Tiloumio. Maari Skog
auf einen Schlag ins Gesicht oder auf den Lauf der Waffe, der mir gegen die Schläfe gepresst wird. Doch nichts dergleichen passiert.
»Was für ein ... was für ein Spiel?«, stammele ich.
»Du hast mich schon verstanden. Ich werde gleich, sobald deine Arme frei sind, bis zehn zählen. So lange hast du Zeit, die restlichen Fesseln zu lösen und abzuhauen. Solltest du irgendeinen Blödsinn machen, schieße ich dir ins Knie und werde dich sofort fertigmachen.«
Mein Widersacher dreht mich auf die Seite und fummelt hinter meinem Rücken herum. Er ist nicht zimperlich, und ich verspüre einen schmerzhaften Ruck, als er mich von sich stößt, aufsteht und die Waffe auf mich richtet.
»Eins.«
Ich versuche die Arme zu heben, merke aber, dass das nicht möglich ist. Sie sind durch mein eigenes Gewicht blutleer und taub. Nur mit allerhöchster Konzentration schaffe ich es, sie zu bewegen, ohne dass ich es selbst spüre. Das einschießende Blut verursacht einen kribbelnden Schmerz, der sich bis in meine Fingerspitze vorarbeitet.
»Zwei.«
Mir bleibt keine Zeit mehr. Ich schüttele die Hände, um die Blutzirkulation zu beschleunigen und mache mich daran, mich zu entfesseln. Ich will aufstehen, doch bei dem Versuch, gerate ich ins Straucheln, und meine Knie geben nach. Ich packe das Seil, das um meinen Oberkörper gewickelt ist, und reiße es mit all meinen Kräften von mir. Doch es lässt sich nur schwer lösen. Der Fremde hat ganze Arbeit geleistet.
Hämisches Lachen erklingt.
»Drei.«
Ich fingere weiter an dem Seil herum. Mittlerweile ist es so locker, dass ich es über meine Hüfte schieben kann. Nur der Knoten an meinen Fußgelenken macht mir noch Sorgen. Ich riskiere einen kurzen Blick auf meinen Widersacher. Der Knoten hat sich endlich gelöst und ich kann sehen, dass der Mann darüber nicht im Geringsten beunruhigt ist.
»Vier«, flüstert er mit einem breiten Grinsen.
Hektisch reiße ich das Seil von meinen Beinen, stehe auf und strauchele erneut, bis ich mein Gleichgewicht halten kann. Dann laufe ich auf wackeligen Beinen los, ohne mir die Richtung zu überlegen. Hämisches Gelächter folgt mir, und ich will nur noch weg von diesem Irren. Büsche streifen mein Gesicht, die Bäume jagen an mir vorbei. Der Widerhall meiner Schritte lässt mich glauben, dass mein Verfolger unmittelbar hinter mir ist.
Ich schreie kurz auf und zucke im Lauf zusammen, als ein Schuss die Stille zerreißt. Gefolgt von einem siegessicheren Gebrüll.
»Ich kriege dich!«
Mir wird bewusst, dass ich nicht mehr lange durchhalten werde, wenn ich so weiterrenne. Es muss mir irgendwie gelingen, meinen Peiniger abzuschütteln. Ich bleibe im Dickicht stehen und sehe mich suchend nach einem Baum um, auf den ich klettern kann, oder nach einer Senke, in der ich mich unter Moos und Fichtennadeln verstecken kann.
Nun, wo ich mich wieder frei bewege, ist meine Verzweiflung verschwunden. Adrenalin flutet meinen Körper wie eisiges Wasser. Angst habe ich immer noch, doch sie beflügelt mich eher, als dass ich mich resigniert meinem Schicksal ergebe.
Ich laufe weiter, bis ich auf eine Mulde stoße, in die ich mich hineinwerfen und lauschen kann. Mein Atem hört sich wie das Zischen von Schlangen an und droht, meine Kehle zu zerreißen.
Außer dem Sirren der Mücken vernehme ich keinen Laut. Doch nach wenigen Augenblicken höre ich Schritte in der Ferne. Ich blicke vorsichtig aus der Mulde in das Dickicht aus Blaubeersträuchern und Birken. Die Schritte sind jetzt so laut, dass ich den unverkennbaren Widerhall des Waldbodens wahrnehmen kann.
Das Geräusch verstummt, und ich sehe, wie der Mann zwischen den Sträuchern auftaucht, den Kopf in den Nacken legt und die Nase in die Luft hält. Seine Nasenflügel beben, wie bei einem blutgierigen Hund, der Witterung aufgenommen hat. Das Gesicht ist zu einer irrwitzigen Fratze verzogen.
»Ich rieche dich«, säuselt er unverhohlen.
Ich ducke mich. Mein Herz klopft schmerzhaft gegen meine Rippen. Man muss mich meilenweit hören können. Meine Sinne sind aufs äußerste geschärft. Auf der Lauer liegend, sehe ich die Beine in der moskitoresistenten Hose meines Widersachers direkt vor mir stehen. Noch hat er mir den Rücken zugewendet.
Ich zittere. Doch dieses Mal ist es das Adrenalin, das darauf drängt, meinen Kräften endlich freien Lauf zu lassen. Ich warte nicht mehr. In blinder Verzweiflung packe ich die Beine des Mannes und reiße ihn zu Boden. In der nächsten Sekunde werfe ich mich mit wütendem Gebrüll auf ihn. Der Überraschungseffekt ist auf meiner Seite, sodass es mir gelingt, mich auf seine Oberarme zu setzen. Mit aller Kraft und einen hysterischen Schrei ausstoßend, ramme ich dem Kerl meine Faust ins Gesicht. Der Fremde gibt einen Schmerzensschrei von sich und bäumt sich auf, womit ich nicht gerechnet habe. Als würde ich vom Rücken eines Pferdes fallen, lande ich auf der kalten Erde. Beim Versuch mich aufzurappeln drückt der Mann mich mit seinem gesamten Gewicht nach unten.
Ich rieche den Waldboden unter mir und spüre mit Entsetzen, dass sich der Mann an meiner Hose zu schaffen macht. Die Schmerzen meines Schlages scheinen vergessen.
»Weißt du, wie lange es her ist, dass ich gevögelt habe? Da spielt es keine Rolle mehr, ob ich eine Frau vergewaltige oder du dran glauben musst«, keucht er wütend.
Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wie gelähmt, doch dann nehme ich all meine Kräfte zusammen und versuche mich aufzurichten. In dem Moment merke ich, dass der Mann in seine Jackentasche greift und offensichtlich nach etwas sucht. Sein Gesicht nimmt einen erschrockenen Ausdruck an.
Ich nutze die minimalistische Ablenkung und verpasse meinem Widersacher mit der Handkante einen weiteren Schlag zwischen Schulter und Hals. Er fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite, sodass ich mich freikämpfen kann. Ich klettere aus der Mulde und laufe wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Bereits ein paar Sekunden später spüre ich den heißen Atem meines Verfolgers im Nacken und höre sein animalisches Keuchen.
Ich lege nochmals an Tempo zu und höre sanftes Rauschen irgendwo vor mir. Dort musste ein Bach oder ein Fluss sein. Ich halte darauf zu und sehe nach kurzer Zeit, dass sich vor mir ein Abgrund auftut. Ich weiß nicht, wie breit die Schlucht ist, doch ich habe keine andere Möglichkeit, als über den Abgrund zu springen. Jede andere Entscheidung kann meinen Tod bedeuten.
Ich schätze die Entfernung im Laufen ab, denke noch, dass ich es niemals schaffen werde, und sehe doch die einzige Chance darin, mein Überleben zu sichern, indem ich springe. Ich bin etwa zehn Meter vom Abgrund entfernt, als mich mein Verfolger von hinten anspringt und zu Fall bringt.
Meine Stirn prallt auf einen Stein. Warmes Blut läuft über mein linkes Auge und droht mir, die Sicht zu nehmen. Sterne flirren wie Fliegen um das Licht um mich herum. Ich zwinge mich dazu, nicht ohnmächtig zu werden. Wütend schlage ich mit der Faust nach meinem Widersacher, doch dieser wehrt die Schläge ab, grinst und beginnt, erneut an seinem Hosenbund herumzufummeln.
Panisch versuche ich mich unter ihm herauszuwinden und bemerke unter meiner rechten Schulter eine entsetzliche Leere. Ich liege direkt am Rand der Schlucht. Widerwillig schiebe ich meine Hand zwischen mich und den Irren und packe ihn mit aller Kraft zwischen seinen Beinen. Ein helles Kreischen folgt als Antwort.
»Guten Flug, du perverser Bastard«, brülle ich voller Enthusiasmus und stoße ihn in Richtung Abgrund.
Ein dumpfer Aufprall dringt an mein Ohr, gefolgt von einem unmenschlichen Schrei, der mir durch Mark und Bein geht. Eine trügerische Stille folgt, begleitet von dem Rauschen des Baches in der Schlucht, das wie höhnisches Kichern klingt.
Ich verharre einen Augenblick, weiß nicht, was ich machen soll. Letztendlich siegt die Neugier und ich schaue vorsichtig über den Rand des Abgrunds. Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich zurückzucken. Der Mann ist nicht, wie ich gehofft habe, von den Wassermassen mitgerissen worden. Er liegt am schlammigen Ufer, das rechte Bein ist zwischen Felsbrocken eingeklemmt, während das andere seltsam verdreht ist und meinem Widersacher das groteske Aussehen einer Marionette verleiht.
Ich