Lernort Auschwitz. Christian Kuchler

Lernort Auschwitz - Christian Kuchler


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Gesamtschau aus den skizzierten Beständen sehr gut die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in den schulischen Gedenkstättenfahrten zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau für die zurückliegenden vier Jahrzehnte rekonstruieren.

      Als zweiter Arbeitsschritt schließt sich der Abschnitt Rezeption an. Bewusst aufbauend auf den benannten Quellenbeständen und auf den Ergebnissen der vorangestellten diachronen Analyse folgt eine synchrone Untersuchung dessen, was Schülerinnen und Schüler bei ihren Reisen nach Oświęcim erfahren, gelernt und internalisiert haben. Möglich ist diese Schwerpunktsetzung, weil es dem Autor möglich war, das bisher nicht erschlossene Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen wissenschaftlich auszuwerten.[50] Darin finden sich, ähnlich den Beständen der Robert Bosch Stiftung für die frühen Jahre bis zum Beginn der 1990er Jahre, Hunderte Dokumentationen zu schulischen Exkursionen. Dabei gingen die aus Nordrhein-Westfalen zwischen 2010 und 2015 durchgeführten schulischen Reisen, die von der Stiftung Erinnern ermöglichen finanziell unterstützt wurden, vorrangig zu einem früheren Lager in Polen – in fast allen Fällen war dies Auschwitz (98,5 Prozent der bewilligten Anträge).[51] Voraussetzung für die Stiftungsförderung war eine Berichterstattung über die gesammelten Eindrücke durch die Jugendlichen nach ihrer Rückkehr. Diese Darstellungen dienen als zentraler Gegenstand des zweiten Arbeitsschrittes, da mit ihnen Quellen vorliegen, die als aussagekräftig anzusehen sind, gerade weil ihnen keine exakten Vorgaben zur Erstellung zugrunde lagen und sie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, grafischen Gestaltung und detaillierten Beschreibung höchst unterschiedlich ausfallen. So lässt sich auf Basis dessen, was die Jugendlichen schreiben, nachvollziehen, welche spezifischen Eindrücke, welches zusätzliche Wissen und welche Erfahrungen sie bei ihrer Reise erwarben. Die Dokumentationen zeigen auf, welche Schwerpunkte die Jugendlichen setzten, was sie ausklammerten, welche Auswertungen sie vornahmen und welche Eindrücke sie gewannen. Allerdings ist bei der Arbeit mit den Berichten stets zu bedenken, dass die Lernenden ihre Texte nicht intrinsisch motiviert für sich selbst verfassten. Vielmehr erstellten sie sie ganz bewusst für die ihre Reise finanziell maßgeblich fördernde Institution. Ein wesentlicher Grad an sozialer Erwünschtheit ist also bei den schriftlichen Abhandlungen immer mit zu bedenken.[52] Für die Analyse folgt daraus, dass aus den Beständen der Stiftung Erinnern ermöglichen vor allem Fahrtdokumentationen herangezogen werden, die spontan und handschriftlich noch während der Reise entstanden. Sie drücken weitgehend ungefiltert die Eindrücke und Gedanken der Jugendlichen aus. Ihre unmittelbaren Reaktionen sind es, die für die Analyse aussagekräftig sind. Allerdings reduziert sich mit diesem Zugriff zugleich die Quantität der Untersuchungsbasis. Aus den mehr als 600 Berichten, die im Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen vorliegen, fokussiert sich die vorliegende Arbeit damit auf 52 Berichte, die zumindest teilweise handschriftliche Beiträge enthalten und zwischen 2010 und 2019 entstanden.[53] Hingegen spielen die Ergebnisberichte, die erst nach der Rückkehr aus Polen geschrieben wurden, in der Auswertung nur eine untergeordnete Rolle. Der Bestand an aufwändig hergestellten Dokumentationen, die zumeist unter aktiver Mit- und Einwirkung von Lehrkräften entstanden, dient nur vereinzelt als Vergleichsfolie für die weitere Analyse der unmittelbaren Fahrteindrücke. Gänzlich ausgeklammert bleiben dagegen die von den Gruppen produzierten (Dokumentar-)Filme[54] ebenso wie die musealen Präsentationen, die Lernenden im Anschluss an ihre Reisen in der eigenen Schule oder in anderen öffentlichen Räumen ausstellten. Vor allem bei diesen Präsentationsformen, die oftmals erst sechs Monate nach der eigentlichen Fahrt abgeschlossen waren und dem Publikum zugänglich wurden, kann von einer Dokumentation der unmittelbaren Eindrücke am historischen Ort nicht mehr die Rede sein.[55]

      Die vielfältigen Archivbestände eröffnen der Forschung zu Gedenkstättenbesuchen eine Fülle von Möglichkeiten, schließlich sind sie im regulären Schulbetrieb entstanden. Als die Schülerinnen und Schüler ihre Texte verfassten, wussten sie nicht, dass diese später zur Grundlage eines Forschungsprojektes werden würden. Vielmehr verorteten sich die Autorinnen und Autoren bei der Abfassung ihrer Texte in ihrem gewohnten schulischen Umfeld, wenngleich im Kontext einer schulischen Exkursion. Umso höher kann der Wert ihrer Aussagen eingestuft werden. Unabhängig davon hebt sich diese Analyse von vergleichbaren Studien dadurch ab, dass nicht die Gedenkstätte als Labor gesehen wurde oder der Gedenkstättenbesuch unter Laborbedingungen stattfand. Vielmehr ermöglicht die Fülle an archivierten Reisedokumentationen einen annähernd repräsentativen Einblick in die gegenwärtige Form der Exkursionsgestaltung sowie in deren Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung.

      Gleichwohl ist aus den archivierten Exkursionsberichten nicht abzuleiten, ob die Schulgruppen bei ihrem Besuch im Staatlichen Museum tatsächlich Impulse aufnahmen, die sie langfristig prägten. Vor allem die in der vorliegenden Studie besonders thematisierten handschriftlichen Quellen entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten. Nicht zu klären ist auf dieser Basis, ob die Ausführungen der Jugendlichen nur bloße Schlaglichter darstellen oder ob der Besuch im früheren Lager sie langfristig beeinflusst hat. Wenn aber ein nachhaltiger Effekt wahrzunehmen sein sollte, ist zu fragen, welche Impulse es waren, die Jugendliche des 21. Jahrhunderts just am Schauplatz des »größten Verbrechens der Geschichte der Menschheit«[56] aufnahmen. Um dies zu klären, wird im Kapitel Rezeption der klassisch geschichtswissenschaftliche Zugang über Quellen um eigengeneriertes Datenmaterial ergänzt. Bewusst wurde dabei nicht die in vielen quantitativen Studien genutzte Methode, geschlossene Items in Fragebögen abzutesten,[57] herangezogen, sondern das offenere Verfahren der Gruppendiskussion mit leitfadengestützten Interviews eingesetzt.[58] Als Forschungspartnerinnen und Forschungspartner wirkten Lernende mit, die mit ihren Schulen selbst zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau gereist waren und 10 bis 22 Monate nach ihrer Rückkehr befragt wurden. Die leitfadengestützten Interviews sollen zumindest die Möglichkeit bieten, vertiefte und exemplarische Einblicke in die Rezeptions- und Denkwelten der Lernenden zu erlangen und deren Wahrnehmung und Verständnis der Exkursion zu erhellen. An drei verschiedenen Schulen konnten Jugendliche der Sekundarstufe II befragt werden, die allerdings alle einen Leistungskurs im Fach Geschichte belegt hatten. Die Einschätzungen dieser am Fach sicherlich besonders interessierten Gruppe stehen zwar nicht repräsentativ für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Dennoch ergänzen ihre Einschätzungen mit zeitlichem Abstand die zunächst untersuchten schriftlichen Reisedokumentationen. Das gilt umso mehr, als die in Gruppendiskussionen interviewten Personen keine schriftlichen Dokumentationen zu ihren Exkursionen verfasst hatten und deshalb nicht im ersten Teil der Analyse berücksichtigt sind. Beide Zugriffe sollen gemeinsam eine Überprüfung ermöglichen, ob die gesellschaftliche Erwartungshaltung tatsächlich zutrifft, ein Besuch in Auschwitz immunisiere gegen Antisemitismus und Rassismus und fördere zugleich die Ausprägung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins sowie einer demokratischen Grundhaltung.

      Insgesamt ergibt sich aus der Analyse der umfangreichen Archivbestände sowie der Interviewerhebung eine Tiefenbohrung, die in ähnlicher Weise zur Geschichte und zum Ertrag von Exkursionen deutscher Schulen zu einer Gedenkstätte bislang noch nicht vorgelegt wurde. Ein vergleichbarer Längsschnitt zur Entwicklung von Schulreisen zu einem früheren Lager fehlt bislang ebenso wie eine breit angelegte Untersuchung zur Rezeption solcher Fahrten bis in die Gegenwart. Interessant daran ist vor allem die quantitative Breite der Untersuchungsbasis. Ausgewertet wird nicht nur der Besuch einer Kleingruppe oder einer bestimmten Schule, sondern das Besuchsverhalten der letzten vier Jahrzehnte. Daraus ergibt sich eine besondere Ausweitung in der Perspektive, da Lernende unterschiedlichen Alters (von der 9. Jahrgangsstufe der allgemeinbildenden Schule bis hin zu jungen Erwachsenen an Berufskollegs), aus allen Schulformen (mit deutlichem Schwerpunkt auf den Gymnasien und unter Ausnahme der Grundschule), aller sozialen Schichten und Herkunftskontexten und aller Regionen untersucht wurden.[59] Ähnlich plural sind die Zugangswege der Gruppen zum »Lernort« in Auschwitz-Birkenau. Die skizzierte Bandbreite der Fahrten bildet also eine stabile Basis für eine umfassende Erhebung. Zu fragen wird letztlich sein, ob schulische Exkursionen nach Oświęcim tatsächlich ein »Erinnern ermöglichen«, wie es der ebenso optimistische wie verheißungsvolle Titel der einschlägigen Stiftung verspricht. Fast zeitgleich zum Beginn der Arbeit der Stiftung hatte Volkhard Knigge genau diese Hoffnung zurückgewiesen, da der Erinnerungsbegriff besonders für junge Menschen nicht mehr tauglich erscheine, ohne zugleich eine Schuldzuweisung an die nachwachsende Generation vorzugeben.[60]

      Das anschließende Kapitel Virtuelle Realitäten nimmt dann die grundsätzliche


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