Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Udo Rauchfleisch

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Udo Rauchfleisch


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erwiesen (Literatur s. Rauchfleisch, 2016). Diese Hypothesen haben eher zur Stigmatisierung und Pathologisierung von trans Menschen geführt.

      Einen weiteren »Baustein« der sexuellen Identität stellen die Geschlechtsrollen dar (Geschlechtsrollen-Identität, gender role identity). Sie zeichnen sich durch ein höheres symbolisch-sprachliches Niveau aus und bilden das »Insgesamt der Erwartungen an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners bezüglich des jeweiligen Geschlechts« (Mertens, 1992, S. 47). Es sind mehrheitlich Inhalte aus der frühen Sozialisation, die bewusstseinsfähig sind und vor allem von kulturspezifischen Vorschriften und Normen darüber bestimmt werden, was im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht als »männlich« oder »weiblich« erwünscht oder unerwünscht ist.

      Trotz mancher Veränderungen in den Geschlechtsrollen werden diese in unserer Gesellschaft nach wie vor zumeist dichotom gedacht. Bei einer differenzierten Betrachtung der Geschlechtsentwicklung müssen wir jedoch auch bezüglich der Geschlechtsrollen-Identität von einer Vielfalt an Varianten ausgehen.

      Die dritte Komponente der sexuellen Identität ist die sexuelle Orientierung, die Geschlechtspartner*innen- Orientierung (sexual partner orientation), die sich auf das bevorzugte Geschlecht der Geschlechts- und Liebespartner*innen bezieht. Auch die Geschlechtspartner*innen-Orientierungen müssen wir, wie die sexuelle Kernidentität, über die allgemein übliche Dreiteilung (Hetero-, Bi- und Homosexualitäten) hinaus erweitern, indem wir diese drei Formen je als Kristallisationspunkte einer Vielzahl von Orientierungen betrachten und daneben auch pansexuelle, asexuelle, objektsexuelle, metrosexuelle und andere Varianten in unsere Betrachtung einbeziehen.

      Die Geschlechtspartner*innen-Orientierung ist das Resultat einer Vielzahl von Einflüssen: Sie basiert auf der sexuellen Kernidentität, wird durch die verinnerlichten Geschlechtsrollen (zu denen unter anderem auch die verschiedenen Vorstellungen bezüglich Homo-, Bi- und Heterosexualitäten gehören) determiniert und wird geprägt durch die Erfahrungen, die das Kind mit den Eltern macht, sowie durch das Modell, das die Eltern ihm von ihrem Umgang miteinander als Frau und Mann bieten. Von großer Bedeutung sind schließlich auch die erotischen und sexuellen Fantasien, die in der späteren Kindheit und in der Adoleszenz dazu führen, dass die Jugendlichen deutlich ihre sexuelle Orientierung spüren und sich im Rahmen ihrer Identitätsentwicklung als hetero-, bi- oder homosexuell definieren.

      Noch nicht beantwortet ist bei dieser Schilderung indes die Frage nach der spezifischen »Weichenstellung« (Morgenthaler, 1987), d. h. warum die Orientierung sich einmal in Richtung Heterosexualitäten, ein anderes Mal in Richtung Bisexualitäten und ein wiederum anderes Mal in Richtung Homosexualitäten entwickelt. Ausgehend von den psychoanalytischen Überlegungen Morgenthalers (1987) und Gissraus (1989, 1993) habe ich 1994 versucht, eine Theorie der Entwicklung homosexueller und bisexueller Menschen zu entwerfen. Obschon mich diese Überlegungen nie wirklich überzeugt haben – dafür spricht auch, dass ich dieses Kapitel in meinem erwähnten Buch über alle vier Auflagen hin nicht verändert habe –, sollen sie hier kurz resümiert werden, um zu zeigen, dass sie uns zwar einige interessante Hypothesen bieten, uns letztlich aber keine verbindliche Antwort auf die Frage nach den Ursachen der »Weichenstellungen« zu den verschiedenen sexuellen Orientierungen zu geben vermögen.

      Im Anschluss an Morgenthaler (1987) habe ich innerhalb der Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen drei wichtige Stationen unterschieden, die für die schwule und die heterosexuelle Orientierung von zentraler Bedeutung sind. Die erste Station liegt in der narzisstischen Entwicklung der frühen Kindheit und beinhaltet die Entstehung des Selbstbildes. Die zweite wichtige Weichenstellung erfolgt in der ödipalen Phase mit den in dieser Zeit typischen Auseinandersetzungen mit den wichtigsten Personen der Kindheit. Die dritte Station liegt in der Pubertät und reicht über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter.

      Die Aufgabe der frühen Kindheit ist die Ausbildung der oben beschriebenen Identität, in der sich die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenfügen. Damit hängt eng eine zweite Aufgabe zusammen, nämlich die der Abgrenzung der eigenen Person von anderen Menschen, mit dem Ziel, Autonomie zu erlangen. Dabei geht es um die Fähigkeit, selbstständig entscheiden und handeln zu können.

      Morgenthaler (1987) ist der Ansicht, dass je nach den lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die das Kind in der Frühzeit seiner Entwicklung macht, entweder das Streben nach Autonomie oder das Bedürfnis, die Identität zu stärken, größer ist. Beide Entwicklungswege bewegen sich gleichermaßen im Bereich der psychischen Gesundheit. Es sind »normale«, die weitere Entwicklung stabilisierende Maßnahmen, mit deren Hilfe das Kind pathologische Entwicklungen zu vermeiden vermag.

      Das Spezifische in der Entwicklung des schwulen Mannes sieht Morgenthaler in der Betonung des Bedürfnisses nach Autonomie. Wann immer im Erleben dieser Kinder und der späteren Erwachsenen Gefühle von Insuffizienz, Enttäuschungen und emotionalen Belastungen auftreten, »retten« und regulieren sie ihr innerseelisches Gleichgewicht durch ein verstärktes Streben nach Autonomie. Dies ist nach Morgenthaler in der frühen Kindheit eng gebunden an autoerotische Aktivitäten. Mit Hilfe der Autoerotik vermögen diese Kinder Störungen ihres seelischen Gleichgewichts und den in solchen Situationen drohenden Autonomieverlust zu verhindern. Die enge Beziehung zwischen Autoerotik und Autonomiestreben bleibt, so Morgenthaler, lebenslang erhalten und führt dazu, dass sich auch die sexuellen Interessen (Geschlechtspartner*innen-Orientierung) später verstärkt auf die eigene Person und auf Partner des gleichen Geschlechts richten.

      Im Unterschied zu dieser Entwicklungslinie sind die heterosexuellen Männer Persönlichkeiten, die in ihrem Selbstbild dem Identitätsbewusstsein und dem Identitätsgefühl Priorität einräumen.

      »Sie orientieren sich nach polaren Gegensatzpaaren, um genau zu spüren und zu wissen, wer sie sind. Auch Homosexuelle haben das Bedürfnis zu spüren und zu wissen, wer sie sind, doch erst in zweiter Linie. Ihr Identitätsbewusstsein kann unscharf begrenzt sein, ohne dass sie dadurch verunsichert werden. Auch Heterosexuelle besetzen ihre innere und äußere Autonomie, doch selten so weit, dass ihre Identität dadurch in Frage gestellt wird. Sie können sich gelassener in Abhängigkeit begeben, weil sie, in dieser Hinsicht, weniger konfliktanfällig sind als Homosexuelle« (Morgenthaler, 1987, S. 88–89).

      Als charakteristische Entwicklungslinie der lesbischen Frau postuliert Gissrau, dass für diese Frauen eine sie prägende Erfahrung in der frühen Kindheit das Erleben des »erotischen Blicks ihrer Mutter« ist, »den sie als lustvolles affektives Interaktionsmuster internalisieren« (Gissrau, 1993, S. 317). Die Mütter von später lesbisch empfindenden Frauen können sich, gemäß Gissrau, in der präverbalen Entwicklungsphase ihrer Kinder den erotischen Genuss am Stillen, Wickeln, Baden, Einreiben gestatten, wodurch es frühzeitig zu einer erotischen Stimulierung der Töchter komme. Es sei aber auch denkbar, dass die Mütter durch ihre sie erotisch ansprechenden Babys entsprechend stimuliert worden seien. Auf jeden Fall ist nach Gissrau die erste Weichenstellung in Richtung der lesbischen Entwicklung »das Ausmaß an erotischer Anerkennung, das die Mutter in ihren Interaktionen während der ersten Lebensjahre zulassen kann« (Gissrau, 1993, S. 317).

      Bei Verwendung der Konzepte von Morgenthaler und Gissrau für die Erklärung der Entwicklung bisexueller Menschen müssen wir vermuten, dass diesen Kindern die Bedürfnisse nach Identität und Autonomie in gleicher Weise wichtig sind. Durch die in unserer Gesellschaft dominierenden Heterosexualitäten tritt im Erleben bisexueller Jugendlicher und junger Erwachsener im Allgemeinen zuerst die heterosexuelle Komponente ins Bewusstsein und erst später das gleichgeschlechtliche Begehren.

      Obschon von anderen theoretischen Grundannahmen ausgehend, finden sich doch ähnliche, die bisherigen Ausführungen ergänzende Überlegungen bei einigen Autor*innen der Analytischen Psychologie von C. G. Jung. So hat Hopcke (1991) den Versuch unternommen, im Rahmen der Analytischen Psychologie ein Modell zum Verständnis lesbischer, schwuler, bisexueller und heterosexueller Entwicklungen zu formulieren. Hopcke sieht die sexuelle Entwicklung als Resultat eines je individuellen Zusammenwirkens der drei Archetypen der Anima, des Animus und des Androgynen.

      Für Hopcke liegt das Spezifische der lesbischen und schwulen Entwicklung darin, dass es bei diesen Orientierungen um eine komplexe Interaktion der drei genannten archetypischen Konfigurationen geht, wobei dem Androgynen


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