Lernort Auschwitz. Christian Kuchler
zumal das Streben nach einem reflektierten und demokratischen Geschichtsbewusstsein nicht bei allen Reisenden zwingend vorauszusetzen ist. So zieht besonders der Schauplatz des »schrecklichste[n] Schlachthaus[es] der Menschheitsgeschichte«[35], wie es ein Polen-Reiseführer in DDR-Zeiten einst zugespitzt formulierte, heute Gäste des sogenannten »Dark Tourism« an, die sich am Schrecken des dort Vorgefallenen ergötzen wollen, aber in der Regel kein grundlegendes Bildungsinteresse verfolgen.[36] Daneben ist der Ort des Verbrechens zugleich Erinnerungsort einer internationalen extremen Rechten, die sich gegenüber gedenkstättenpädagogischen Intentionen strikt abgrenzt und ausdrücklich kein Interesse an einer universellen Menschenrechtsbildung oder an Fragen der Antisemitismusprävention zeigt.[37] Doch auch im klassischen Tourismus, der Oświęcim inzwischen vollständig erfasst hat und den Besuch dort zumeist mit einem Aufenthalt in Krakau verbindet, herrscht keineswegs immer ein aus Sicht der Geschichtswissenschaft angemessener Umgang mit den historischen Orten vor.[38] Vielmehr jagen die Besuchermassen einer Fiktion von »Authentizität« hinterher, die sich an den besuchten Orten ohnehin nicht mehr vorfinden lässt.[39] Wenn nun Jugendliche das Staatliche Museum in sehr hoher Quantität nicht zuletzt im Rahmen von schulischen Gruppenexkursionen aufsuchen, garantiert das noch nicht, dass die Besuche bei den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Auf- und Ausbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins beitragen.[40]
Die Überfüllung der Gedenkstätte lässt sich auch in den Fotos der Schulgruppen gut nachweisen, beispielhaft eine Abbildung aus einer Reisedokumentation aus dem Jahr 2014. Quelle: ASEE A14-111-331
2 Fragestellung, Archivsituation und methodisches Vorgehen
Gegenstand der hier vorliegenden Studie ist indessen nicht der allgemeine (Massen-)Tourismus nach Oświęcim, sondern eine Sonderkohorte unter den Reisenden. Nachfolgend soll es um Lernende deutscher Bildungseinrichtungen gehen, die mit ihren Lehrkräften gemeinsam das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau besuchen. Dementsprechend sollen die Fahrten dazu führen – so sehen es die einschlägigen Curricula im Fach Geschichte vor –, bei den Schülerinnen und Schülern jenes reflektierte Geschichtsbewusstsein auf- und auszubauen.[41] Im Zentrum der Studie stehen denn auch die Subjekte und ihr individueller Annäherungsprozess an den besuchten Ort.[42] Es geht darum, ob das reflektierte Geschichtsbewusstsein mithilfe einer Exkursion zum vielleicht exponiertesten historischen Ort, den es für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen gibt, tatsächlich erreicht werden kann. Zugespitzter ließe sich mit Theodor W. Adorno fragen, ob persönliche Erkundungen des vormals größten Lagers innerhalb des NS-Terrorkomplexes tatsächlich dazu beitragen, dass »Auschwitz« sich nicht wiederhole, es also nicht nochmals sei?[43]
Beantwortet werden soll diese Frage in zwei Schritten. Zunächst geht es darum, zu klären, wie aus dem – gerade auch bei Adornos bekanntem Diktum – primär symbolisch verstandenen Ort ein konkreter Lernort hatte werden können. Schließlich war Auschwitz nach 1945 nicht nur von der geografischen Landkarte verschwunden, sondern auch der Ort Oświęcim für die Deutschen in Ost wie in West kein fassbarer Begriff. Wie konnte sich also aus dem verdrängten Raum ein Attraktivitätszentrum für pädagogische Ziele entwickeln, das heute höchst anerkannt ist und in seiner Bedeutung als Lernort nicht in Abrede gestellt wird?
Um dies nachzuzeichnen, gibt der Abschnitt Geschichte zunächst einen kursorischen Blick auf die Geschehensorte Auschwitz und Birkenau in den Jahren 1940 bis 1945, ehe dann die Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte skizziert wird. Aufbauend darauf stehen anschließend die ersten, primär politisch motivierten Gruppenreisen aus der Bundesrepublik und der DDR im Mittelpunkt. An ihnen ist zu prüfen, inwieweit etwa die Fahrten der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken oder der beiden christlichen Friedensinitiativen Aktion Sühnezeichen und Pax Christi nachweislich Vorbildcharakter für spätere schulische Exkursionen einnahmen.[44]
Dargestellt werden danach die ersten schulischen Fahrten zum »Lernort« Auschwitz. Es handelte sich dabei primär um umfangreiche, bis zu zwölf Tage umfassende Polenreisen, die zwischen 1980 und 1991 von der Robert Bosch Stiftung angeregt und gefördert wurden. Ein inhaltlicher Schwerpunkt lag dabei stets auf der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit;[45] nur etwa zehn Prozent der schulischen Rundreisen in die damalige Volksrepublik Polen kamen ohne den fast obligatorischen Besuch einer Gedenkstätte aus. Unter ihnen aber ragt das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau eindeutig heraus.[46] Mehr als zwei Drittel aller Fahrten suchten die dortige Gedenkstätte auf.[47]
Bedeutsam ist dies für die vorliegende geschichtswissenschaftliche Analyse, da zu diesen Schulexkursionen eine Vielzahl von Dokumentationen überliefert sind, die von teilnehmenden Schülerinnen und Schülern erstellt wurden. Schon das frühe Beispiel der Robert Bosch Stiftung belegt demnach ein singuläres Phänomen für deutsche Gedenkstättenfahrten: Zahlreiche Gruppen dokumentierten den Ertrag ihrer Fahrten nach Oświęcim in schriftlichen Berichten, die mehr oder weniger auf die Rezeption des Gesehenen durch Lehrende und Lernende eingehen. Ähnliche Berichte sind für keine andere Gedenkstätte in vergleichbarer Quantität und zeitlicher Erstreckung verfügbar. Anders als bei Reisen innerhalb Deutschlands, wo für die Beantragung von Fördermitteln keine abschließende Dokumentation eingefordert wurde und wird, können damit anhand der einschlägigen Akten vertiefte Erkenntnisse zum Ablauf, zur Bewertung und zur Wahrnehmung der Fahrten in das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau angestellt werden. In diesem Sinne verwahrt das Archiv der Robert Bosch Stiftung einen Schatz für die geschichtsdidaktische, bildungspolitische und bildungsgeschichtliche Forschung, der gleichwohl bislang kaum von der Wissenschaft wahrgenommen worden ist.[48] In der vorliegenden Studie wird er ergänzt um andere, ähnlich gelagerte Bestände. Dabei handelt es sich um Reisedokumentationen von Schülerinnen und Schülern aus den Jahren 1986 bis 1990, die im Deutschen Polen Institut Darmstadt verwahrt werden,[49] ebenso wie um Material, das für die Analyse von Exkursionen zwischen 2010 und 2015 in der Registratur des nordrhein-westfälischen Schulministeriums bereitgestellt wurde. Den umfangreichsten Bestand an schulischen Exkursionsdokumentationen zu Fahrten zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau verwahrt allerdings das Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen. Deren Bestände zu Exkursionen nach dem Jahr 2010 erst lassen es zu, die vorliegende Untersuchung bis nahe an die aktuelle Gegenwart heranzuziehen und sie damit nicht nur bildungsgeschichtlich anschlussfähig zu machen, sondern Ergebnisse mit Relevanz für die aktuelle Schulpraxis vorzulegen. Versucht wird daher, die Befunde zu den historischen und den aktuellen Gedenkstättenreisen zu bündeln. Sie sollen nach dem von der Corona-Pandemie ausgelösten Stopp aller schulischer Exkursionen neue Impulse für diese außerschulischen Lernorte vorlegen und damit den künftigen Geschichtsunterricht und seine Exkursionspraxis befruchten. Von der entstehenden Dissertation von Fiona Roll, die sich auf Basis der Archivunterlagen der (Selbst-)Reflexivität in den Narrationen von Lernenden annimmt, sind zudem wichtige Impulse für die geschichtsdidaktische Forschung zu erwarten.
Innerhalb der Überlieferung zu Fahrten deutscher Schulen nach Oświęcim besteht trotz der genannten Breite an Archivmaterial eine nennenswerte Lücke, die sich aus der Dokumentationspraxis des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) ergibt. Zwar unterstützte es seit seiner Gründung im Jahr 1991 bis ins Jahr 2015 ebenfalls mononationale Fahrten deutscher Schulgruppen nach Oświęcim, doch das DPJW forderte von den Antragstellenden keine eigenständigen Berichte der Lernenden. Vielmehr begnügte es sich neben einem Finanzbericht mit knappen, sehr formalisierten Fragebogenauskünften, die zudem fast immer von den Lehrkräften abgegeben wurden. Für die hier verfolgte, schülerzentrierte Fragestellung sind die Bestände also wenig aussagekräftig. Ferner werden alle Unterlagen des Deutsch-Polnischen Jugendwerks nach fünf Jahren vernichtet. Im Zuge der Arbeiten an der vorliegenden Studie konnten daher nur Anträge aus dem Jahre 2014 eingesehen werden, ehe sie dann geschreddert wurden. Aus ihnen ergaben sich aber keine wesentlichen Impulse, weshalb zur Förderungspolitik des Deutsch-Polnischen Jugendwerks vor allem statistische Angaben aus dessen Archiv und den publizierten Jahresberichten herangezogen werden. Sie belegen aber, wie bedeutsam die Rolle des DPJW bei der Förderung von Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz-Birkenau