Tiloumio. Maari Skog
selbst entscheiden zu können. Wie Gott darauf reagieren wird, steht in den Sternen. Es wird nur zwei Möglichkeiten geben. Entweder ich finde einen Sinn oder sterbe. So einfach ist das.
Ich starre aus dem Fenster, hinunter auf die Straße und zum Meer, das glatt und grau wie gegossener Beton zwischen den Bergen liegt. Von draußen sind keine Geräusche zu hören, nur das leise Ticken der Küchenuhr dringt an meine Ohren. Es erscheint mir fast ohrenbetäubend, jetzt, wo ich mich beruhigt habe und mein Entschluss, alles hinter mir zu lassen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Mein Herz hämmert schmerzhaft gegen die Rippen, und ein mieses Kribbeln hat sich in meiner Magengegend festgesetzt.
Ein Containerschiff bahnt sich seinen Weg durch den Sund in das offene Meer. Ich sehe dem trägen Koloss dabei zu, wie er langsam aus meinem Blickfeld verschwindet. Wenn ich das Fenster geöffnet hätte, wäre mir das Dröhnen der Schiffsmotoren aufgefallen. Es wäre ein leises, tröstliches Geräusch gewesen.
Ich richte mich auf. Das Kribbeln in meiner Magengegend verwandelt sich in Übelkeit, die ich zu ignorieren versuche. Ich lasse meinen Blick über das Chaos schweifen, das ich in der letzten Stunde verursacht habe. Es wird meinem Vater mit Sicherheit noch lange in Erinnerung bleiben, sobald er wieder da ist. Es geschieht ihm recht.
Die umgeworfenen Möbel, die Scherben des Porzellans auf dem Küchenboden, die aufgeschlitzte Couchgarnitur. All das spiegelt wider, wie es in mir aussieht. Dieses zerrüttete Gefühl kommt einem Erdbeben gleich, und niemand, der nicht dasselbe erlebt hat wie ich, wird es mir nachempfinden können.
Ich schnaube verächtlich, schnappe mir meinen Rucksack und steige über das Chaos. Als ich an der Küchenanrichte vorbeikomme, greife ich nach einem Topf, der in der Spüle liegt, und schleudere ihn mit aller Kraft gegen das Küchenfenster. Es zerbricht mit einem lauten Knall, ein Regen funkelnder Glassplitter fliegt durch die Luft.
»Viel Spaß beim Aufräumen, du feige Sau«, brülle ich ins leere Haus, knalle die Haustür hinter mir zu und werfe den Schlüssel achtlos ins Gras.
Ich brauche ihn nicht mehr.
Erst als ich in meinem Van sitze und die Insel verlassen habe, wird mir bewusst, dass ich über all die Jahre hinweg nur funktioniert und mich insbesondere in den letzten Jahren in einem tauben und desolaten Zustand befunden habe. Es ist mir plötzlich unverständlich, wie die Zeit vergehen konnte, ohne dass ich es gemerkt habe.
Die Arbeit in der Fabrik hatte ich nach dem Wehrdienst wieder aufgenommen, doch sie war mir wie eine Zwangsjacke vorgekommen. Die Frage, ob das nun alles in meinem Leben gewesen sein sollte, keimte immer häufiger auf, bis ich schließlich zu dem Entschluss gekommen war, dass es das Beste ist, sich abzusetzen. Neben der Straße begleitet ein rauschender Bach meine Fahrt gen Osten. Ich halte an und betrachte das Wasser, wie es mit brachialer und rücksichtsloser Gewalt über Felsblöcke schlägt. Mein Leben ist mindestens genauso außer Kontrolle, wie die Wassermassen, die an mir vorüberrauschen. Ich wünsche mir, dass mein Leben mehr einem breiten Flussbett gleicht, das dem Wasser genug Spielraum lässt, um sich entfalten zu können.
An meinem achtzehnten Geburtstag wurde ich mit einer Wahrheit konfrontiert, die mich ins Bodenlose hat stürzen lassen. Nicht, dass mein Leben vorher einfach gewesen wäre, aber das, was ich erfahren musste, hatte den Rahmen des Erträglichen eindeutig gesprengt. Während andere Jugendliche ihre Volljährigkeit feierten, hatte ich erleben müssen, wie es ist, wenn man seiner Identität beraubt wird. Es war ein beschissener Arbeitstag gewesen. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Es hatte wie aus Eimern gegossen, und ich bin völlig durchnässt zu Hause angekommen, wo mich ein unangenehmer Empfang erwartete. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich noch ein Junge im Grundschulalter war und meine Schwester das Ganze noch nicht verstand. Sie war zu jung gewesen. Jedenfalls waren wir bei unserer Mutter geblieben, da unser Vater schon damals regelmäßig sein Geld auf den Trawlern verdiente, die vor Grönland ihr großes Glück in Form eines großen Fanges suchten. Wir waren nur unregelmäßig bei ihm, und trotzdem war die Zeit bei ihm immer schöner gewesen, als in dem unpersönlichen, steril wirkenden Haus, das wir mit unserer Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten Erik bewohnten.
Ich kam also zu Hause an und wurde von meiner Mutter mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht begrüßt. Hinter ihr stand Erik, der keine Miene verzog, und mir einen Koffer vor die Füße stellte.
»Du wirst auf der Stelle mein Haus verlassen. Du bist jetzt volljährig, und deine Mutter wird nicht mehr länger für dich sorgen, du Bastard.«
Seine Worte waren so kalt wie eh und je gewesen. Anders kannte ich das von ihm nicht. Wenn ich meinen Stiefvater beschreiben soll, dann fallen mir nur zwei Worte ein: kalt und zornig. Dasselbe gilt für meine Mutter, die, wie mir später einmal gesagt wurde, gar nicht meine leibliche Mutter ist. Damals war ich so perplex, dass ich nicht verstanden habe, was es mit dem Bastard auf sich hatte. Ich war nicht in der Lage gewesen, nachzufragen und habe es einfach geschehen lassen, als Erik mich am Arm gepackt und vor die Haustür gestoßen hatte. Das Lachen meiner vermeintlichen Mutter begleitete sein Tun und ich hatte es aus Angst und Scham so hingenommen. Wie immer.
Das war der Beginn meiner Odyssee gewesen, in der mein Job und meine winzige Wohnung im Bootshaus die einzigen Konstanten gewesen waren. Meinen Vater hatte ich zu der Zeit gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Ich hasste ihn, und tue es noch. So sehr, dass die Wut in mir einer regelrechten Ohnmacht gleichkommt, sobald ich an ihn denke.
Ein einziges Mal habe ich meinen Mut zusammengenommen und die offene Konfrontation mit ihm gesucht. Aber weil ich mit meinen Beleidigungen und Faustschlägen auf beschämende Weise ins Leere gelaufen war, habe ich keinen weiteren Versuch mehr gestartet.
Ich hätte wissen müssen, dass mein Vater stärker war als ich. Er hielt meine Arme ohne Mühe fest und verwies mich mit seiner nüchternen und verschlossenen Art einfach des Hauses, indem er mich vor die Haustür schob und sie vor meiner Nase zuknallte.
Danach hatte er jedoch mehrere Versuche gestartet, mit mir ins Gespräch zu kommen. Doch ich konnte ihm immer wieder ausweichen, bis auf das eine Mal, wo ich mich betrunken in die Koje meines Bootes gelegt hatte und mein Vater mich zufällig entdeckte, während ich meinen Rausch ausschlief. Er war mit mir aufs offene Meer gefahren, und nachdem ich mich über die Reling gebeugt hatte, um mir die Seele aus dem Leib zu kotzen, war ich gezwungen gewesen, ihm zuzuhören.
Letztendlich hätte er sich die Mühe sparen können. Schließlich wusste ich nach dem Monolog meines Vaters immer noch nicht, wer meine leibliche Mutter war, denn sie hatte sich schon zu Beginn der kurzfristigen Affäre mit falschem Namen ausgegeben, sodass die Suche nach einer Nina Kusavik ergebnislos blieb. Sie hatte mich eines Nachts bei meinem Vater abgegeben und war wortlos verschwunden. Somit war sie zu einer fiktiven Gestalt geworden, die sich, seit mein Vater mir von ihr erzählte, in meine Träume gebrannt hatte. In diesen Träumen jagte ich ihr hinterherher, doch sie verschwand immer wieder in unruhige Schatten.
Ich starte den Motor und setze meine Fahrt fort. Ich werde wohl drei oder vier Tage brauchen, bis ich am Ziel bin. Je nachdem, wie viele Zwischenstopps ich einlege. Ich habe keinen Zeitdruck. Es kommt mir vor, als ob ich in den Urlaub fahre. Eine Zeit, die endlos dauert, oder eben so lange, wie ich es will. Mir ist allerdings klar, dass das meine Finanzen nicht unbegrenzt mitmachen werden, aber darüber will ich mir vorerst keine Gedanken machen. Schließlich habe ich vor, mich für unbestimmte Zeit in der lappländischen Wildnis aufzuhalten, und dort werde ich kein Geld brauchen.
Ich habe niemandem gesagt, wo ich hinfahre und bin mir sicher, dass mich auch niemand vermissen wird. Mein Vater ist wieder auf See und wird erst in ein paar Wochen feststellen, dass sein Haus verwüstet ist. Und meinen Job habe ich gekündigt. Von den Kollegen wird also auch keiner nach mir fragen. Und von dem Rest meiner verrotteten Familie rede ich lieber nicht. Obwohl ... die Einzige, die mein Verschwinden bemerken wird, ist Turia. Ich habe ihr nichts gesagt, weil es mir schwergefallen war. Vor ein paar Tagen bin ich noch mit ihr im Atlantahavspark gewesen, weil sie dort einen jungen Schweinswal aufpäppeln.
Ich konnte es ihr nicht sagen, als sie die Hand in das kalte Becken hielt und der junge Wal darunter hindurchschwamm. Sie wäre mit Sicherheit nicht so unbekümmert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ich fortgehe, obwohl sie meinen Drang, mich in der Wildnis zu