Tiloumio. Maari Skog

Tiloumio - Maari Skog


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das Schlimmste, was passieren könnte. Mit niemanden werde ich über die Geschehnisse des Tages reden können, und doch ist mir klar, dass ich mit jemandem sprechen muss, damit ich mit meinen quälenden Gedanken nicht alleine bin.

      Der Mann, Steven, ist von jemandem geschickt worden. Ich gehe davon aus, dass mein Vater etwas damit zu tun hat.

      Mir ist nie in den Sinn gekommen, auf einem Seil zu balancieren, das die Grenze zwischen meinem bis zu diesem Tag legal geführten Leben und der Illegalität darstellt. Ich habe mich immer auf der einen Seite aufgehalten, und nun gehöre ich durch den Tod von Steven zu denen, die auf der anderen Seite ihr Unwesen treiben. Dort, wo kriminelle Energie und grausame Ideen wie Unkraut wuchern und zu einer undurchdringlichen Hecke heranwachsen.

      Aber bin ich wirklich ein Mörder? Weil ich mein eigenes Leben verteidigt habe? Die Frage spukt ununterbrochen in mir herum. Was war dieser Steven für ein Mensch gewesen? Jemand, der auf jeden Fall glaubte, besser zu sein, weil er sich einer geordneten Gesellschaft nicht beugen wollte. Sofern man noch von geordnet reden kann.

      Ich stehe auf einem Blockfeld und werfe einen Blick auf den Horizont. Vor mir sind nur Berge, Höhenzüge und dazwischen vergletscherte Gipfel. Ich seufze resigniert, weil ich davon ausgegangen bin, dass der Weg mir nicht so unendlich erscheinen würde.

      Die Sehnsucht nach einem Telefonat mit meiner Schwester dehnt sich dadurch noch mehr aus. Mein Redebedarf ist in den letzten Stunden ins Unermessliche gewachsen, und Turia ist die Einzige, der ich mich anvertrauen kann. Ich vermisse sie so sehr, dass mir ein scharfer Schmerz wie die Klinge eines Messers ins Herz sticht. Es klingt paradox, aber ausgerechnet dieser Schmerz bewahrt mich davor, in die Irre zu laufen. Ich will sie bei mir haben und meine Arme schützend um sie legen. Ich stelle mir ihre Atmung vor, wenn sie neben mir schläft, glücklich darüber, bei mir in Sicherheit zu sein. So war es immer gewesen. Und genau diesen Schutz habe ich auch immer bei ihr genossen. Ich brauche ihn jetzt. Mehr als jemals zuvor.

      Ich sehe auf meine Schuhspitzen hinab und auf den riesigen Stein, auf dem ich stehe. Erstaunt blicke ich zurück und dann wieder nach vorn. Um mich herum sehe ich nichts als Gestein. Ein Wunder, dass ich nicht abgerutscht und mit einem Fuß in einer Spalte hängengeblieben bin. Ich bin so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich schon die Hälfte des Blockfeldes überquert habe. Trotzdem habe ich jeden Schritt gut überlegt. Vielleicht, so rede ich mir ein, werde ich dann auch den Rest schaffen. Ich darf meiner überempfindlichen Phantasie keinen Raum mehr geben und den daraus resultierenden Albträumen auch nicht. Ich muss weiter, immer nur weiter ...

      Am Stand der Sonne kann ich erkennen, dass es Abend wird. Zeit, mich ein weiteres Mal nach einer geeigneten Stelle umzusehen, wo ich übernachten kann. Ich habe keine Ahnung, wie viele Tage ich seit meinem Aufbruch in Abisko schon unterwegs bin. Es sind auf jeden Fall zu viele, um mich noch an den ständigen Wechsel der Übernachtungsstätten zu erfreuen. Davon mal abgesehen wird der Drang, mit Turia zu reden immer mächtiger.

      Eisige Schauer jagen mir über den Rücken. Um mich herum werden die Geräusche zu einem Flüstern, sodass ich erneut den Eindruck bekomme, verfolgt zu werden. Ich sehe mich hektisch um. Gewöhnliche Baumstümpfe und Felsen sehen plötzlich wie menschliche Gestalten aus, die mich unentwegt anstarren. Ich bin übermüdet, aber ich gebe dem Verlangen nach erholsamen Schlaf keinen Raum.

      Ich blinzele meine finsteren Gedanken fort und stelle fest, dass ich das Blockfeld überwunden habe. Vor mir ist ein lichter Birkenwald, der weiter talwärts zu einem ausgedehnten Nadelwald wird. Dort muss ich hinunter, wenn ich nicht vom Kurs abkommen möchte. Mir ist das nur recht. So bin ich nicht mehr der Sonne ausgesetzt, ebenso wenig dem Wind, der oberhalb der Baumgrenze ziemlich unangenehm ist. Ich bin unendlich müde. Aber es ist keine Müdigkeit, die man in den Knochen spürt, wenn man den ganzen Tag in Bewegung ist. Auch die spärliche Nahrungsaufnahme ist nicht das, was mich erschöpft. Es ist eine andere Art von Erschöpfung. Eine, die tief aus meinem Inneren herrührt. Ich möchte tief und lange schlafen, aber ich fürchte mich, davon zu träumen, wie Steven mit zertrümmertem Kopf durch den Wald schleicht. Wie er zwischen jungen Birken und Blaubeerbüschen an mir vorbeigeht, den Gestank des Todes mit sich führend. Mit leisen Schritten, und die Nase prüfend in die Luft erhoben, wie ein Jagdhund der seine Beute wittert. Außerdem habe ich Angst davor, dass sich mir jemand nähert, sobald ich schlafe. Ich muss in Zukunft vorsichtig sein, wenn ich anderen begegne. Ich muss misstrauisch bleiben und mir ein Lügengebäude erstellen. Niemand soll wissen, wer ich wirklich bin und woher ich komme.

      Hinter einem Felsen setze ich mich. Hier fühle ich mich einigermaßen sicher vor den Blicken eingebildeter Gespenster. Die Gurte vom Rucksack haben meine Schultern wundgescheuert. Sie brennen, doch ich achte nicht weiter darauf. Meine Hände kramen im Rucksack nach dem Spirituskocher und einem Nudelgericht, dass ich mit heißem Wasser aufgieße.

      Nachdem ich gegessen habe, schalte ich das Handy ein und blicke gebannt auf das Display, in der Hoffnung, Empfang zu haben. Als ich sehe, wie sich der Empfangsbalken langsam aufbaut, durchfährt mich heiße Freude. Unwillkürlich stoße ich einen kurzen Schrei aus.

      Ich will gerade Turias Nummer wählen, als das Handy vibriert.

      Mit zitternden Händen lese ich die SMS. Es sind abgehackte Sätze, die typisch sind für diese Art von Mitteilungen und besonders typisch für Turia, die sie verfasst hat.

      Sie schreibt zusammenhangslos, und ich weiß nicht, was ihre Nachricht mir sagen soll. Ich kneife die Augen zusammen, scrolle zurück und lese sie noch einmal.

      ›Sie haben es auf dich abgesehen!!!

      Papa hat dich als vermisst gemeldet!

      Du fehlst mir so sehr, bitte melde dich bei mir!

      Ich weiß, dass du nicht tot bist.‹

      Die Sätze lösen augenblicklich Beklemmungen und Schuldgefühle in mir aus. Turia hat etwas mitbekommen. Etwas, was ich nicht fassen kann. Mir fällt ein, wie sie mir im Traum erschienen ist, was mir beweist, dass wir unabdingbar miteinander verbunden sind. Ein unsichtbares Band, das sich nicht an physikalische Regeln und Gesetze hält. Etwas, was nicht zu hinterfragen ist.

      Turias Nachricht bestand aus mehr, als nur Worten und Warnungen. Dort stand auch Verzweiflung. Sie fleht mich an, zu ihr zu kommen. Sie hat Angst. Das spüre ich ganz deutlich. Es ist eine kalte Angst, die auch mich befallen hat. Ich beginne zu frieren und wähle mit zitternden Händen ihre Nummer.

      Freizeichen. Ich lasse es klingeln, aber niemand geht ran. Ich versuche es erneut. Wieder dasselbe. Das beunruhigt mich, und ich starte weitere Versuche mit demselben Ergebnis. Sie geht nicht ran, und eine Mailbox hat sie nicht eingerichtet. Ich frage mich, warum sie nicht an ihr Handy geht. Sie hat es immer bei sich, sobald sie das Haus verlässt, und auch sonst wacht sie darüber, als ob ihr Leben von diesem Ding abhängen würde. Da muss etwas Gravierendes passiert sein. In Anbetracht der Tatsache, dass ich getötet werden sollte, wundert es mich nicht, dass sie höchstwahrscheinlich in Schwierigkeiten steckt. Vielleicht ist sie in Gesellschaft, die nicht mitbekommen soll, wenn ihr Telefon klingelt. Unser Vater zum Beispiel oder Erik und Turias verkommene Mutter Bente. Aber wieso zum Teufel schreibt sie, dass unser Vater mich als vermisst gemeldet hat? Ich verstehe das alles nicht. Es ist doch paradox, dass ausgerechnet er mich als vermisst meldet, wenn er mich gleichzeitig aus dem Weg räumen will.

      Ich versuche noch einmal anzurufen. Mittlerweile bin ich den Tränen nahe und das Freizeichen hallt in meinem Kopf wider.

      Als ich es nochmals versuche, ertönt eine blecherne Stimme, die mir mitteilt, dass der angerufene Teilnehmer nicht erreichbar ist. Offensichtlich ist der Akku von Turias Handy leer, und wenn ich nicht aufpasse, wird dasselbe mit meinem Handy passieren. Resigniert schalte ich es aus. Ich muss den Akku schonen, bis ich eine Bleibe gefunden habe, wo es Strom gibt.

      An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Ungewissheit treibt mich dazu, meine Sachen in den Rucksack zu werfen und weiterzulaufen. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Was ich getan habe, muss ich immer noch mit mir alleine herumschleppen. Ich weiß, dass es mein Verschulden ist, wenn Turia etwas zugestoßen ist. Es ist alles meine Schuld. Ich habe ihr nie helfen können. Jetzt nicht und damals ... ja, damals habe ich auch nur zugesehen, wenn ihre Mutter sie ... Wenn ich


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