eisig kalt und es hat fast nur geregnet. Im März wird der Wohnwagen auf Vordermann gebracht und ein Campingplatz frequentiert. Er erweckt in mir den Eindruck eines Getriebenen, der es schwer lange zu Hause aushält.“
„Sich Dinge zu erlauben, die man einfach tun möchte, ohne darauf zu schauen, was andere Leute letztlich denken – das ist das Privileg des Alters“, meint Lisa schmunzelnd. „Sah ich doch morgens einmal eine etwa 80-jährige Frau, die sich zunächst auf dem Spielplatz umschaute, ob sie auch niemand sieht. Dann stieg sie auf die Rutsche und rutschte hinunter. Das tat sie mehrmals.“
„Manche Menschen neigen wiederum dazu, im Alter Dinge zu tun, bei denen sie ihr Alter ignorieren“, stellt Alma fest. „Eine Freundin von mir macht mit 78 noch Reitturniere mit, riskiert es, vom Pferd zu fallen, wie sie selbst sagt. Aber sie möchte sich vom Alter nicht geschlagen geben. Ohne Risiko empfinde sie Ebbe, das Risiko gehöre nun mal zum Leben.“
Golo wehrt ab: „Ich bewundere deine Freundin, aber ich würde es nicht tun. Bereits ein Knochenbruch kann im Alter der Beginn des Siechtums sein.“
Positive Perspektiven für das Leben im Alter
„Heute stehen alten Menschen viel mehr Möglichkeiten offen als früher.“ Man sieht Lisa ihre Befriedigung darüber an. „Ich kenne inzwischen mehrere Leute, die in eine Seniorenresidenz gezogen sind. Sie sind des Lobes voll. Stets fallen die Worte: ‚Warum habe ich so lange damit gewartet und mich an meine Wohnung, an