Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Udo Rauchfleisch
und Anima zusammen mit dem hermaphroditischen Selbst, der androgynen Ganzheit, in je individueller Weise durch die körperliche und emotionale Verbindung mit einer anderen Frau bzw. mit einem anderen Mann aktualisiert und gelebt werden.
Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den psychodynamischen Entwicklungstheorien, wie Gissrau, Morgenthaler und Hopcke sie formuliert haben, stellen sich zumindest zwei Fragen:
Zum einen bleibt in den skizzierten Konzepten die Frage unbeantwortet, warum im Sinne Morgenthalers die einen Kinder der Identität Priorität einräumen, während die anderen Kinder der Autonomie eine besondere Bedeutung beimessen. Es bleibt auch offen, wie die »Weichenstellungen« zustande kommen. Die gleiche Frage stellt sich beim Konzept von Hopcke, nämlich wie es zu dem spezifischen Zusammenspiel der drei archetypischen Konfigurationen kommt.
Vermutlich müssen wir hinsichtlich der Ätiologie der sexuellen Orientierungen der biologischen Dimension in Gestalt eines genetischen Faktors einen Einfluss beimessen. Wie groß dieser Einfluss ist und wie er genetisch zustande kommt, ist aber nach wie vor unbekannt. Eine neuere große genetische Studie zeigt (Price, 2018), dass das sexuelle Verhalten des Menschen ein höchst komplexes Phänomen ist und die in dieser Studie identifizierten Genvarianten nur einen Bruchteil, nämlich weniger als ein Prozent, des sexuellen Verhaltens erklären.
Zum anderen kann man sich fragen, ob die Betonung der Identität oder der Autonomie nicht Ursache, sondern Folge der vom Kind gespürten gleichgeschlechtlichen Orientierung ist. Gissrau deutet diese Möglichkeit an, wenn sie darauf hinweist, dass bei dem engen Ineinandergreifen des mütterlichen und des kindlichen Verhaltens denkbar ist, dass die erotische Stimulation möglicherweise nicht von den Müttern ausgegangen ist, sondern die Mütter durch ihre sie erotisch ansprechenden Babys entsprechend stimuliert worden seien und auf die Kinder reagiert hätten.
Wir finden eine ähnliche Interaktion auch zwischen trans Kindern und ihren Eltern. In Fällen, in denen beispielsweise die Mütter das nicht-geschlechtsrollenkonforme Verhalten ihrer Kinder geduldet und unter Umständen sogar gefördert haben, ist ihnen immer wieder vorgeworfen worden, sie hätten ihre Kinder manipuliert. Die Realität ist nach meiner Erfahrung häufig umgekehrt: Diese Mütter haben früh gespürt, dass ihr Kind sich nicht dem ihm bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlte, und haben darauf – in einfühlsamer und entwicklungsfördernder Weise – mit einer Unterstützung hinsichtlich des vom Kind gewünschten Rollenverhaltens reagiert.
Obschon sich, wie dargestellt, mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie die Frage nach der Ätiologie der Geschlechtsentwicklung und der sexuellen Orientierungen nicht in befriedigender Weise beantworten lässt, lassen sich mit den psychodynamischen Konzepten doch einige Aspekte herausarbeiten, die für den Umgang mit homo-, bi- und trans Kindern und für therapeutische Interventionen von Bedeutung sind.
Das erste Phänomen ist die von Isay (1990) erwähnte Enttäuschung des Kindes am gleichgeschlechtlichen Elternteil, an die wir in der Entwicklung von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen denken müssen. Der Autor hat in Psychotherapien beobachtet, dass die schwulen Patienten oft davon berichtet haben, dadurch enttäuscht, gekränkt und mitunter auch tief verletzt worden zu sein, dass sie vom gleichgeschlechtlichen Elternteil Ablehnung erfahren hätten. Dies ist dadurch erklärbar, dass der heterosexuelle Elternteil die erotischen Wünsche des Kindes im Allgemeinen nicht in der vom Kind erwarteten Form beantworten kann (
Dies scheint vor allem die Dynamik zwischen Vätern und schwulen Söhnen zu prägen. Die Ablehnung, die der Sohn von einem solchen Vater erfährt, erfolgt häufig indes nicht nur in Form eines Stumm-Bleibens im Hinblick auf die erotischen Wünsche des Sohnes. Oft kommt dazu noch die aktive Ablehnung des Vaters, weil der Sohn nicht die vom Vater gewünschten traditionellen männlichen Rollenbilder erfüllt. Wie Gissrau (1993) beschrieben hat, gelingt es Müttern häufig offenbar besser, auf die erotischen Wünsche ihrer Töchter angemessen zu reagieren. Nach meiner Erfahrung ist es aber auch in der Psychotherapie von lesbischen Frauen sinnvoll, darauf zu achten, ob es solche Enttäuschungen gibt, die in der Therapie zu bearbeiten sind.
Kinder mit einer Transgeschlechtlichkeit befinden sich im Hinblick auf ihre Enttäuschungen an den Eltern im Allgemeinen in einer nochmals schwierigeren Lage. Sie haben, vor allem in der zurückliegenden Zeit, selten Eltern, die auf ihre spezielle Situation eingehen können. Wenn überhaupt sind es mitunter die Mütter, die spüren, was in ihren Kindern vor sich geht, und darauf dem Kind entsprechend reagieren. Dies bringt ihnen aber, wie oben bereits erwähnt, oft den Vorwurf ein, sie würden das trans Kind aus persönlichen Motiven manipulieren, indem sie es in eine nicht-geschlechtsrollenkonforme Rolle drängten.
Ein anderes Problem betrifft die in Bezug auf lesbische und schwule Kinder in der Öffentlichkeit, zum Teil aber auch im Fachbereich bestehende Vorstellung, der schwule Sohn identifiziere sich mit der Mutter und die lesbische Tochter mit dem Vater. Der Annahme einer solchen auch als »negativer Ödipuskomplex« beschriebenen Konstellation liegt zugrunde, dass hier die sexuelle Kernidentität (das frühe Wissen darum, weiblich oder männlich zu sein) mit den Geschlechtsrollen verwechselt wird.
Es mag sein, dass der schwule Mann manche Interessen hat, die sich sonst oft bei Frauen finden, und es mag sein, dass die lesbische Frau sich in der Kleidung und im Verhalten oft ähnlich wie ein Mann verhält. Dies ist jedoch Ausdruck der – bewusst gewählten – Rollen und hat nichts mit der sexuellen Kernidentität zu tun. Keine lesbische oder bisexuelle Frau zweifelt an ihrer Weiblichkeit, und kein schwuler oder bisexueller Mann zweifelt an seiner Männlichkeit.
Hilfreich können die psychodynamischen Konzepte auch sein, wenn es darum geht, sich ein Bild von der Entwicklung von Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit zu machen. Hier geht es nicht um die Suche nach ätiologischen Faktoren, sondern um eine Beschreibung des Weges, den trans Kinder, Jugendliche und Erwachsene durchlaufen, bis sie sich ihrer Situation bewusst geworden sind, sie akzeptiert haben und eine für sie akzeptable Lösung gefunden haben.
Ausgehend von einem von Güldenring (2009) entworfenen Phasenmodell der trans Entwicklung habe ich (Rauchfleisch, 2017) die Spezifika des Weges aufgezeigt, den Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit von früher Kindheit über die Jugendzeit bis ins Erwachsenenalter durchlaufen. Da die Beachtung dieser Spezifika für Beratung, Begleitung und Therapie von trans Menschen wichtig ist, seien diese Phasen hier kurz skizziert.
• Die erste Phase betrifft die innere Wahrnehmung des trans Erlebens. In der frühen Kindheit ist dieses Erleben für die Kinder weitgehend konfliktlos und erscheint ihnen gleichsam selbstverständlich. Je älter sie jedoch werden und je stärker damit der Einfluss der sie umgebenden Cisnormativität wird, desto mehr wird dieses Erleben für sie zu einem Problem. Dies kann zu Konflikten mit und zum Rückzug von der Umgebung führen und kann von Gefühlen von Angst, Scham und Selbstwertzweifeln begleitet sein.
• Die Folge ist in der zweiten Phase die Ablehnung des eigenen Körpers und dadurch bedingt ein Anstieg des Leidensdrucks der trans Person. Diese Zeit ist von Einsamkeit und von immer wieder neuen Versuchen geprägt, Kompromisse zwischen der eigenen Identität und den cisnormativen Ansprüchen der Umgebung einzugehen.
• In der dritten Phase kommt es zur Offenbarung der Transgeschlechtlichkeit nach außen. Je nach den Reaktionen der Umgebung kann es dabei zu diversen sozialen Konflikten und Kränkungen kommen. Diese Phase erfordert von den trans Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen große Ich-Stärke, gute soziale Kompetenzen und konstruktive Konfliktlösungsstrategien.
• In der vierten Phase stehen die juristischen, medizinischen und psychologischen Prozesse im Mittelpunkt. Hier geht es um psychologische und somatische Abklärungen und Beantragungen von verschiedenen Bewilligungen für allfällige körperliche Angleichungen und für juristische Schritte. In dieser Phase spüren trans Menschen in besonders quälender Weise, in welchem extremen Maß sie fremdbestimmt sind, da sie für jeden Schritt im Verlauf ihrer Transition Gutachten benötigen.
• Die fünfte Phase stellt die körperliche Angleichung mittels hormoneller Behandlung (bei jüngeren Kindern in Form einer