Mit dem Altern wachsen. Silke Jahr

Mit dem Altern wachsen - Silke Jahr


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      „Den Tag rumkriegen – ist es das?“, hakt Lisa nach.

      „Manch einem scheint es so zu gehen. Ich kenne jemanden, der meint, wenn er später aufstehe, dann sei der Tag nicht so lang“, sagt Golo. „Ist das Leben zu lang?“

      „Wie schnell man in Passivität verfallen kann, habe ich an mir selbst erlebt“, sagt Alma etwas verlegen. „Ich musste durch einen Unfall bedingt längere Zeit zu Hause bleiben. Meinen Fuß hatte es schlimm erwischt. Merkwürdig, eigentlich fühlte ich mich ganz wohl. Lesen, essen kochen, ein Plausch mit der Nachbarin.“

      „War dir nicht manchmal langweilig zumute?“, erkundigt sich Max interessiert.

      „Nein, ich wundere mich selbst. Meine Einschränkung durch den Unfall war nur körperlich, nicht geistig. Also hätte ich durchaus Gutachten oder einen Vortrag schreiben können. Ich tat es nicht, es mangelte mir an Lust und Energie. Ich war lahm, wurde immer lahmer und richtete mich in meiner Lahmheit ein.“

      „Sieht so das Genießen des wohlverdienten Ruhestandes aus!“, unterbricht Golo sie.

      „Ich konnte damals die Ängste meines Mannes verstehen, im Ruhestand wie ein Hund herumzuliegen, hin und wieder blinzelnd, mal schlafend, mal wach sein. So aktiv er gewöhnlich ist, er kennt sich auch anders. Es beunruhigt ihn, mal so zu werden.“

      Nach einer Pause setzt Alma ihren Bericht fort.

      „Doch dann hatte ich Gutachten für die Abschlussarbeiten einiger Studenten zu schreiben. Die wollte ich nicht hängen lassen. Also musste ich mich aufraffen aus meiner seligen Ruhe. Und was geschah dann? Ich spürte auf einmal, wie belebend die geistige Auseinandersetzung ist, wie es prickelte und Energie mich durchzog. Innere Kräfte erwachten. Ich spürte, das ist doch intensiveres Leben als die mußevolle Passivität.“

       Wenn man nicht aufhören kann

      „Manche können nicht aufhören“, bei diesen Worten klingt Lisas Stimme amüsiert. „Juliane aus meiner Aquafitness-Gruppe eröffnete uns, sie könne vorläufig nicht mehr kommen. Sie müsse sich um ihren Mann kümmern, der jetzt in den Ruhestand getreten sei. Er habe 20 Jahre lang die Zoologische Abteilung des Museums geleitet und sei völlig in der Erforschung von Nachtfaltern aufgegangen. Sein Leben lang habe er Nachtfalter gesammelt und diese in unzählige Kästen wohlsortiert aufbewahrt, um die nächsten 300 Jahre tiefer in das Leben der Nachtfalter einzutauchen.“

      „Typisches Wissenschaftlerdasein“, wirft Max ein.

      „Nun hat er einen Nachfolger, der nicht Nachtfalter, sondern Libellen erforscht. Und der Platz ist knapp. Wohin also mit den Nachtfalter-Kästen? Juliane stöhnt, ihr ganzer Boden sei bereits mit diesen Kästen gefüllt.“

      „Er sollte sich eine Garage mieten.“

      „Spotte nicht, er ist tief deprimiert, er sieht sein Lebenswerk entwertet. Keine Nachtfalter mehr, kein Leben mehr. Juliane ist ganz unglücklich: ‚Die Kinder kommen jetzt öfter. Doch nichts hellt die Stimmung meines Mannes auf.‘“

      „Da hat der Mann meiner Freundin mehr Glück“, fügt Kiri hinzu. „Mit seinen 78 Jahren lebt er 600 km entfernt von seiner Frau, um weiterhin an seinem Institut zu arbeiten. Meine Freundin sagte zu ihm: ‚Wir wollten doch unseren Lebensabend gemeinsam gestalten.‘ Daraufhin er: ‚Willst du mich schon jetzt unter die Erde bringen?‘“

      „Das passt zu dem, was mein Mann gegen Ende seines Berufslebens äußerte“, fügt Lisa hinzu: ‚Am liebsten würde ich mit dem Arbeitsende sterben. Die Kinder sind erwachsen. Mein Leben hat sich erfüllt.‘“

      Scheint mir doch ein sehr einseitiges Leben zu sein“, bemerkt Golo.

      „Mit seiner neuen Lebenssituation kam wohl auch der ehemalige Leiter einer Touristikfiliale nicht klar“, sagt Max. „Ich stand bei Tchibo in einer Schlange, um Kaffee zu kaufen. Er kam auf mich zu, begrüßte mich freudig und legte gleich los: ‚Wie langweilig ist doch das Leben geworden. Ich habe noch Projekte, die ich umsetzen könnte. Doch man will nicht, dass ich weiterarbeite. Glücklich, wer nach dem Renteneintritt noch die Möglichkeit hat, beruflich tätig sein zu können.‘ Er wirkte sehr niedergeschlagen.“

      „Umso scheinheiliger mag die Frage sein: ‚Wann willst du dich endlich zur Ruhe setzen?‘ Oft steckt Neid dahinter.“ Kiri betrachtet liebevoll ihr Ochsenauge.

      „Trotzdem, die meisten atmen auf, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen“, entgegnet Golo.

      „Merkwürdig“, sinniert Lisa, „manche Männer empfinden ihren Eigenwert fast ausschließlich über ihren Beruf. Frau und Familie zählen da nicht wirklich – zumindest meinen sie das.“

      „Beruflich weiterarbeiten wird eben als lebensverlängernde Maßnahme empfunden“, bekräftigt Alma. „So selten ist das nicht, dass sich jemand nach dem Ausscheiden aus dem Beruf umbringt. Die Psychologen sprechen vom Pensionstod – den übrigens nur Männer erleiden.“

      „Man muss das Ganze aber nicht nur negativ sehen.“ Max trinkt einen Schluck Kaffee und erzählt dann: „Ich habe einen Bekannten, inzwischen Mitte 70, der schon seit Jahren schwer krank ist und im Rollstuhl sitzt. Dieser Mann ist ein überaus erfolgreicher Internist, der vielen Menschen in ihrem schweren Leiden helfen konnte. Er arbeitet wie besessen und praktiziert weiterhin.“

       Als Rentner zähle ich nicht mehr so richtig

      Golo sieht in die Runde, bevor er das Wort ergreift. „Mein Freund, ein erfolgreicher Manager meinte mit Bitterkeit: ‚Für die arbeitende Bevölkerung sinkst du als Rentner in die Bedeutungslosigkeit. Treffe ich mit anderen Leuten zusammen, ist es üblich, nach der beruflichen Tätigkeit zu fragen. Mich fragt jedoch niemand mehr. Ich bin einfach uninteressant geworden. Als Rentner zähle ich nicht mehr so richtig, das empfinde ich als das Schlimmste.‘“

      „Ja, leider ist das so“, bestätigt Alma. „Im Ruhestand wechsle ich meine Stellung in der Gesellschaft. Selbst wenn die Zahl der Rentner hoch ist, man gehört nicht mehr dem Zentrum der Gesellschaft an, man driftet an den Rand. Und das ist hart!“

      „Das bekam auch ein früher einmal renommierter und bedeutender Journalist zu spüren“, unterbricht Lisa sie. „Er ließ zu seinem 70. Geburtstag ein Buffet für 50 Personen herrichten. Es kamen jedoch gerade mal fünf. Ich war ebenfalls dabei. Er war völlig in sich zusammengesunken. Obwohl er früher ein Ekel war, tat er mir in diesem Moment leid.“

      „Man wird links liegengelassen“, bestätigt Alma. „So erging es meiner Freundin Carola, eine anerkannte Professorin für Geschichte. Sie arbeitete nach ihrer offiziellen Verabschiedung wie bisher weiter, natürlich ohne Bezahlung. Zum Beispiel hält sie Vorlesungen und betreut Doktoranden.“

      „Und sie bekommt überhaupt kein Geld dafür?“, fragt Kiri verwundert nach.

      „So ist es. Neulich berichtete sie von einer Tagung: ‚Zwei Kollegen unterhalten sich über ein wissenschaftliches Problem. Weil es mein Forschungsgebiet betrifft, geselle ich mich zu ihnen. Was passiert? Ich werde von beiden herablassend wie ein Fossil angesehen und beide entfernen sich wortlos. Das wäre mir früher nie passiert.‘“

      „Früher, da hätten viele ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken gesucht – kann ich mir gut vorstellen“, meint Kiri.

      „Als Pensionärin ohne Lehrstuhl hat sie keinen Einfluss mehr. Das hat sie schon tief getroffen.“

      Eine Pause tritt ein.

      Schließlich bricht Max, dem man seine Verdrossenheit anmerkt, das Schweigen:

      Als alter Mensch zählt man nicht mehr so ganz, auch wenn mir als Konsument große Aufmerksamkeit zuteil wird. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn in der Zeitung betont wird, bei einem Autounfall sei ein Rentner beteiligt gewesen. Nun kenne ich mehrere Fälle,


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