Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Udo Rauchfleisch

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Udo Rauchfleisch


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wichtige Rolle. In Kapitel 4. werde ich aufzeigen, dass diese virtuelle Welt für sie Segen und Fluch zugleich ist (image Kap. 4).

      Im Alltag treffen wir in Kindertagesstätten und Schulen, in den Familien und in den verschiedenen anderen Kontexten zwar zumeist mit psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen mit homosexuellen Orientierungen und Transgeschlechtlichkeit zusammen. Die in therapeutischen Berufen Arbeitenden haben es jedoch häufig mit einem anderen Segment, nämlich mit Heranwachsenden mit psychischen Störungen der verschiedensten Art und Ätiologie zu tun. Die bei diesen Kindern und Jugendlichen einzusetzenden therapeutischen Interventionen werde ich in Kapitel 5. darstellen. Dabei werde ich die Voraussetzungen diskutieren, die für konstruktive therapeutische Interventionen bei ihnen notwendig sind, werde auf die Behandlung von Heranwachsenden mit psychischen Störungen im engeren Sinne eingehen und werde darstellen, wie wichtig es gerade bei diesen Heranwachsenden ist, ein breiteres Umfeld mit in die Behandlung und Begleitung einzubeziehen (image Kap. 5). Zu den therapeutischen Interventionen gehören schließlich auch die Suche und Aktivierung von Ressourcen und Resilienzfaktoren.

      Die kindliche Entwicklung mündet in die Adoleszenz und das Erwachsenenleben. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob und wie es Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit von der Majorität abweichenden sexuellen Orientierungen und Identitäten gelingen kann, ein befriedigendes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Es geht dabei um Selbstakzeptanz und das, was auch als Gay- und Transpride, als Stolz auf die eigene Orientierung und Geschlechtlichkeit, bezeichnet wird (image Kap. 6).

      Das vorliegende Buch richtet sich nicht nur an Fachleute aus therapeutischen und pädagogischen Berufen. Es möchte daneben auch Eltern, junge Erwachsene und generell Menschen erreichen, die sich mit den Fragen nach den sexuellen Orientierungen und nach dem Wesen der Geschlechtsentwicklung auseinandersetzen wollen. Vielleicht regt es auch zu fruchtbaren Diskussionen zwischen den Generationen an.

Basel, im Sommer 2020Udo Rauchfleisch

      1.1 Die Ausgangslage

      Die Fragen nach dem »Wie« und »Warum« sind Fragen, die bei den verschiedensten Themen nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs prägen, sondern die auch in privaten Gesprächen und in den Medien immer wieder auftauchen. Interessant – und für das Thema dieses Buches wichtig – ist dabei, dass diese Fragen im Allgemeinen nur bei den Themen gestellt werden, die ungewöhnlich oder fremdartig erscheinen. Bei Themen und Phänomenen hingegen, die als »selbstverständlich« betrachtet werden, tauchen Fragen nach dem »Wie« und »Warum« praktisch nicht auf.

      Im Hinblick auf die Geschlechtsentwicklung und die sexuellen Orientierungen bedeutet dies, dass die Entwicklung der Cisgeschlechtlichkeit, d. h. der Nicht-Transgeschlechtlichkeit (s. u.), und der Heterosexualitäten im Allgemeinen auch im wissenschaftlichen Bereich nicht diskutiert werden. Sie werden in unserer von der Cis- und der Heteronormativität geprägten Gesellschaft als »normal« und »selbstverständlich« betrachtet, und es finden sich dazu auch keine Forschungsbefunde. Hingegen sind die davon abweichenden Entwicklungen wie die Transgeschlechtlichkeit und die Homo- und Bisexualitäten Gegenstand vieler Untersuchungen und werden zum Teil sehr kontrovers diskutiert.

      Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen liegt es nahe, sich Gedanken über die Entwicklung dieser Phänomene zu machen. In diesem Fall müssen wir jedoch das ganze Spektrum ins Auge fassen, d. h. wir müssen die Cis- ebenso wie die Transgeschlechtlichkeiten und die Homo- und Bisexualitäten ebenso wie die Heterosexualitäten berücksichtigen.

      An diesem Punkt der Diskussion sehen wir uns unverhofft mit einem Problem konfrontiert: Wie erwähnt, sind zwar verschiedene Theorien und Hypothesen zur Entwicklung der Transgeschlechtlichkeit und der Homo- und Bisexualitäten entwickelt worden. Die Fragen nach dem »Wie« und »Warum« der Cisgeschlechtlichkeit und der Heterosexualitäten sind jedoch ein weißer Fleck auf der wissenschaftlichen Landkarte. Es ist deshalb notwendig, aus den uns vorliegenden Hypothesen aus verschiedenen Wissenschaftszweigen die wichtigsten und am plausibelsten erscheinenden Aspekte herauszudestillieren und auf dieser Grundlage ein mehr oder weniger konsistentes Konzept zu formulieren.

      Mit dieser vorsichtigen Formulierung möchte ich darauf hinweisen, dass uns über die Entwicklung der Geschlechtlichkeit und der sexuellen Orientierungen keine wirklich verlässlichen, evidenzbasierten Befunde vorliegen. Wir bewegen uns hier lediglich auf dem Terrain von Hypothesen. Ich beziehe mich im Folgenden unter anderem auf die Konzepte von Stoller (1968), Reiche (1997), Mertens (1992) und Ermann (2019) sowie auf verschiedene eigene Publikationen (2011, 2016, 2019a, 2019b).

      1.2 Zur verwendeten Terminologie

      Es ist den Kritiker*innen zuzustimmen, die bemängeln, dass der Identitätsbegriff mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. So weichen die Identitätskonzepte, wie sie in der Philosophie, in der Mathematik, im rechtlichen Kontext und in der Psychologie (als Ich-Identität) verwendet werden, erheblich voneinander ab (Benedetti & Wiesmann, 1986). Zudem ist die Identität auch im psychologischen Bereich keine klar umrissene Persönlichkeitseigenschaft, zumal sie von verschiedenen Autor*innen unterschiedlich definiert wird. Sie weist vielmehr einen prozesshaften Charakter auf und kann aus diesem Grund weniger eindeutig beschrieben werden.

      Eine Konsequenz dieser zum Teil erheblich voneinander abweichenden Bedeutungen des Identitätsbegriffs ist, dass die interdisziplinäre Kommunikation darunter leidet. Ein aktuelles politisches Beispiel ist der – bedauerliche – Entscheid des Schweizer Bundesrats (aus dem Jahr 2019), Menschen mit Transgeschlechtlichkeit nicht in das neue Antidiskriminierungsgesetz aufzunehmen, da es bei ihnen um die Identität gehe, die aber nicht eindeutig definierbar sei.

      Im Vorwort der Publikation einer interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Basel zum Thema Identität unterscheidet Benedetti (1986, S. 7) bei der Ich-Identität eine vertikale und eine horizontale Linie.

      »Auf der vertikalen Linie findet Ich-Identität als Integration von entwicklungsbedingten Ich-Zuständen statt, die im unbewussten und bewussten Gefühl des Selbst, des Person-Seins verdichtet werden und manchmal in herausfordernden lebensgeschichtlichen Momenten in die helle Erkenntnis münden: ›Das bin ich!’ ›Das will ich sein!’«

      Auf der horizontalen Linie der Ich-Identität werden »verschiedene, auch gleichzeitige soziale Rollen im einheitlichen Selbstgefühl und im Bild, das die Sozietät von uns entwirft, integriert. Diese horizontale Linie verbürgt die Befriedigung der Ansprüche verschiedener Rollen, in denen die Person sich erfüllt« (Benedetti, 1986, S. 7).

      Einen wesentlichen Beitrag in der psychologischen Auseinandersetzung


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