Tiloumio. Maari Skog
ihm machen wollen, zu viel zumuten. Trotzdem tastet er sich weiter voran, folgt dem Geruch nach Angst und stößt mit den Händen auf einen haarigen Widerstand. Atemgeräusche sind zu hören. Sie kommen stoßweise, und er spürt den warmen Hauch an seiner Hand, als er das Gesicht unter den Haaren abzutasten beginnt. Sein eigenes Keuchen übertönt fast den Lebenshauch des kleinen Schatzes, der vor ihm sitzt. Es ist ein Mädchen. Und er weiß auch ganz genau, welches.
Er beißt sich selbst in den Handrücken, um nicht einen Freudenschrei auszustoßen, denn das würde den kleinen Schatz nur erschrecken, und er will nicht, dass sie sich erschreckt. Bemüht darum, seine Hände nicht hektisch werden zu lassen, streicht er dem Kind über das Gesicht, über die Haare und erkundet schließlich den Rest.
Das Mädchen hält die Beine fest umschlungen und versucht das Gesicht zwischen den Knien zu verstecken. Es zittert und scheint voller Unverständnis für das, was ihm widerfährt.
Vorsichtig setzt er sich neben die Kleine und ergreift ihre Unterarme. Sie sind kalt und kommen ihm erstaunlich zerbrechlich vor. Es erfolgt kein Versuch, ihn abzuwehren. Nichts dergleichen geschieht. Sie hält den Kopf weiterhin gesenkt. Er lässt ihre Arme los, und sie fallen schlaff zur Seite. Ermutigt von ihrer Widerstandslosigkeit steht er auf und drückt ihre Beine auseinander, ohne dass Gegenwehr erfolgt. Keine Bewegung, nicht einmal ein Schrei oder ein Wimmern. Nichts.
Erneut beginnt er, sie abzutasten. Zuerst das Gesicht, weil er kaum glauben kann, dass es tatsächlich das Mädchen ist, das er bisher für unerreichbar gehalten hat. Unter seinen Berührungen fängt es an zu blinzeln. Das merkt er an den langen Wimpern, die seine Handinnenfläche kitzeln.
Seine Hände streichen über ihren Oberkörper, der ebenso fragil ist, wie die Arme. Es trägt ein Hemd und eine Hose aus dünnem, rauen Stoff, und er kommt nicht umhin, sich vorzustellen, dass auf dem Hemd kleine Herzen gedruckt sind, und dass derjenige, der so einem kleinen Mädchen Hemden mit Herzen kauft, eigentlich liebevoll sein sollte. Dabei weiß er genau, dass es nur so gekleidet ist, weil es für Kinder nichts anderes zum Anziehen gibt, weil die Hersteller davon ausgehen, dass sie nichts anderes verdient haben, als geliebt zu werden. Aber diese Annahme ist ein Trugschluss, sonst wäre sie nicht hier. Sie sind allesamt Prinzessinnen in einer Welt voller Gräuel. Eine Welt, dessen hässliches Gesicht mit Herzen übertüncht wird.
Obwohl … er liebt sie doch. Ihren goldigen Atem, ihre Angst und das Kitzeln ihrer Wimpern. Dieses Mädchen ist anders als die anderen, und deshalb will er mit ihr besonders behutsam umgehen. Sie ist zu klein für all das Schreckliche. Zu jung, und das erfüllt ihn mit Wut. Warum tun sie ihm und ihr das an?
Er streichelt ihr sanft über den Kopf und greift zaghaft in die langen, seidigen Haare. Sie riechen nach einer undefinierbaren Frucht. Ein Gemisch aus Pfirsich und Vanille vielleicht.
Es hebt den Kopf und versucht sich offensichtlich in der Dunkelheit zu orientieren. Vielleicht möchte es ihn ansehen, aber da es stockdunkel ist, hebt es die Hände und tastet nach seinen Armen. Er lässt es gewähren und ist ergriffen von dieser zutraulichen Neugier, die nichts weiter ist, als die Hoffnung, mit ihm auf jemanden gestoßen zu sein, der es aus der Schwärze befreit. Doch den Gefallen kann und will er dem Mädchen nicht tun.
Es gibt einen verzweifelten Laut von sich, bis er begreift, dass es weint, was Gefühle in ihm auslöst, die er noch nie zuvor verspürt hat.
Am liebsten würde er ihr sagen, dass er nichts Böses will und ihr nur beibringen möchte, dass es keinen Zweck hat, sich über irgendetwas auf dieser Welt zu freuen. Er weiß, dass das Leben nicht viel für sie bereithalten wird, und er will sie lehren, sich daran zu gewöhnen. Es ist nur zu ihrem Besten. Doch selbst wenn er ihr das sagen würde, würde sie ihn nicht verstehen.
Du süßes, kleines Ding, denkt er. Wenn ich dir doch nur sagen könnte, dass wir mehr gemeinsam haben, als du glaubst. Ich merke dir an, dass dich niemand lieb hat und dass du verloren bist. Das Einzige, was ich für dich tun kann, ist, dich ein bisschen zu begleiten. Ich werde in Zukunft öfter vorbeikommen.
Das will er wirklich. Die Welle, die in ihm losgetreten wird, will sich nicht zurückziehen. Das Mädchen hat etwas in ihm ausgelöst. Ein Gefühl der Verbundenheit. Sie ist wieder verstummt, und als er sie hochnimmt und an sich drückt, spürt er, dass es keinen Hass, Ekel oder Verachtung in sich trägt, wie bei denen, die ihm sonst zugespielt werden. Bei ihr ist nur Angst und Verwirrung. So wie vor vielen Jahren bei ihm. Die Verbundenheit, die er fühlt, wird bestätigt, indem sie seine Arme um seine Schultern legt und den kleinen Kopf an seinen Hals drückt. Eine Welle der Erregung erfasst ihn, aber sie ist längst nicht so übermächtig, wie die Mitleidswelle, die er für dieses kleine Mädchen verspürt. Deshalb trägt er sie in der Finsternis umher, genießt ihr Zutrauen und denkt darüber nach, was er ihnen sagen wird. Sie werden merken, dass er einen Narren an der Kleinen gefressen hat, und dann muss er verdammt gute Argumente vorbringen, um sie öfter besuchen zu dürfen.
Er weiß nicht mehr, wann er das letzte Mal so ein Glück gehabt hat. Es ist so lange her, dass er sich schon daran gewöhnt hat, dass, immer wenn er seine Schicksalskulptur perfektioniert hat, ein Hindernis kam und sich wie ein Hammer in sein Werk rammte. Aber dieses Glück, das er gerade verspürt, soll nicht zerstört werden. Er überlegt fieberhaft und fragt sich, ob er zum Narren gehalten wird. Hat jemand die Faszination in seinen Augen gesehen? Neulich, als sie zum ersten Mal das riesige Haus betreten hatten und das Kind auf den kalten Fließen des Wohnzimmers spielte. Wahrscheinlich hatte er es ein wenig zu lange angesehen. Denn die Mutter hat es auf den Arm genommen und ins Obergeschoss gebracht, wo es zu weinen anfing. Warum auch immer. Es war das übliche Kinderweinen, in dem aber etwas mitschwang, das ihn wehleidig werden ließ. Es gibt keinen Zweifel. Sie hatten ihm angesehen, dass die Kleine ihn nicht kalt lässt, und wollten ihm eine Überraschung machen.
Die Überraschung ist ihnen gelungen, aber zu welchem Preis?
Plötzlich geht die grelle Deckenbeleuchtung an. Das kleine Mädchen macht sich steif und fängt an zu wimmern.
»Ganz ruhig«, sagt er.
Er spricht mit ihr in seiner Sprache und weiß, dass sie ihn nicht versteht. Aber zumindest der Tonfall soll sie zur Ruhe bringen. Er mag zwar ihre Angst, aber sie soll nicht daran zerbrechen. Noch nicht.
Die Mutter kommt in den Raum und zerrt ihm das Kind aus den Armen.
»Genug jetzt«, giftet sie, und im ersten Augenblick glaubt er, dass sie wütend auf ihn ist.
Aber dann registriert er, wie sie dem kleinen Mädchen eine Ohrfeige verpasst und etwas sagt, was er nicht versteht. Er wagt nicht, dazwischen zu gehen. Er kennt die Frau noch nicht gut genug.
Nur eines weiß er; sie ist ein Vulkan, und gleichzeitig hat sie einen eisigen Blick. Er mag sie nicht, aber er kann sich nicht erlauben, sie das spüren zu lassen.
Ihr Ehemann kommt dazu. Zumindest geben sich die beiden als Paar aus. Er hat von Anfang an zugänglicher gewirkt, als die Frau, und daher wagt er es, etwas zu sagen.
»Sie ist zu jung«, knurrt er kaum verständlich.
»Ihr wird nichts geschehen, falls du das meinst. Aber wir brauchen sie für andere Zwecke.«
Die Antwort reicht ihm fürs Erste. In seinem Kopf schwirren merkwürdige Gedanken umher. Im Magen kündigt sich ein unangenehmes Flattern an und er überlegt krampfhaft, wie er die Kleine öfter sehen kann. Zumindest das. Er möchte sie sehen, und er will nicht, dass sie irgendwann nur noch eine Erinnerung ist. Dafür ist sie zu wertvoll.
Nach einem Augenblick beginnt er innerlich zu jubeln, denn jetzt weiß er, wie er das anstellen wird.
Gott ist mir schon immer auf die Nerven gegangen. Er hat sich mir bisher nur gezeigt, wenn er seinen Frust an jemanden auslassen muss. Und dafür scheine ich die perfekte Zielscheibe zu sein. Ich hasse das und will dem ein Ende setzen. Aber ich habe wahrscheinlich zu lange gebraucht, um zu begreifen, dass ich eventuell die Chance für eine Aussöhnung mit Gott niemals bekommen werde. Es sei denn, dass mir mein Vorhaben gelingt. Mein letzter