Tiloumio. Maari Skog
die Welt nicht zwischen den Wänden gesellschaftlicher Werte und Normen eingesperrt wird.
Das Gefühl von Freiheit hatte Turia letzten Sommer selbst kennengelernt, als sie mit mir auf dem Boot durch die Fjorde geschippert war.
Mein Boot gleicht mehr einer Nussschale. Und trotzdem bietet es mir so viel Sicherheit, dass ich darauf in der Lage bin, mir die Schuhe auszuziehen. Auf dem Meer gibt es niemanden, der mich bedroht und vor dem ich nur mit Hilfe meiner Schuhe entkommen kann.
Mein schlechtes Gewissen beginnt, sich wie überkochende Milch in mir breitzumachen.
Die Freude über die erworbene Freiheit ist plötzlich wie weggeblasen, und ich habe das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben.
Im Grunde genommen bin ich genauso egoistisch wie mein Vater, indem ich mich einfach auf und davon mache, ohne darüber nachzudenken, was ich Turia damit antue.
Ich steuere die nächste Parkbucht an, krame mein Handy aus dem Handschuhfach und wähle Turias Nummer. Während ich das Freizeichen höre, lege ich mir noch schnell zurecht, was ich ihr sagen soll. Ich will ihr verschweigen, dass ich auf unbestimmte Zeit weg sein werde. Auch das mit der verwüsteten Bude werde ich für mich behalten. Das wird sie noch früh genug erfahren.
»Hallo«, höre ich ihre dünne Stimme.
»Hey. Hey Turia«, sage ich hastig und versuche, meine Nervosität zu verbergen. »Du, ich bin für ein paar Tage weg. Ich fahre in die Berge nach Jotunheimen«, lüge ich und merke, dass ich zu schnell rede. Für einige Sekunden bleibt es am anderen Ende der Leitung still.
»Nach Jotunheimen? Aber, warum sagst du mir das erst jetzt?«, fragt sie entgeistert.
»Ich ... ich muss einfach mal raus und hab mir drei Wochen Urlaub genommen.«
»Drei Wochen«, ruft Turia erstaunt, »und wo bist du jetzt?«
»Ich ... ich bin schon auf dem Weg. Im Romsdal«, antworte ich wahrheitsgemäß. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass sie angefangen hat zu weinen.
»Bitte weine nicht«, sage ich, nachdem ich mich von meiner Erstarrung gelöst habe. Ich will nicht, dass sie weint. Nicht nur ihrer selbst willen, sondern auch, weil ihre Tränen mein schlechtes Gewissen schüren.
»Es sind doch nur drei Wochen. Hast du vergessen, was ich dir damals versprochen habe? Damals im Bootshaus, weißt du das noch?«
»Ich weiß«, sagt sie mit tränenerstickter Stimme, »aber ich habe kein gutes Gefühl. Da ist etwas. Was ist … wenn dir was passiert?«
»Mir wird schon nichts passieren«, versuche ich sie zu beruhigen, »du weißt doch, dass ich auf mich aufpassen kann. Ich werde mich ab und zu bei dir melden, dann weißt du, dass es mir gut geht.«
»Du wirst keinen Empfang haben. Nur gelegentlich, und dann ist es wahrscheinlich schon zu spät. Da ist etwas ...« Ihre Stimme klingt dumpf und desillusioniert. So, als ob sie eine ihrer diffusen Vorahnungen quält. Bei dem Gedanken daran wird mir kalt.
»Was meinst du damit? Es ist dann zu spät?«, frage ich unsicher.
Sie gibt mir darauf keine Antwort und sagt stattdessen: »Versprich mir noch etwas, bevor du weiterfährst.«
»Ja?«
»Versprich mir, nie den Helden zu spielen und deine Entscheidungen zu überdenken, bevor du sie in Taten umsetzt.«
»Das verspreche ich dir. Und nicht nur das, ich schwöre es dir,«, sage ich mit beinahe feierlicher Stimme.
»Das ist gut. Dann werden wir uns wiedersehen.«
»Ja, das werden wir. Wenn du mir versprichst, auch auf dich aufzupassen«, sage ich leise.
»Ich werde die Zeit schon irgendwie überstehen«, bekomme ich zur Antwort.
»Okay, ich werde mich wieder bei dir melden.«
»Aaron?« Ihre Stimme klingt plötzlich angsterfüllt. »Aaron. Ich hab dich lieb. Vergiss das nie, nie, niemals.«
Ich höre es knacken im Hörer. Sie hat aufgelegt. Ich sitze noch lange da und starre mein Handy an. Turia hat mir noch nie so unmissverständlich klar gemacht, dass sie mich liebt. Ihre Worte berühren mich unangenehm und lassen fast Schamgefühl in mir aufkommen. Im Allgemeinen hat mich das Gespräch aufgewühlt. Es ist die Art, wie sie gesprochen hat. Turias Stimme klingt immer so eigenartig, wenn sie ihre Ahnungen von Dingen preisgibt, die ich nicht fassen kann.
Ich denke noch eine Weile darüber nach, komme aber zu dem Schluss, dass meine kleine Halbschwester einfach ein wenig verwirrt ist, und dass es ihr nicht gutgeht, weil ihre Mutter wieder betrunken ist.
Jedenfalls bin ich froh darüber, ihr Bescheid gesagt zu haben, auch wenn ich nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Sie hat mir meinen Entschluss nicht übelgenommen, und letztendlich behält sie Recht. Wir werden uns wiedersehen. Auch wenn ich noch nicht weiß, wann das sein wird.
Ich habe die Route genauestens geplant. Meine Tour wird mich quer durch Laponia führen, bis hinunter nach Hemavan. Nördlich vom Sarek Nationalpark werde ich meinen Weg nach Stora Sjöfall fortsetzen.
Ich bin seit einer unbestimmten Zeit zu Fuß unterwegs, und der Blick auf die schwammig wirkende Landschaft lässt stille Zweifel in mir aufkommen. Vielleicht ist es doch keine gute Idee gewesen, zu dieser Jahreszeit herzukommen.
Gewaltige Schneefelder zeugen davon, dass der Winter sich nur schwer vertreiben lässt. Obwohl der Schnee schon eine silbrig glasige Oberfläche angenommen hat und damit ankündigt, dass er bereit ist, zu Wasser zu werden.
Die Flüsse sind durch das Schmelzwasser über die Ufer getreten, und ich habe schon erhebliche Umwege in Kauf nehmen müssen. Ich kämpfe meine Zweifel und die Furcht vor den kommenden Wetterkapriolen nieder. Sie sind das kleinere Übel im Gegensatz zu dem Alltag, der mir bisher verboten hatte, so zu leben, wie ich es möchte. Hier ist nichts, was mich in zeitliche Rahmen presst, und niemand, der mich hinter Mauern sperrt, hinter denen meine Hilfeschreie ungehört verhallen.
Auch wenn die Erde noch vom Winter umklammert wird, habe ich keine nächtliche Dunkelheit mehr zu befürchten.
Ich weiß, dass mich die endlosen Tage des Sommers dazu veranlassen werden, die Helligkeit in mich aufzusaugen. Mein Körper wird dann wie ein Akku, der nur mit Hilfe der sommerlichen Helligkeit die dunkle Winterzeit einigermaßen überstehen kann. Solange ich denke, sehe ich das Sommerlicht als meine Rettung und Hoffnung an. Jedes Jahr aufs Neue. Und jedes Jahr falle ich darauf herein und merke spätestens Ende Oktober, dass ich in den Abgrund unerträglicher Depressionen blicke. Der Winter mit seiner ewigen Nacht brennt sich in viele Herzen. Unter anderem auch in meines.
In den letzten Jahren ist es immer öfter vorgekommen, dass die Schutzmauer um meine Seele von der Finsternis in kleine Stücke zerschlagen wurde. Die Trostlosigkeit, die sich dann in mir breitmacht, bringt mich fast um den Verstand. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich gerade in den Wintermonaten grundlos zu weinen beginne, aggressiv werde oder in überdimensionalen Ausmaßen nach etwas dürste, womit ich mich betäuben kann. Deshalb übertreibe ich es gelegentlich mit dem Alkohol, um mich hinterher dafür zu verachten. Der Gedanke daran, dass ich vielleicht irgendwann so enden könnte, wie Bente, die Frau, die sich achtzehn Jahre lang als meine Mutter ausgegeben hat, lässt mich dann in Scham untergehen.
Mir fällt nur ein winterliches Erlebnis ein, an das ich mich gerne erinnere, weil es mir wie ein magischer Moment vorkam. Ich war damals wohl zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen, als mein Vater mit mir und Turia eine Hütte im Dovrefjell gemietet hatte. Die Hütte hatte an einem See gelegen, hinter dem sich ein Gebirge befand, das majestätisch und gleichzeitig gedrungen in den Himmel ragte und den Eindruck erweckte, sich vor der Macht des Himmels verbeugen zu müssen.
In einer jener Nächte hatte Turia darauf bestanden, dass ich mit ihr nach draußen gehe. Am Rande des Sees war sie stehengeblieben und