Tiloumio. Maari Skog

Tiloumio - Maari Skog


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ein wenig verwirrt gewesen und unsicher darüber, was ihre Geste zu bedeuten hatte. Doch dann eröffnete sich über uns das Naturschauspiel der Polarlichter. Sie waberten grünlich, tanzten wie Flammen in der Schwärze der stillen Nacht und krümmten sich, als ob sie Schmerzen hätten. Mit ihrem Leuchten wirkten sie auf mich, als ob sie mich und meine Schwester beschützen und unser gemeinsames Leid von uns nehmen wollten.

      Wir waren ganz still gewesen, rührten uns nicht und starrten in den Himmel hinauf. Alles schien in dieser klirrenden Nacht zum Stillstand gekommen zu sein, einzig Aurora Bollearis schien die Fähigkeit gehabt zu haben, sich zu bewegen.

      Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort gestanden hatten. Irgendwann waren die Polarlichter so plötzlich erloschen, wie sie gekommen waren, und wir gingen schweigend in die Hütte zurück, wo wir den ruhigen Atemzügen unseres Vaters lauschten. Ich habe bis heute niemandem von diesem Erlebnis erzählt und bin mir sicher, dass auch Turia dieses Ereignis immer noch wie einen Schatz hütet. Erst einige Jahre danach habe ich sie gefragt, woher sie wusste, dass die Polarlichter kommen würden. Denn es war eindeutig so, als ob sie die Polarlichter herbeigerufen hatte. Daraufhin hatte sie mit den schmalen Schultern gezuckt und meinte nur, dass sie es einfach gewusst habe.

      Dieses Ereignis hatte eine Sehnsucht in mir geweckt, die ich bis heute nicht in Worte fassen kann. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Tod oder der Hunger nach Leben. Möglicherweise beides zusammen. Denn ich weiß, dass Tod und Leben nahe Verwandte sind, und nie einer ohne den anderen die Welt beschreitet.

      Erfahrungsgemäß wird es nicht lange dauern, bis ich mich der Unwirtlichkeit meines neuen Umfeldes angepasst habe. Schützende Wände mit beheizten Räumen kann ich natürlich nicht mehr erwarten, aber das ist mir egal. Zwangsläufig werde ich damit beschäftigt sein, meine Grundbedürfnisse zu stillen. Es gibt keinen Platz mehr für andere Dinge, außer für ein wärmendes Feuer und die Suche nach etwas Essbarem.

      Obwohl ich mich noch auf einer baumfreien Hochebene befinde, schlägt mir der würzige Duft von Bäumen entgegen, der ankündigt, dass ich mich in einer völlig anderen Welt befinde, als die, die ich bisher bewohnt habe.

      Der Duft des Waldes ist so viel anders als der Geruch von Seetang und Möwenscheiße, den der raue Seewind vor sich herzutreiben pflegt. Ich frage mich, ob ich das Meer irgendwann vermissen werde. Wie hatte Turia einmal gesagt? Sie meinte zu mir, dass ich so unberechenbar wie der Ozean sei. Genauso tiefgründig, rätselhaft und furchteinflößend. Ich habe gelacht, denn Letzteres konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war und bin ein Feigling. Mehr nicht. Auch wenn meine Schwester nie müde wird, mir zu versichern, dass dem nicht so ist. Für sie selbst, wie sie mir damals sagte, bin ich das Beste, was ihr in ihrem Leben passieren konnte, und trotzdem ist sie davon überzeugt, dass es Leute gibt, die sich vor mir fürchten. Auf meine Frage, wer das denn sein solle, hatte ich keine Antwort erhalten.

      Ich bleibe unschlüssig stehen. Unter meinen Füßen ist nichts als Gestein, aber wenn ich gen Osten blicke, sehe ich einen endlosen Wald, während hinter mir das karge Gebirge mit seinen zahllosen Seen und Bächen liegt. Ich überlege, ob ich in Richtung Wald weitergehen soll. Die Stelle erscheint mir angemessen, weil der Abstieg bis an den Rand des Waldes weniger schwierig ist und ich nicht genau weiß, was mich erwarten wird, wenn ich noch weiter südwärts laufe. Das Gelände steigt dort unmittelbar an, und ich befürchte, die Chance auf einen guten Abstieg zu verpassen, wenn ich weiter bergauf gehe.

      Ein mir unbekanntes Geräusch reißt mich aus meiner Überlegung, und ich bleibe starr stehen. Ein Windstoß lässt mich frösteln, und ich merke, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellen. Für eine Sekunde komme ich mir beobachtet vor, und dann sehe ich, was mich erschreckt hat. Ein paar Rentiere, die gemächlich ihren Weg ins westlich gelegene Gebirge mit den vergletscherten Gipfeln fortsetzen, laufen an mir vorüber. Ihre Leiber dampfen in der kalten Luft. Sie blicken mich aus unruhigen Augen an, strecken die Hälse und beschleunigen ihr Tempo. Das Stampfen ihrer Hufe verhallt in der Stille, als sie hinter der Anhöhe verschwinden, auf der ich stehe.

      Ich atme erleichtert aus und setze meinen Weg in die Richtung fort, aus der die Rentiere gekommen sind. Für einen Moment habe ich tatsächlich gedacht, dass ich nicht alleine bin. Ich will keinen Menschen um mich haben. Zumindest nicht in diesem Augenblick. In den letzten Tagen habe ich bemerkt, dass ich mich damit abfinden kann, nicht zu wissen, wer ich wirklich bin, beziehungsweise, dass eine Hälfte meiner Identität ein Geheimnis bleiben wird. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich in den letzten drei Jahren vor einem Spiegel stand und das Gefühl hatte, dass mich ein Fremder anstarrte. Dabei hatte ich zugeben müssen, dass ich eindeutig das Kind meines Vaters bin, bis auf die weizenblonden Haare und die ausgeprägten Wangenknochen. Wie ich mein Gesicht hasse. Erst gestern habe ich meinen Anblick wieder ertragen müssen, als ich mich am Ufer eines Sees über das Wasser beugte, um mir die Hände darin zu waschen. Erst als ich einen Stein ins Wasser geworfen habe, hat sich mein Spiegelbild in Wellen aufgelöst, und mein Selbsthass war zum Stillstand gekommen. Zumindest für diesen Augenblick.

      Ich habe mittlerweile den Wald erreicht. Der Boden unter mir ist weich und federt jeden meiner Schritte ab, sodass das Gehen eine Leichtigkeit ist. Um mich herum wächst ein Teppich Blaubeerbüsche, der den Untergrund wie einen dicken Pelz vor der Witterung schützt. Die Stille gleicht einem Vakuum und lässt den Wald noch bizarrer wirken, als er mir ohnehin schon vorkommt. Die zotteligen Äste und Zweige der Fichten reichen bis zum Boden und lassen kaum zu, dass die Sonnenstrahlen das Erdreich berühren.

      Ich fürchte mich nicht davor, dass mir etwas oder jemand hinter den Bäumen auflauern könnte. Für mich verkörpert der Wald Schutz und Geborgenheit, weil ich weiß, wie ich mich in dieser befremdlichen Welt zu verhalten habe.

      Mir ist bewusst, dass ich auf mich alleine gestellt bin und in dieser Gegend keine Gesellschaft bekomme. Ich lächle bei dem Gedanken daran und bin froh darüber, dass der Wald es über Jahrhunderte hinweg geschafft hat, die seltsamsten Gestalten aus der Phantasie des Menschen hervorzulocken. Die damit verbundenen Geschichten haben ihren Zweck erfüllt, indem sie Ängste manifestieren und die Menschheit von der Wildnis fernhält. Zumindest ist es hier im Norden so.

      Irgendwo weit draußen, kilometerweit von mir entfernt, leben die Menschen in ihrer Bequemlichkeit und ertrinken in Langeweile und Lethargie. Für sie gibt es nichts, außer Neid und Habsucht. Sie dezimieren sich selbst, und ich bin fest davon überzeugt, dass der Mensch eigentlich ein Einzelgänger ist. Weshalb sonst kommt es zwischen ihnen ständig zu todbringenden Konflikten?

      Ich habe mich von alldem ausgeklinkt und sehe mich nicht mehr als ein Teil dieser krankhaften Entwicklung. Das brauche ich, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich den Tod nicht fürchte. Denn das tue ich nicht. Ich würde ihn nur fürchten, wenn ich durch die Hand eines anderen Menschen sterben müsste. Dann wäre ich nicht nur meines Lebens beraubt, sondern auch meiner Würde.

      Wenig später streicht Gras an meinen Beinen vorüber. Ich habe eine Wiese betreten. Vor mir sehe ich einen langgezogenen See, dessen Ufer bewachsener ist, als die jener Seen, die sich oberhalb der Baumgrenze befinden. Langsam drehe ich mich um und suche die Wiese nach einem geeigneten Lagerplatz ab. Eine Felsnase ragt aus dem Wald in die Wiese hinein. Ich beschließe, dort mein Lager einzurichten. Es scheint mir der richtige Ort zu sein, um mich länger aufzuhalten.

      Die Vögel zwitschern nicht mehr, und der Stand der Sonne verrät, dass es schon später Abend ist.

      In den ersten Tagen nach meinem Aufbruch vom Parkplatz in Abisko hatte ich nach jedem vergangenen Tag gespürt, wie die Anstrengung in meinen Gliedern pulsierte. Jetzt verspüre ich zwar Müdigkeit, wenn die Tage zu lang werden, aber meine Muskeln haben sich an die permanente Bewegung gewöhnt.

      Ich entfache ein Lagerfeuer, bevor ich mich in mein Einmannzelt verkrieche. Die Flammen lodern in den milchigen Himmel und wecken eine merkwürdige Trauer in mir. Ich versuche mich nicht davon vereinnahmen zu lassen und lenke mich von meinen düsteren Gedanken ab, indem ich mir eine Zigarette drehe und mich auf meine Müdigkeit konzentriere. Das Knistern der Flammen beginnt, mich zu beruhigen. Als das Feuer heruntergebrannt ist und nur noch Glut in der Asche liegt, krieche ich in mein Zelt und werde augenblicklich von einem


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