Tiloumio. Maari Skog

Tiloumio - Maari Skog


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ich nicht zuordnen kann und ganz und gar nicht an diesen Ort gehört.

      »Pst, pst«, höre ich eindringlich. Direkt neben meinem Ohr erklingt dieser menschliche Zischlaut. Ich schrecke hoch, sehe aber niemanden. Der Stoff der Zeltwand verrät, dass keine Wolke die Sonne verdeckt. Ich muss blinzeln, weil mich das grelle Licht blendet und noch bevor ich richtig sehen kann, höre ich, wie eine mir vertraute Stimme ertönt. Unter tausenden von Stimmen würde ich sie erkennen.

      »Komm mit. Du musst mitkommen«, zischt Turia.

      Überrascht und erschrocken pelle ich mich aus dem Schlafsack. Wie kann ihre Stimme so dicht neben mir erklingen, wenn ich sie nicht sehe? Mal abgesehen davon ist es schlichtweg unmöglich, dass sie in meiner Nähe ist.

      Ich krieche eilig aus dem Zelt und blicke unentschlossen zum Ufer. Irgendetwas ist seltsam, ohne dass ich sagen kann, was es ist. Ich lasse meinen Blick umherschweifen, schaue in den Wald und auf die Blaubeerbüsche, und glaube weit hinten, dort wo sich die Bäume in Schwärze verlieren, eine Bewegung auszumachen. Doch dann fällt mir ein, dass ich mich mit aller Wahrscheinlichkeit in einem Traum befinde und nichts zu befürchten habe. Trotzdem kann ich das unheimliche Gefühl nicht verscheuchen, als ich bemerke, dass die Bewegung im Wald eine menschliche Gestalt annimmt, die zwar dunkel und verzerrt, aber dennoch erkennbar ist. Äste knacken in meiner unmittelbaren Nähe. Ich wende mich erschrocken dem Geräusch zu. Es scheint direkt aus meinem Zelt zu kommen. Ich blicke noch einmal zur Waldgrenze, sehe aber niemanden mehr. Dann atme ich tief durch, nehme all meinen Mut zusammen und hebe vorsichtig die Zeltplane an. Meine Arme wirken dabei wie ausgelöscht. Es kommt mir vor, als ob ich keine Kontrolle mehr über meine Bewegungsabläufe habe und von etwas Fremden gesteuert werde. Es besteht keine andere Möglichkeit, als mich meinen automatisierten Bewegungen anzupassen, während ich Turia entdecke, wie sie in der Mitte des Zeltes kauert. Ihr leichenblasses Gesicht hebt sich von der Schwärze ihrer Klamotten ab. Ihre Lippen schimmern bläulich und formen Worte, die ich nicht verstehe, während Tränen über ihre Wangen laufen und die Schminke schwarze Rinnsale bildet. Ihr Oberkörper wippt vor und zurück. Eine Eigenart, die sie als Kind schon an den Tag gelegt hatte, und für die es einen Namen gibt, von dem ich erst vor einigen Monaten gehört habe. Hospitalismus. Eine Krankheit, bei der ich mich nicht wundere, dass sie meine kleine Halbschwester heimsucht.

      Ich bemerke, dass ihre feingliedrigen Finger kleine Äste zerbrechen, die in einem Kreis auf dem Boden liegen. Sie bricht sie in winzige Stücke und zerbröselt den Rest.

      »Du bist nicht allein«, flüstert sie mit gesenkter Stimme.

      Sie hebt den Blick, lässt aber den Kopf dabei gesenkt, wie ein Wolf, der sein Gegenüber misstrauisch beäugt.

      Ich bin gewillt, Turia zu berühren. Der Traum erscheint mir zu wirklichkeitsnah, als dass ich ihn einfach ignorieren kann. Aber dann überlege ich es mir anders und lasse die Hand sinken. Stattdessen hocke ich mich hin, sodass wir auf Augenhöhe sind.

      »Träume ich?«, frage ich.

      »Vielleicht.« Turia senkt ihren Blick und versteckt ihr Gesicht zwischen den Knien.

      Ihre Schultern beginnen zu beben und signalisieren mir, dass sie von lautlosen Schluchzern gequält wird. Sie weint still, wie immer darum bemüht, nicht aufzufallen.

      Bei dem Anblick wird mir flau im Magen. Ich habe sie im Stich gelassen.

      »Bitte weine nicht«, flüstere ich verzweifelt und spüre Tränen der Verzweiflung in mir aufsteigen.

      Ich versuche tapfer zu sein, schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und beiße die Zähne zusammen, bis der Anflug von Traurigkeit vorüber ist. Vorsichtig robbe ich zu Turia ins Zelt und möchte ihr über die dunklen Haare streichen. Meine Hand ist nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, als sie plötzlich aufschreit, mich mit einer grauenhaft verzerrten Fratze anstarrt und anschließend in sich zusammensinkt, sodass nur noch ihre Kleidung auf dem Zeltboden liegt.

      Ich schrecke hoch und befinde mich in meinem Schlafsack. In Hüfthöhe liegen meine Klamotten zusammengeknüllt, und um sie herum sind abgebrochene Äste und Zweige verstreut.

      Verstört stolpere ich aus dem Zelt und laufe zum See hinunter, wo ich ein paar Züge im eiskalten Wasser schwimme. Die Kälte raubt mir fast den Atem, und ich hoffe, dass ich dadurch meine Gedanken ordnen kann. Doch die Unruhe lässt sich nicht abwaschen. Ein dünner Film von Unheil hat sich über die Idylle gelegt. Mir kommt es vor, als ob sich etwas Bedrohliches nähert und Turia mir im Traum erschienen ist, um mich davor zu warnen. Du bist nicht alleine. Was ist das für eine Ahnung, die sie da quält?

      Ich weiß noch, wie Turia einmal zu mir gesagt hatte, dass sie in Gedanken immer bei mir wäre, selbst wenn ich meilenweit von ihr entfernt bin. Ich habe das als Resultat ihrer ausgeprägten Phantasie angesehen. Vielleicht hätte ich sie ernst nehmen sollen. Denn der Traum war eindeutig eine Botschaft gewesen.

      Das vertraute Knistern des Feuers umspielt mein Gehör, und ich bin im Begriff, zu glauben, dass ich träume. Doch dann kämpft sich meine Erinnerung durch Schwindel und Kopfschmerzen. Ich weiß, dass ich von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Ich hätte mich auf Turias Intuition verlassen sollen. Wenn ich darauf gehört hätte, dann wäre ich nicht in die Wildnis gelaufen, dann hätte ich gewusst, dass die größte Gefahr dort lauert, wo man sie am wenigsten vermutet.

      Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben, und ich war unfähig, es zu bemerken. Mir fällt die Gestalt ein, die in meinem Traum im Wald stand, und ich frage mich, ob das nicht tatsächlich geschehen ist. So wie auch die Äste und Zweige, die Turia in demselben Traum zerbrochen hat.

      Ich liege auf meinen Armen und merke, dass sie taub sind. Eingeschlafen, von meinem eigenen Körpergewicht erdrückt. Meine Position ist halb liegend, und meine Sicht ist verschwommen, weshalb ich die Gestalt und das Feuer vor mir nur schemenhaft erkennen kann. Meine Augen brennen, Tränen laufen mir über die Wangen und ein bitterer, pelziger Geschmack liegt auf meiner Zunge. Ich habe das Bedürfnis, mich zu übergeben, doch ich kann mich nicht auf die Seite drehen, um meinen Magen zu entleeren. Ich versuche mich zu beherrschen und konzentriere mich auf die unnatürliche Müdigkeit, die mich an einen von Alkohol verursachten Kater erinnert. So verweile ich eine Zeit lang, mit der Gewissheit, meine Gliedmaßen nicht bewegen zu können und mich in Gesellschaft dieser bedrohlichen Gestalt zu befinden, deren Gesicht ich nicht erkennen kann. Ich schließe die Augen und verfalle in eine Art Dämmerzustand.

      Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesem Zustand befand, denn als ich erwache, ist mein erster Gedanke, dass, wenn eine Situation unerträglich ist, eine Minute eine Ewigkeit währen kann. Ich weiß sofort, dass ich mich in einer fatalen Situation befinde und jemandem, aus unerfindlichen Gründen, ausgeliefert bin.

      Bei dem kläglichen Versuch, mich aufzusetzen, stelle ich fest, dass der Platz am Lagerfeuer leer ist. Ich spüre eine Gänsehaut, als ich irgendwo hinter mir Schritte vernehme und gleich darauf ein hochgewachsener Mann mit einem Dreitagebart in mein Blickfeld tritt. Sein schwarzes Haar ist sorgfältig zurückgekämmt, und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er sich ganz und gar nicht aus purer Lust in der Wildnis aufhält. Wasserblaue Augen unter dichten Augenbrauen sehen kaltblütig auf mich hinab. Das ist kein Verrückter oder ein degeneriertes Inzestmonster, wie sie in billigen B-Movies von der Filmindustrie in die Wildnis drapiert werden. Trotzdem geht von dem Mann etwas derartig Bedrohliches aus, dass ich den Atem anhalte. Ich starre zu ihm hinauf und merke, wie sich meine Nackenhaare sträuben. Ich will etwas sagen, doch meine Situation lässt nicht zu, großartig Fragen zu stellen. Ausserdem weiß ich ganz genau, wann es am besten ist, die Schnauze zu halten. Meine unbequeme Haltung ist eindeutig der Fesselkunst meines Gegenübers zu verdanken. Er hat mich von Kopf bis Fuß in ein Seil geschnürt, und ich kann, wenn überhaupt, mich nur noch kriechend wie ein Wurm fortbewegen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, verrät mir diese Tatsache auch noch, dass dieser Mann mich nicht nur wegen Geld oder sonstigen Wertgegenständen überfallen hat.

      Doch es ist mir ein Rätsel, was er von mir will. Ich senke den Blick und höre, wie der Fremde neben mir in die Knie geht.


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