Mein Speck kommt von eurem Dreck!. Imre Kusztrich
Kritische Erkenntnisse bleiben wirkungslos. Ein aus den Cochenilleschildläusen gewonnenes Rot ist mit der Kennzeichnung E 120 als Lebensmittelfarbstoff zugelassen und kommt in Fleischprodukten, Wurst, Geflügelwaren, bei Marinaden, Backwaren, Gebäck, Desserts, Glasuren, Tortenfüllungen, Marmeladen, Konserven, Surimi, Getränken, Fruchtsäften, Sorten von Cheddar-Käse und anderen Milchprodukten, Soßen und Süßigkeiten zum Einsatz. Es kann beim Einatmen Asthma verursachen. Fleisch für Hack kann mit Ammoniakgas behandelt sein. Eine Scheibe Käse kann an die 300 Milligramm Salz enthalten. Von Sulfiten in jeder Kombination kann ebenfalls eine Asthmareaktion ausgehen, während sich MSG, Mononatriumglutamat, vielleicht durch ein Brennen im Nacken meldet. Mit Lachgas, Distickstoffoxid, wird geschlagene Sahne luftiger. Der als bedenklich und gefährlich eingestufte gelbe-orange Farbstoff Tartrazin aus Steinkohleteer war schon 1991 verboten, ist im Zuge der EU-Angleichung wieder erlaubt, und obwohl Kindern Hyperaktivität droht, wird diese Substanz mit der Kennnummer E102 in Pudding, Senf und Käserinde verwendet.
Niemand kann alle Belastungen im Blick haben. Nur der Gesetzgeber könnte wirksam helfen, doch er bewegt sich nicht. Allein bei der Herstellung von einer einfachen Alltagsnahrung wie Brot dürfen Hunderte Enzyme mit chemischen Wirkungen zum Einsatz kommen. Sie bestimmen Eigenschaften wie die Größe der Luftblasen oder den Grad der Bräunung. Manche Brote sind Süßwaren. Auf ihren Etiketten stehen hintereinander Invertzuckersirup, Karamellsirup.
Welche Effekte sie in unserem Körper haben, wo in jeder Millisekunde in jeder einzelnen Zelle Abertausende eigene chemische Prozesse laufen, wurde nie geprüft. Auch sie müssen nicht einmal deklariert und über sie muss nicht informiert werden.
Die Nahrungsproduzenten lassen sich nicht in die Karten schauen. Was hinter dem Rücken ahnungsloser Konsumenten wahrscheinlich mit unserem Essen geschieht, lässt aber ein Beispiel aus der Textilbranche erahnen. Sie hat keine Geheimnisse. Raten Sie einmal, wie viele Chemikalien bei der einfachen Umwandlung von Fasern der Baumwollpflanze in gebrauchsfertige Fäden eingesetzt werden. 50? 200? Nein, 7.000 Substanzen! Und bei raffiniert-komplexen Nahrungsmitteln sollen es weniger sein?
Im Februar 2019 warnte die „American Medical Association“ in ihrem Journal „JAMA“: Hochprozessierte Fertiggerichte erhöhen die Sterblichkeit aus allen Gründen um 14 Prozent, ebenso Fettleibigkeit und Krebs. Es geht um legales Essen in jedem Supermarkt. Und die Politik in Deutschland? Sie räumt der Wirtschaft eine Schonfrist bis 2025 ein, freiwillig Salz, Zucker und Fette zu reduzieren.
Nahrungsproduzenten und Medikamentenhersteller kassieren doppelt, während Millionen Menschen immer dicker werden. Auch mit Nahrungsmitteln für Menschen unter Abnehmdruck lassen sich Milliardenumsätze erzielen. Ebenso mit Medikamenten. Je mehr Diskriminierung, umso mehr Profit. Gleich dahinter kommen die Medieninhaber und Buchautoren.Die Gewinner werden keinen Millimeter weichen.
Dicke sind auch Gefangene der Evolution. Unser Körper ist Jäger und Sammler. Wir verfügen über eine unbegrenzte Speichervorrichtung für Treibstoff. Für die Aufnahme von Energieüberschuss kann sich jede einzelne Fettzelle um mehr als das Hundertfache ihrer Größe ausdehnen. Gleichzeitig fehlt, was jedes moderne Auto hat: eine Füllstandsanzeige für den Energievorrat und eine aktuelle Verbrauchsmessung.
Mit fünf biologischen Prozessen wehrt sich der Organismus, einmal gespeichertes Fett abzugeben. Beispielsweise wird der Ruheenergiebedarf für Atmung, Blutkreislauf und Wärmeregulierung verringert. Umso mehr verzehrte Kalorien verbleiben unverwendet und können im Fettgewebe gespeichert werden [5]. Auch ein Hungergefühl wirkt gewichtsfördernd, weil es für Nachschub sorgt.
Unser Organismus mag Fett
Wir sehen eine paradoxe Situation. Unser Körper mag Fett, kein Zweifel. Unsere Fettzellen dürfen sich bis zum Platzen füllen. Und unsere Fettgewebe dürfen sich ausdehnen bis zum Geht-nicht-mehr. Dem steht eine dem Bauchspeck sehr kritisch eingestellte Gesellschaft gegenüber. Körperfett wird seit 50 Jahren verteufelt. Fettleibige werden als Mitmenschen gesehen, die ihr Dicksein selbst herbeiführen, ohne Gegenwehr zulassen und schicksalshaft hinnehmen.
Diese Einstellung ist ein Produkt aus Missverständnis, Lüge und Unkenntnis. Die Mehrzahl der Menschen glaubt zum Beispiel tatsächlich, die Nahrungsfette auf dem Kuchenteller, auf der Scheibe Brot oder im Schweinebraten sind identisch mit dem Inhalt unserer Fettzellen.
Das ist ein Trugschluss. Körperfett ist stets ein bewusst im Organismus verarbeiteter Überschuss, der unabhängig von der Nahrungsquelle, aus der er stammt, stets in Form von Fett gespeichert wird. Es ist jene Reserve, die unser auf Vermeidung von Verschwendung getrimmter Organismus aus unverbrauchten Kalorien selbst herstellt. Egal ob eine Portion Pizza zu viel, ein Glas Bier über dem Bedarf oder ein harmloser überflüssiger Apfel zu einem Zeitpunkt, in dem der Körper weitere Energien nicht braucht … was am Ende des Tages übrig bleibt, wird umformatiert und in den Fettgeweben und in der Leber in Form von Fettmolekülen aufbewahrt.
Ja, wir erzeugen ein bisschen Fett ebenfalls aus verzehrtem Fett. Aber wir erzeugen sehr viel mehr Fett aus Nicht-Fett. Wer sich das nicht vorstellen kann, muss sich nur fragen, wie ein Mastschwein zu seiner Fettschicht kommt. Bestimmt nicht, weil es mit Fett gefüttert wird. Oder wie gewinnt eine Avocado ihren Ölgehalt? Eine Olive? Pflanzen ziehen ihre Fettsubstanzen nicht durch die Wurzeln aus dem Erdreich. Auch sie produzieren ihr Öl maßgeschneidert selbst. Alle legen auch Speicher an. Der krautige Raps beispielsweise sammelt es in den Samenkörnern.
Übergewicht ist das Gesundheitsproblem Nummer 1. Ernährungsberater berichten von Kunden, die den ganzen Tag hungern und abends über den Kühlschrank herfallen. Oder sich nur 1.000 Kalorien gönnen, fünf Mal in der Woche im Fitnessstudio rackern und von ihrem Umfeld dennoch als willensschwach abgestempelt werden.
Kluge Menschen haben über die Rolle von Dicksein im Schicksal von Frauen nachgedacht. Das Ratgeberbuch „Fett ist ein Anliegen von Feministinnen“ (Fat Is A Feminist Issue) der britischen Psychoanalytikerin Susie Orbach lenkte 1978 das Interesse auf sehr komplexe Thesen. Eine lautet: Zwanghaftes Essen ist ein Werkzeug der Frau zur Vermeidung, sich als attraktive Frau zu vermarkten. Eine Frau, die sich schlank hungern würde, so wie sie von den männlichen Kollegen gesehen werden möchte, erlebte womöglich mehr freche Schlüpfrigkeit. Deshalb lässt sie es intuitiv sein. Andere wollen sich durch Übergewicht vielleicht desexualiseren. Sie weichen der Konkurrenz mit anderen Frauen aus.
Je mehr Rechte Frauen sich erkämpften, umso kritischer wurde der Blick auf den weiblichen Körper. Die Ungleichheit der Geschlechter führt zur hohen Zahl auf der Waage. „Fett drückt die Rebellion gegen die Wehrlosigkeit einer Frau aus“, urteilte die Autorin Susie Orbach 40 Jahre vor der #metoo-Bewegung. Vier von zehn Dicken, weibliche wie männliche, erleben im Alltag Ablehnung in krasser Form – der größte Wert unter allen Minderheiten. Das ist ein Ergebnis aus den U.S.A.
Bei uns ist das Stigma der Korpulenz noch größer. 71 Prozent der Erwachsenen finden Fettleibige sogar unästhetisch. Schon bei Mitmenschen, die ganz einfach nur dick sind, denken 38 Prozent ebenfalls so (Quelle: DAK-Gesundheit). Die große deutsche Krankenkasse DAK drängt mit Plakaten ihre 5,9 Millionen Mitglieder zur Vernunft: „Der Shaming-Quatsch macht krank“.
Beim Phänomen Body Shaming werden Menschen wegen ihres Aussehens beschämt. Fat Shaming richtet sich gegen die sichtbaren Fettpartien. Fettscham hat viele Gesichter. Eines beschrieb „BILD“ am 6. Juni 2020 so: „Hotel lässt keine dicken Gäste rein“. Es ging um die umstrittene Entscheidung eines Beachhotels in Cuxhaven, Niedersachsen. „Aus Haftungsgründen weisen wir darauf hin, dass das Interieur für Menschen mit einem Körpergewicht von mehr als 130 kg nicht geeignet ist.“ Designermöbel wichtiger als Menschen mit einem schweren Körper.
Eine Diskriminierung wegen des Gewichts beschädigt das Selbstbild vom eigenen Körper, verringert das Wohlgefühl und erhöht das Risiko für Depression. Auch ein gestörtes Essverhalten und ein Rückzug in die eigene Welt sind typisch. Eine Kettenreaktion. Dass die veröffentlichte Meinung Fettleibigkeit verunglimpft und verurteilt, wird sozial akzeptiert. Aber auch Institutionen des Gesundheitswesens, die Politik, Ärztinnen und Ärzte verstärken