Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Ernst Heimes
Ausstellung über Kriegsgefangenenlager organisiert hatte. Dieser wiederum antwortete auf mein Schreiben nicht. Die Fotokopien waren Ablichtungen aus einer Publikation über das Lager Hinzert von Marcel Engel und André Hohengarten. Zum ersten Mal las ich eine überregionale Veröffentlichung, in der mehrmals vom Lager Cochem die Rede war. Es hieß darin, am 5. März 1944 sei ein Arbeitskommando von N.N.-Franzosen aus Natzweiler dort hin geschickt worden. Zu diesem Konvoi habe auch der elsässische Journalist Aimé Spitz aus Sélestat gehört. Die Franzosen seien nach vier Wochen wieder abgezogen und durch Polen und Russen ersetzt worden. In dieser Zeit seien 37 Häftlinge ums Leben gekommen. Im Juli 1944 sei eine Gruppe Hinzerter Häftlinge nach Cochem gekommen. Einer von ihnen habe sich an die besonders mühselige Arbeit von Cochem-Treis erinnert. Durch intensive Bombardierung sei der Fortgang der Arbeiten in Cochem verhindert worden.
Weitere Anfragen und die Bitte, mir bei meinen Nachforschungen behilflich zu sein, schickte ich an die Jüdische Kultusgemeinde Koblenz, an die beiden Verbandsgemeindeverwaltungen Treis-Karden und Cochem-Land, sowie an die Gemeindeverwaltung Natzweiler im Elsass. Denn auch das war aus den Publikationen über Hinzert klar geworden: Cochem war ein Außenkommando des großen Konzentrationslagers Natzweiler im Elsass gewesen.
Die Gemeinde Natzweiler leitete mein Schreiben weiter an das SECRETARIAT D’ÉTAT AUPRÈS DU MINISTRE DE LA DÉFENSE CHARGÉ DES ANCIENS COMBATTANTS nach Straßburg. Von dort antwortete der Directeur Adjoint charge línteri, Monsieur J.C. Fournel wie folgt:
Durch Ihren Brief informieren Sie mich (…), dass Sie sich freuen würden, jedes Dokument zu erhalten, mit dem ich Ihre Arbeit unterstützen könnte. Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass dergleichen Dokumente, die sich mit dem Arbeitslager Cochem beschäftigen, nicht in meinem Besitz befinden. Im Übrigen ist der größte Teil der Dokumente, die wir besessen haben, bei einer Brandstiftung verschwunden, die das ganze Museum des Ex-Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof 1976 zerstört hat. So bin ich leider nicht in der Lage, zu Ihrer Zufriedenheit auf Ihre Anfrage zu antworten.
Für die Verbandsgemeindeverwaltung Cochem-Land antwortete der 1. Beigeordnete Probst, dass bei ihrer Verwaltung keine Dokumente über das während des Krieges in Bruttig geführte Außenlager eines Konzentrationslagers geführt würden. Die gewünschten Informationen könnten allenfalls über das Landes- und das Bundesarchiv beziehungsweise über noch lebende ältere Einwohner von Bruttig gegeben werden.
Im Antwortschreiben der Verbandsgemeindeverwaltung Treis-Karden hieß es: Unter Bezugnahme auf Ihr vorgenanntes Schreiben teilen wir Ihnen mit, dass sich in unseren Akten keine Unterlagen über das von Ihnen angesprochene Außenlager befinden. Das Gebäude der Verbandsgemeinde Treis-Karden wurde beim Einmarsch der amerikanischen Streitkräfte im März 1945 durch Brand zerstört. Dabei wurden sämtliche Akten vernichtet. Uns ist auch keine Stelle bekannt, wo Sie evtl. Informationen über das Außenlager erhalten könnten. Unterzeichnet: Esper, Bürgermeister.
Natürlich war ich enttäuscht über die kargen Informationen in den Antwortschreiben, hatte ich doch die Hoffnung gehabt, wenigstens in kleinen Schritten weiter zu kommen. Aber nichts. Die Antworten waren kühl und knapp, sachlich. Worüber ich mir damals kein Urteil bilden konnte, war der Wahrheitsgehalt der Briefe.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass diesbezüglich zumindest an dem Schreiben des Bürgermeisters Esper gezweifelt werden darf. Denn erstens existieren, entgegen Espers Behauptung, Akten im Zusammenhang mit dem Außenlager beim Standesamt Treis-Karden. Das werde ich später noch ausführlich beschreiben. Demnach kann es zweitens auch nicht stimmen, dass bei dem Brand 1945 sämtliche Akten vernichtet wurden. Falsch sei auch die Behauptung, so hat mir später eine Treiser Bürgerin versichert, dass das Gemeindehaus beim Einmarsch der amerikanischen Streitkräfte zerstört worden sei. Tatsächlich habe es kurz danach plötzlich in Flammen gestanden. Ein kleiner, aber womöglich entscheidender Unterschied. Denn Espers Aussage legt nahe, dass das Verwaltungsgebäude aufgrund von Kriegshandlungen zerstört wurde, was tatsächlich jedoch nicht der Fall war. Gab es etwa Akten, die man lieber nicht den Amis in die Hände fallen lassen wollte? Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage, wodurch das Haus tatsächlich in Brand geriet, jemals endgültig geklärt wurde.
Zwei Tage später hielt ich die Antwort der Jüdischen Kultusgemeinde Koblenz in den Händen: In Beantwortung Ihres Schreibens, stand da, bezüglich des ehemaligen Tunnels zwischen Treis und Bruttig, teilen wir Ihnen folgendes mit: Es war bekannt, dass in dem Tunnel Strafgefangene zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, die aber nichts mit der damals durchgeführten Maßnahme, die der jüdischen Bevölkerung galt, gemein hatte, also kein Verbrechen im Rahmen der Judenverfolgung darstellte. Deshalb ist es verständlich, dass wir weder eine Dokumentation noch sonst eine erschöpfende Auskunft darüber geben können.
Nachdem ich kurz den Grund meines Interesses an den Akten des Landeshauptarchivs dargelegt hatte, wurde mir dort ein Sachbearbeiter zugeteilt. Als Grund gab ich an, eine Publikation zum Thema KZ-Außenkommando Cochem verfassen zu wollen. Ich hatte aber tatsächlich selbst noch keine Ahnung über Form und Umfang einer solchen Arbeit, machte mir jedoch von da an ernsthaft Gedanken über eine mögliche Veröffentlichung, vorausgesetzt, es würde genug verwertbares Material zu finden sein.
Der Sachbearbeiter hörte sich ruhig meine Erläuterungen an und nahm mir dann jede Illusion, dass in den Aktenschränken des Hauses brauchbare Unterlagen archiviert seien. Dennoch legte er mir, nachdem er für eine Viertelstunde verschwunden war, einen beachtlichen Aktenberg auf den Tisch.
»Die können Sie sich einmal ansehen.«
Ich wälzte mich einen ganzen Nachmittag durch den Aktenberg und fand nichts, was zu meinem Thema passte. Kurz vor Feierabend, kam der Sachbearbeiter noch einmal auf mich zu: »Da habe ich was für Sie gefunden«, sagte er. »Es geht in diesem Vorgang, um eine Landschenkung der Gemeinde Treis an das Deutsche Reich. Der Vorgang stammt aus den Jahren 1939 und 1940. Es könnte sich hierbei um das Gelände handeln, auf dem später das Lager entstanden ist.«
Wie er das aus den drei Briefen, die er mir dann vorlegte, schließen konnte, war und blieb mir rätselhaft. Der Vorgang bestand aus einem Schreiben des Amtsbürgermeisters von Treis an den Landrat in Cochem vom 28. Oktober 1939, einem Schreiben des Landrates an den Amtsbürgermeister vom 29. November 1939, sowie einem Antwortschreiben an den Landrat vom 8. November 1940.
Ich hatte die Briefe kurz überflogen und fragte mich, warum der Sachbearbeiter annahm, es könne sich bei der Schenkung, über deren Genehmigung in den Briefen verhandelt wurde, um den Grund und Boden handeln, auf dem später das KZ errichtet wurde. Im ersten Schreiben war zu lesen, dass die in der Anlage näher bezeichneten Parzellen zum Zweck der Verbreiterung einer Reichsstraße kostenlos abgegeben werden sollten. Die dazugehörige Anlage war allerdings verschollen. Dennoch ließ ich mir die Schriftstücke fotokopieren. Vielleicht hatte ich ja noch nicht den Spürsinn entwickelt, der nötig war, um solche Dokumente lesen und richtig interpretieren zu können. Mit brummendem Schädel verließ ich den Benutzersaal des Landeshauptarchivs durch den Hinterausgang.
»Hier vorne ist schon zu«, hatte der Pförtner gesagt, »ich schließe Ihnen hinten auf.«
Ich fand bis heute keinen Hinweis darauf, dass die Treiser Landschenkung an das Deutsche Reich mit der späteren Entstehung des KZ-Außenlagers in Verbindung stand.
Helmut E. stammt aus Ernst. Ich hatte ihm von meinem Besuch im Landeshauptarchiv und dem dort archivierten Briefwechsel erzählt.
»Die rücken doch nichts raus«, sagte er sicher.
»Was weißt du denn über das Lager?«
»Die Ernster und die Bruttiger, die hatten es noch nie so recht miteinander. Die wischen sich gern gegenseitig eins aus, wie das bei Nachbardörfern eben so ist. Na ja, ich bin eben ein Ernster. Ich glaube, dass du von uns über den Tunnel und das KZ mehr erfahren kannst, als von den Bruttigern. Die Ernster haben damals zwar alles mitbekommen, waren aber nicht direkt betroffen. Die meinen, sie träfe keine Schuld, weil sie ja auf der anderen Moselseite wohnten, und die Brücke gab es ja damals noch nicht. Die erzählen auch heute noch davon. Mein Vater zum Beispiel, der war damals sechzehn, siebzehn Jahre alt. Der hat kürzlich noch erzählt, wie in Bruttig die Leute