Von Liebe und Widerstand. Hanna Schott
sagte nicht Ja. Sie sagte auch nicht Nein. Sie begann mit einer Aufzählung aller Dinge, die gegen ihre Verbindung sprachen. Es war eine lange Liste. Sie begann mit schweren Kindheitserfahrungen und endete mit einem Hinweis auf ihre schwache Gesundheit und auf ein unerklärliches Fieber, das sie jeden Abend heimsuche. Als sie mit ihrer Aufzählung fertig war, schwieg sie kurz. Dann sagte sie: »Wenn Sie Ihren Antrag dennoch aufrecht erhalten möchten, werden wir das Weitere sehen.«
Ich dachte, dass sie stark ist, ging es ihm durch den Kopf, aber sie ist schwach. Ich wollte mich auf sie stützen, aber sie wird sich auf mich stützen müssen. Werde ich je genug Stärke für zwei Menschen besitzen?
Aber da saß sie, ehrlich, ernsthaft, schwach, die Frau, die er liebte.
Ja, das ist es, was ich möchte, dachte Magda. Leben und arbeiten mit diesem Mann.
»Et voilà«, notierte sie in ihren Erinnerungen, »von diesem Tag an betrachteten wir uns als verlobt.«
Die Neuigkeit machte die Runde, und im Union Seminary, dem theologischen Seminar, an dem André studierte, wurde gut gelaunt gefeiert. Seiner Familie machte André monatelang keine Mitteilung. So lange, dass Magda glaubte, er stehe nicht zu ihrer Verbindung. Da setzte er sich hin und schrieb seinem Vater einen Brief mit drei Punkten: 1. sei er verlobt, 2. beabsichtige er, in den USA zu heiraten, 3. habe das Paar vor, nach Frankreich zurückzureisen, allerdings auf dem Weg über Indien, und da das Geld für eine solche Weltreise sicher nicht reichen werde, wolle man auf dem Schiff eine Arbeit annehmen.
Die Antwort kam prompt: Frankreich fehle es nicht an Weltenbummlern, Frankreich fehle es an protestantischen Pfarrern, die ihrem Auftrag und ihrer Pflicht nachkämen.
Dass der einundachtzigjährige Monsieur Trocmé glaubte, sein Sohn habe seine »Maitresse« geschwängert und müsse jetzt eilends in den USA heiraten, erfuhr André erst später.
2
Männerwelten, Frauenwelten
FLORENZ UND ROM 1901–1909
Vittorio Emanuele Ferdinando Maria Gennaro di Savoia, genannt Viktor Emanuel III., der König von Italien, war prächtig anzusehen. Die kleine Magda stand vor seinem Abbild in Öl und staunte. Wer neben der Schärpe so viele Sterne, Bänder, Knöpfe, Medaillen und Troddeln trug, war zweifelsohne nicht nur der wichtigste, sondern sicher auch der stärkste Mann von Italien. Und gleich nach ihm kam Papa. Dass die beiden gute Freunde waren, sah man am Schnurrbart und an den Orden. Einen lustigen Bart hatte der König. Seine Spitzen waren nach oben gedreht, so dass sie genau auf die Ohren zeigten. Papas Schnurrbart war kürzer, und seine Ohren standen unter der Mütze auch nicht so ab wie die vom König. Deshalb sah Papa noch besser aus, obwohl er ein paar Orden weniger auf der Brust trug.
»Papa reitet mit seinen Soldaten an unserem Haus vorbei.« In einer ihrer ersten Kindheitserinnerungen steht Magda auf dem Balkon und schaut der Parade zu, die genau vor ihrem Haus entlangführt. Papa sitzt auf einem wunderschönen Pferd. Vor ihm her schreitet das Musikkorps. Papa ist ein Colonel. Magda weiß nicht, was das ist, aber es hört sich so ähnlich an wie colonna, Säule. Papa ist schlank und schön wie eine Säule. Er ist so wichtig, dass er nicht zu Hause wohnen kann. Papa passt nämlich auf das ganze Land auf.
Oscar Grilli di Cortona durfte von sich behaupten, tatsächlich zu den Säulen des italienischen Königreichs zu gehören. Zurzeit der Parade, an die sich Magda erinnerte, war er in der Fortezza von Florenz stationiert. Sie lag am Ende der Viale Margherita, in der auch das Haus der Familie stand. (Heute ist die Straße umbenannt, das Haus wurde abgerissen.) Im Stall der Fortezza stand Oscar Grillis schönes Pferd, und am Brunnen vor der Fortezza hatte Magda an guten Tagen das seltene Glück, auf andere Kinder zu treffen. Es gab kleine Kinder, die an der Hand ihrer Ammen zum Brunnen kamen, und es gab größere Kinder, die von ihren Gouvernanten begleitet wurden. Die Ammen erkannte man außer an ihrem großen Busen an ihrem reichen Schmuck. Für jeden Fortschritt des ihnen anvertrauten Kindes erhielten sie von ihrer Herrschaft einen glitzernden Dank: einen Armreif anlässlich des ersten Zahns, einen Anhänger, nachdem das Kind die ersten freien Schritte gemacht hatte, und so weiter. Fast alle Ammen sprachen Italienisch mit den Kindern, im Gegensatz zu den Gouvernanten, die selbstverständlich nur Französisch sprachen. Magdas Gouvernante war nach dem Vorbild der Gouvernante am Königshof eine Vaudoise, eine Frau aus einem der Waldensertäler des Piemont, gebildet, protestantisch und nicht ohne Stolz auf ihre Herkunft. Auf dem Weg zur Fortezza begegneten die beiden manchmal Kindern, die Florentinisch, den lokalen Dialekt, sprachen und – noch viel seltsamer als das – die ohne eine Gouvernante unterwegs waren! Wenn Magda stehenblieb und ein solches Kind anstaunte, wurde sie von ihrer Gouvernante sofort am Ärmel ihres Kleides weitergezogen. Nie kam es auch nur zu einem kurzen Dialog geschweige denn zu einem gemeinsamen Spiel. Ob sie einander überhaupt verstanden hätten?
»Wer kommt in meine Arme?« Ein schwarzer großer Mann steht am Ende eines langen dunklen Flurs, und er möchte, dass das kleine Mädchen in seine Arme läuft. Das ist Magdas zweite Kindheitserinnerung. Der Mann hat einen schwarzen Mantel an, der bis auf die Erde reicht, und auf seinem Kopf sitzt ein schwarzer hoher Hut. Das kleine Mädchen hat Angst und will auf keinen Fall tun, worum er bittet. Es weiß nicht, dass der schwarze Mann ein Mönch ist und zu der russisch-orthodoxen Kirche gehört, deren Gottesdienste einige Stockwerke unter der Wohnung der Familie Grilli in Rom stattfinden, in demselben Palazzo an der Piazza Cavour, nicht weit vom Vatikan. Es spürt nichts als Angst.
Oscar Grilli di Cortona war für wenige Jahre in Rom stationiert, aber »Rom« oder »Florenz« sagten der Drei- oder Vierjährigen natürlich nichts, sie kannte hier wie dort nur hohe Räume, unendlich lange, spärlich beleuchtete Flure, dunkelrote Teppiche und Aufzüge, die von den Gouvernanten Paternoster genannt wurden. Das Ambiente unterschied sich kaum, nur die Gouvernanten wechselten einander im Jahresrhythmus ab. Die aus dem Norden anreisenden höheren Töchter – das Wort »Au pair« war noch nicht erfunden – machten ihre »Italienische Reise« und besuchten auf Goethes Spuren Florenz, Rom und Neapel. Und dort, wo sie für einige Monate blieben, hüteten sie ein etwas verschrecktes Mädchen, dem sie das beizubringen versuchten, was sie selbst für das Wichtigste hielten. Im Fall eines »Fräuleins« aus Deutschland waren das deutsche Sätze in makellos schöner Schreibschrift. Nur eine junge Frau blieb Magda in guter Erinnerung: Hedwig, die Tochter des Erlanger Theologieprofessors Theodor Ritter von Zahn. Alle anderen erschienen ihr wie ein unabwendbares Schicksal.
Ja, hatte das Kind denn keine Mutter!?, möchte man rufen.
Nein. Magda wuchs in einer mutterlosen Welt auf. Nelly Wissotzky Grilli di Cortona, Magdas Mutter, war zehn Monate nach der Hochzeit mit Oscar Grilli und nicht einmal vier Wochen nach der Geburt ihrer Tochter im Alter von dreiundzwanzig Jahren gestorben.
Magdas Welt war eine mutterlose Welt, aber es war doch eine Welt voller Frauen.
Da war zunächst einmal Varia Wissotzky Poggio, genannt Grand-Maman. Sie war Magdas Großmutter mütterlicherseits und wohl diejenige im Grilli-Haushalt, die am ehesten in der Lage war, für die kleine Magda so etwas wie mütterliche Sorge zu empfinden und mit dem Kind eine emotionale Bindung einzugehen. Grand-Maman sprach Französisch mit der Enkelin und wurde von dieser selbstverständlich gesiezt. Manchmal wechselte sie aber auch zu Englisch oder Deutsch, und wenn Magda nicht verstehen sollte, was gesprochen wurde, sprach sie mit den anwesenden Erwachsenen auf Russisch weiter. Grand-Maman war nämlich in Sibirien geboren.
Wie kommt ein Florentiner Kind an eine sibirische Großmutter? Die Geschichte ist etwas verschlungen, aber nicht untypisch für eine Zeit, in der der »Migrationshintergrund« zwar noch nicht erfunden war, die Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aber bereits kreuz und quer durch Europa zogen.
Der Vater von Grand-Maman hieß Alexej Poggio und lebte in Sankt Petersburg. Dass er einen italienischen Nachnamen trug, verdankte er der Tatsache, dass sein Vater, ein adeliger Handelstreibender aus Genua, seinen Gegner bei einem Duell getötet hatte und danach von Italien nach Russland geflohen war. Die unrühmliche Migration des Vaters hinderte den jungen Alexej nicht, in der russischen Gesellschaft aufzusteigen. Erst kämpfte er vor Moskau gegen Napoleon, dann wurde er Gardeoffizier