Tiloumio. Maari Skog
Gesicht zu mir hoch. Erst jetzt fange ich an zu begreifen, dass mir mein Gegner ausgeliefert ist. Ich kann über Leben oder Tod entscheiden. Doch selbst jetzt, im Anbetracht der Tatsache, dass dieser Mann niemals gezögert hätte, mich zu töten, fällt es mir schwer, mich für diesen Weg zu entscheiden. Ich bin kein Ungeheuer. Auch wenn es für manche vielleicht den Anschein hat. Ich habe gelernt, meine Angst und den Respekt vor dem Leben zu verstecken und weiß, dass mein Blick oftmals etwas anderes – etwas Dunkles - erzählt, wenn ich den Menschen in die Augen sehe.
Meine Überlegung geht dahin, den Mann seinem Schicksal zu überlassen, aber dann ringe ich mich doch dazu durch, in die Schlucht zu klettern, um zu sehen, ob ich ihm nicht irgendwie helfen kann.
Ein paar Meter weiter finde ich einige Vorsprünge im Gestein, an denen ich sicheren Halt finde und gefahrlos herunterklettern kann. Wenn es eine Angst gibt, die ich nicht kenne, dann ist es Höhenangst. Schon als Kind war ich ein grandioser Kletterer. Wenige Minuten später erreiche ich den Grund und stelle fest, dass der graue Boden nicht so schlammig ist, wie es den Anschein gehabt hat. Ein Felsblock versperrt mir die Sicht auf den Mann, sodass ich dem brodelnden Wasser gefährlich nahe komme, als ich ihn umrunde. Vor mir eröffnet sich der Blick auf den Verletzten, und ich verspüre beinahe Erleichterung. Gleichzeitig erschüttert mich der Anblick auf eine absurde Art. Blut läuft dem Mann aus der Nase. Er röchelt wie ein sterbendes Tier und versucht den Kopf zu heben, was zur Folge hat, dass ein weiterer Schwall Blut aus seinen Mundwinkeln läuft.
»Hilf mir, bitte«, gurgelt er kaum hörbar.
Mir schießt durch den Kopf, was passiert wäre, wenn es die Schlucht nicht gegeben hätte. Er hätte mich vergewaltigt und anschließend ohne zu Zögern getötet. Die Vorstellung daran lässt mich erschaudern und erstickt mein Gewissen unter einem Kissen aus Hass und Rachegefühl. Ich bleibe reglos stehen. Ohne dass ich es verhindern kann, formen sich meine Lippen zu einem abfälligen Lächeln. Ich schüttele langsam den Kopf und stecke meine Hände in die Hosentaschen.
»Das werde ich nicht, du krankes Arschloch«, zische ich und blicke dabei zu Boden.
Ich kann ihm nicht in die Augen sehen.
Der Mann streckt seinen rechten Arm aus, als ob er nach mir greifen will. Doch es fehlt ihm an Kraft, und es bleibt bei dem Versuch. Ich mache trotzdem einen Schritt zurück und blicke auf die Steine unter der Oberfläche des Wassers, wo die Strömung den Bach zur Ruhe kommen lässt. Die Steine erscheinen mir fast lebendig.
»Ich kenne deine Schwester«, flüstert der Mann plötzlich.
Zuerst glaube ich, mich verhört zu haben. Doch dann wiederholt er, was er gesagt hat. »Ich kenne deine Schwester. Deine Turia.«
Entsetzt über die Worte fahre ich herum. Der Name meiner Schwester wirkt wie ein Schock auf mich.
»Woher kennst du Turia?«, frage ich drohend und greife mechanisch nach einem Stein, der in den Wellen schimmert.
Eiskaltes Wasser umspielt meine Hand. Gleichzeitig erkenne ich, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnen kann. Der Mann sieht mich mit aufgerissenen Augen an. Er röchelt erneut, und unter all dem Blut ist nicht zu erkennen, ob er grinst oder vor Schmerz das Gesicht verzerrt. Ich gehe auf ihn zu.
»Woher?«, frage ich ihn trotzdem noch einmal.
Meine Stimme bricht.
Ein Gurgeln und Stöhnen kommt als Antwort. Die Lippen des Mannes zittern und formen mühselig ein paar Worte.
»Wenn ich ... wenn ich dich erledigt hätte, dann wäre sie als Nächstes dran gewesen. Diese kleine, geile Schlampe ... sie wäre ... ich hätte ... sie ...«
»Nein«, brülle ich und hebe den Stein.
Ich will den Satz nicht beendet wissen und schleudere den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Mannes. Ich höre ein Knacken und gleich darauf ein feuchtes Geräusch, als ob der Stein in Matsch geschleudert wurde.
Ich strauchele und falle auf die Knie. Grauer Schlamm klebt an meinen Händen und tropft auf den Boden. Ich starre auf meine Finger und bemerke, wie sehr sie zittern. Brennende Abschürfungen machen sich unter dem tropfenden Schlamm bemerkbar, und gleichzeitig beginnt die Platzwunde über meiner Braue zu pulsieren.
Ich starre wie betäubt auf den Leichnam, mit dem ich kurz zuvor noch verbissen gekämpft, und der den Namen meiner Schwester beschmutzt hatte. Etwas Weißes ragt aus dem blutigen Matsch, der mal eine Kopfhälfte mit dunklen Haaren gewesen ist. Es dauert eine Weile – vielleicht eine Ewigkeit - bis ich realisiere, dass ich dem Mann dem Schädel eingeschlagen habe.
Ich krieche auf den Toten zu und knie vor ihm nieder. Zögernd greife ich in seine Jackentaschen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was den Mann vielleicht identifizieren kann. Ich besitze kaum noch Kontrolle über meine Finger.
Doch ich werde enttäuscht. Ich ergreife lediglich meine eigene Brieftasche. Erleichtert stecke ich sie ein und ertappe mich bei dem Gedanken, dass mich so niemand mit dem Toten in Verbindung bringen kann. Kalt und berechnend.
Über mir zieht ein tiefes Grollen durch die Wolken. Ich hebe den Kopf und bemerke, dass ein drohendes Unwetter den Himmel in ein düsteres Licht getaucht hat. Eilig klettere ich aus der Schlucht und stelle entsetzt fest, dass ich nicht mehr weiß, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Ich blicke in den Wald, dann nach rechts und bin mir nicht sicher, ob ich bachaufwärts gehen muss, um zu meinem Lager zurückzukommen.
Die Himmelsrichtung anhand der Sonne auszumachen ist unmöglich. Schwarze Wolken haben den Himmel bis zum Horizont für sich eingenommen. Lediglich an dessen Ende ist ein glühender Lichtstreifen zu erkennen. Schwere Regentropfen fallen auf mich herab. Erst vereinzelt, doch dann kräftiger und so dicht wie ein Vorhang, der mir zu allem Überfluss die Sicht nimmt. Ich beginne in die Richtung zu laufen, in der ich mein Lager vermute, dabei fährt mir ein stechender Schmerz in die linke Wade. Ich gerate ins Straucheln und lande im nächsten Augenblick auf der kalten, nach altem Feuer riechenden Erde. Ein hysterisches Schluchzen steigt meine Kehle empor.
Niedergeschlagen und entkräftet bleibe ich auf einem nassen Teppich aus Blättern und Erde liegen, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Es ist Zeit, überlegt vorzugehen, doch das ist im Moment unmöglich. Die einzige Gewissheit, die sogar den Schmerz in meinem Bein verdrängt, ist die Tatsache, dass ich ein Mörder geworden bin. Das ist mein letzter Gedanke, bevor sich ein dunkler Umhang über mich ausbreitet. Ich bin ein Mörder.
Ich blinzele verwirrt und sehe mich um, ohne zu wissen, was mich aus der Ohnmacht geholt hat. Die Erinnerung trifft mich wie ein Faustschlag und beschleunigt meinen Herzschlag, sodass ich eine unnatürliche Hitze in mir verspüre. Nach wie vor liege ich auf dem Boden, irgendwo mitten im Wald und hasse mich dafür, dass ich offensichtlich über keinerlei Kaltblütigkeit verfüge. Wäre ich abgefuckt genug, hätte mein schlechtes Gewissen nun keine Chance gehabt, mich mit quälenden Schuldgefühlen zu beschmutzen. Im Gegenteil. Ich bin sogar erschrocken darüber, dass ich so viel Brutalität entwickelt habe.
Du bist ein Mörder, schießt es mir durch den Kopf, doch dann gibt mir eine winzige Stimme zu bedenken, dass ich aus Notwehr gehandelt habe. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich den Mann in die Schlucht gestoßen habe. Danach hätte ich ihn seinem Schicksal überlassen können. Der durch den Regen ansteigende Bach hätte den Rest erledigt. Mir wird bewusst, was mich dazu getrieben hat, meinem Widersacher den Schädel einzuschlagen. Es war nicht um meinetwillen. Er hatte Turias Namen erwähnt und er wollte sie ... ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Dieses Schwein hat offen zugegeben, dass er mich umbringen wollte, und ich hätte ebenso gut geschändet und ermordet werden können. Irgendwo hier draußen im Wald.
Ich stehe auf und wische mir die Hände an der Hose ab, als ob ich damit meine Tat einfach wegwischen kann. Das Atmen fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als ob eine eiserne Hand meinen Brustkorb umklammert.
Das Gewitter hat sich verzogen. Die Sonne hat einen fahlen Schein angenommen und wirkt wie gelbes Gift, das sich die größte Mühe gibt, das