Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Udo Rauchfleisch

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Udo Rauchfleisch


Скачать книгу
zu fühlen und sich dabei zugleich als einmaliges Individuum zu wissen. Es ist das, was Kohut (1973) als »Selbst« bezeichnet hat, als Kern unserer Persönlichkeit, der durch die Interaktion zwischen Eltern und Kind geformt wird. In einem ähnlichen Sinne spricht Mead (1968) davon, dass die Bildung der Identität von den sozialen Interaktionen über Sprache und andere Mittel der Kommunikation abhängt.

      Wie diese Umschreibungen der Ich-Identität zeigen, besteht trotz etlicher Divergenzen zwischen den verschiedenen Sichtweisen der Autor*innen insofern doch Einigkeit, dass die von Benedetti (1986) beschriebene vertikale (psychologische) und die horizontale (soziale) Dimension in enger Wechselwirkung miteinander stehen. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar.

      Das Resultat dieser Interaktion ist die Ich-Identität, in der sich die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenfügen und dem Individuum trotz aller Veränderungen im Verlauf des Lebens das Gefühl der Kohärenz und Konsistenz in Bezug auf die eigene Person vermitteln. Bei der Entstehung der Ich-Identität ist die erwähnte Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seinen Bezugspersonen von zentraler Bedeutung. Es ist das dialogische Prinzip, das der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1936) mit dem Hinweis umschrieben hat, dass wir am Du zum Ich werden.

      Kritik am Identitätsbegriff ist von verschiedenen Seiten formuliert worden. Es sind vor allem Autor*innen, die eine somatische Ätiologie der Entwicklung von cis, trans und anderen Formen der Geschlechtlichkeit postulieren. Nach ihrer Ansicht ist der Begriff »Identität« zu schwammig, ihm fehle die Evidenzbasierung, und er ist ihnen zu stark mit Pathologiekonzepten assoziiert. Zu dieser negativen Konnotation hat wesentlich die ICD-Formulierung »Störungen der Geschlechtsidentität« mit der darunter subsumierten Diagnose »Transsexualismus« beigetragen. Kritische Äußerungen dieser Art kommen zum Teil auch aus der LGBTIQ*-Community.

      Aus diesem Grund ist der Transsexualismus aus neurowissenschaftlicher Perspektive als eine Form hirngeschlechtlicher Intersexualität, als »neurointersexuelle Körperdiskrepanz« (Diamond, 2006, 2016; Haupt, 2016), beschrieben worden. In einer neueren Arbeit hat Haupt (2019) diese Auffassung weiter differenziert und sich von der Bezeichnung der Neurointersexualität distanziert. Die Autorin verwendet nun den allgemeineren Begriff der »Geschlechtsentwicklung«, wobei sie vier Varianten unterscheidet:

      • (überwiegend) männliche Varianten (frühere Begriffe: Transmänner, Frau-zu-Mann, transsexuelle Männer, männliche Transgender usw.),

      • (überwiegend) weibliche Varianten (frühere Begriffe: Transfrauen, Mann-zu-Frau, transsexuelle Frauen, weibliche Transgender usw.),

      • alternierende Varianten (frühere Begriffe: Bigender, Gender fluid, partiell Cross Dresser usw.),

      • gemischt-manifeste Varianten (Früherer Begriff: non binär).

      Mit diesem Konzept möchte die Autorin die bisher weit verbreiteten Pathologiekonzepte vermeiden und an die für die Betreffenden selbst relevante subjektive Phänomenologie anknüpfen. Der Vorteil des Begriffs der »Geschlechtsentwicklung« ist, dass er sich außerhalb der Pathologiekonzepte bewegt.

      Bei der Arbeit an diesem Buch war ich zur Überzeugung gekommen, es sei günstig, diesen vorurteilsfreien Begriff der »Varianten der Geschlechtsentwicklung« zu übernehmen. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich nun aber doch entschlossen, diesen Begriff nicht zu verwenden, da er schon für ein anderes Phänomen, nämlich für Menschen mit Intergeschlechtlichkeit, vergeben ist (Deutsche Gesellschaft für Urologie, 2016). Ihn hier in einem anderen Sinne zu verwenden, würde unweigerlich zu Konfusionen geführt haben.

      Auf der Suche nach einem anderen Begriff, der möglichst vorurteilsfrei ist und sowohl die körperliche als auch die psychische Dimension berücksichtigt, bin ich auf den Begriff der »Transgeschlechtlichkeit« gestoßen, der immer wieder in der Diskussion um »Transsexualismus«, »Transgender«, »Transidentität«, »genderqueer« etc. auftaucht. Ich werde ihn deshalb in diesem Buch verwenden, weil er mir am besten geeignet erscheint, darauf hinzuweisen, dass das Phänomen »Trans« die Person als Ganze, körperlich wie psychisch, betrifft.

      Gleichwohl werde ich in diesem Buch neben dem Begriff der Transgeschlechtlichkeit auch den der Identität verwenden. Im Sinne der erwähnten körperlich-seelischen Ganzheit stellen diese Begriffe für mich keinen Widerspruch dar. Vielmehr betrachte ich sie als zwei Aspekte desselben Phänomens, wobei einmal die psychologische Ebene (Identität) und einmal die somatische Ebene (Geschlechtlichkeit) thematisiert wird.

      Wie meine Ausführungen über die verschiedenen Konzepte der Identität gezeigt haben, ist auch dieser Begriff, ebenso wie der der Transgeschlechtlichkeit, im Grunde wertfrei und nicht vorurteilsbeladen. Er hat seine negative Konnotation erst durch die ICD-Diagnose der »Störung der Geschlechtsidentität« (F 64.0) erhalten. Im Folgenden verwende ich »Identität« hingegen im Sinne der zitierten psychologischen Autor*innen, die von der Ich-Identität sprechen, die den Kern unserer Persönlichkeit, das Selbst, bildet und zu Kohärenz und Konsistenz der Persönlichkeit führt.

      1.3 Ein Modell der Geschlechtsentwicklung und der Entwicklung der sexuellen Orientierungen

      Mit Ermann (Ermann, 2019) können wir die Geschlechtsentwicklung und die Ausbildung der sexuellen Orientierungen als einen stufenweisen Entwicklungsprozess verstehen. An seinem Ursprung steht die Protogeschlechtsidentität (Reiche, 1997) als eine schon von Geburt an bestehende »unbestimmte Ahnung der Geschlechtlichkeit« (Ermann, 2019, S. 15), eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen.

      Im Grunde ist bei diesem Begriff der zweite Teil des Wortes, »Identität«, meines Erachtens überflüssig und in Anbetracht der oben diskutierten terminologischen Probleme irreführend. Es geht hierbei ja nicht um einen Identitätsanteil im psychologischen Sinne, sondern, wie Ermann (2019, S. 15) es beschreibt, um eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen und, so müssen wir wohl ergänzen: sexuell zu sein. Aus diesem Grunde erscheint es mir besser und zutreffender, von »Protogeschlechtlichkeit « zu sprechen.

      Eine solche Sicht steht auch in weitgehender Übereinstimmung mit den oben zitierten neurowissenschaftlichen Ansätzen (vgl. Haupt, 2019). Ich werde im Folgenden deshalb diesen Begriff verwenden. Worauf die Protogeschlechtlichkeit beruht, ist nach Ermann (2019, S. 15) bis heute nicht sicher bekannt. Es kommen genetische, hormonelle und hirnorganische Determinanten in Betracht sowie unbekannte psychologische und soziale Einwirkungen, die bereits in die vorgeburtliche Zeit zurückreichen.

      Auf der Grundlage der Protogeschlechtlichkeit baut sich im Verlauf der Entwicklung das auf, was wir mit Mertens (1992) als »Bausteine« der sexuellen Identität bezeichnen können. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit »Identität« hier eine Kerndimension der Persönlichkeit gemeint ist, die dem Individuum das Erleben von Kohärenz und Konsistenz vermittelt.

      Eine zentrale Dimension dabei ist die sexuelle Kernidentität (core gender identity),

      »das primordiale, bewusste und unbewusste Erleben (…), entweder ein Junge oder ein Mädchen bezüglich seines biologischen Geschlechts (im Englischen »sex« im Unterschied zu »gender«) zu sein. Sie entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und psychischen Einflüssen ab der Geburt des Kindes, wenn die Eltern mit ihrer Geschlechtszuweisung zumeist geschlechtsrollenstereotyp auf ihre Kinder als Junge oder Mädchen reagieren, und ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres als (relativ) konfliktfreie Gewissheit etabliert« (Mertens, 1992, S. 24).

      Dieses Konzept von der sexuellen Kernidentität bedarf indes aus meiner Sicht einer Ergänzung: Die Formulierung, das Kind sei sich früh der Tatsache gewiss, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, ist von der in unserer Gesellschaft herrschenden Vorstellung von der Binarität der Geschlechter geprägt. Tatsächlich jedoch müssen wir auch innerhalb der sexuellen Kernidentität sicher von einem größeren Spektrum von Varianten der Geschlechtsentwicklung ausgehen, z. B. genderqueer, agender, gender-fluid etc.

      Im Hinblick auf die Entwicklung von Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit habe ich in meiner inzwischen 50-jährigen Beschäftigung mit diesem Thema und der Begutachtung, Therapie und Begleitung von trans Menschen diverse


Скачать книгу