Von Liebe und Widerstand. Hanna Schott

Von Liebe und Widerstand - Hanna Schott


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Bald nach ihrer Erstkommunion zog ihr Vater mit seiner neuen Familie nach Verona. Magda blieb in Florenz und kam mit dem Schuljahrsbeginn 1914 in ein Internat. Es war die Klosterschule der Mantellate, der Dominikanerinnen des »dritten Ordens«, die ihren Namen den langen schwarzen Umhängen verdankten, an denen man sie erkannte. Hier nun war Magda endlich Katholikin unter Katholikinnen und betete viele Stunden lang das »Ave Maria«, das »Pater Noster« und das »Gloria Patris« – allerdings nicht als Frömmigkeits-, sondern als Bußübung. Ihr Beichtvater war streng, und Magda war noch strenger mit sich selbst. Während ihre Klassenkameradinnen aus dem Beichtstuhl kamen, schnell etwas murmelten und die Kirche sündenfrei, erleichtert und sorglos verließen, quälte sich Magda Tag und Nacht mit grüblerischen Gedanken: Gab es Sünden, die sie nicht gebeichtet hatte? Sollte sie das letzte Gebet lieber noch einmal wiederholen? Sie hatte sich versprochen, und jetzt war es sicher nicht gültig.

      Als Konvertitin hatte sie eine besondere Gnade erfahren, jetzt musste sie sich ihrer würdig erweisen, so jedenfalls empfand sie es. Magda war also wieder anders als die anderen, keine schon immer Erwählte, sondern eine zum rechten Weg Bekehrte, die dankbar sein musste.

      Doch schon bald drängte sich ein ganz anderes Thema in den Vordergrund. Der Sommer 1914, der Europa verändern sollte, begann für Magda mit einer vielversprechenden, aufregenden Reise: Endlich würde sie den geheimnisvollen Unbekannten, ihren Großvater Vladimir Wissotzky kennenlernen! Der lebte inzwischen nicht mehr »im tiefen Russland«, sondern in Wirballen, einer wichtigen Zollstation an der deutsch-russischen Grenze, die heute die Grenze zwischen Litauen und Russland ist. Grand-Papa war als General und Chef des Zolls hier stationiert. Grand-Maman machte sich mit ihren drei Enkelinnen – Lalli, Lallis Schwester Dudy und Magda – auf die Reise über die Alpen und dann vom äußersten Süden in den äußersten Norden Deutschland. Es war eine schier endlos lange Zugreise, und sie bot der Großmutter Zeit genug, um den Kindern zu erklären, weshalb sie den sagenumwobenen Grand-Papa noch nie gesehen hatten. Als Immigranten hatten Grand-Maman und er mit drei kleinen Kindern erst in Genf und dann in Florenz gelebt, erzählte die Großmutter. Aber während sie selbst sich an das neue Leben schnell gewöhnte, als Russisch- und Französischlehrerin Geld verdiente und andere Immigranten in Pension nahm, blieb Grand-Papa ein Fremder. Er habe nicht begriffen, erzählte Grand-Maman, dass adelig zu sein allein noch kein Beruf ist, ja, schlimmer noch, dass sie beide zwar aus bester Familie kamen, nun aber unbekannt und finanziell schlecht gestellt waren. »Er war unglücklich. Er gab Geld aus, das er nicht besaß … Ja, und dann beschloss er eines Tages, in unsere alte Heimat zurückzukehren«, beendete Grand-Maman ihre Erzählung mit einem Seufzer.

      Sie hatte ihn ziehen lassen und fortan ein weit ruhigeres Leben geführt. Nun würde sie ihn wiedersehen, mit drei Enkelkindern an der Hand, von denen er nur aus Briefen wusste.

      Der Empfang bei Grand-Papa war eine beeindruckende Inszenierung. In Magdas Memoiren finden sich dennoch nur wenige Zeilen dazu, weil das, was dieser Begegnung folgte, den Eindruck offensichtlich gleich wieder überlagerte. Dabei hätte die Uniform des Generals es mit der des italienischen Königs aufnehmen können, genauer noch: sie übertraf die des Königs. Denn nachdem der Großvater die angereisten jungen Damen mit Handkuss begrüßt hatte, erklärte er, dass er die Orden und Abzeichen, die ihm verliehen worden waren, leider nur im Wechsel tragen könne, weil sie nicht alle gleichzeitig auf seiner Brust Platz hätten. Und dann zeigte Grand-Papa seine goldene Uhr, die ihm vom Zar selbst überreicht worden war! Doch um die kleine Reisegesellschaft weiter zu beeindrucken, blieb wenig Zeit – die Nachricht vom Ausbruch des Krieges erreichte Wirballen. Grand-Maman und ihre Schutzbefohlenen machten sich unverzüglich auf den Rückweg. Wenn die umsichtige Großmutter nicht zufällig einige Österreichische Kronen im Gepäck gehabt hätte, die sie am Berliner Bahnhof vorzeigen konnte, wären sie wohl schon in Berlin an der Weiterreise gehindert worden. So aber gelangten sie über Österreich nach Lindau, von dort über den Bodensee in die Schweiz und zurück nach Florenz.

      Eine weite Reise war zu Ende, und nicht nur das: Die Zeit des Reisens, die für Magda gerade erst hätte beginnen sollen, war damit auch schon vorbei. Der Krieg machte die Grenzen unüberwindlich, und das Internat der Mantellate, das mit seinen hohen Mauern ohnehin wie eine Festung aussah, wurde für Magda zu einem Ort, an dem sie sich vier Jahre wie eine Gefangene fühlte. Dreimal im Jahr hatte sie das Recht, elterlichen Besuch zu bekommen, doch selbst zu diesen seltenen Terminen kam Oscar, ihr Vater, nur unregelmäßig. Hatte er – vielleicht gerade während des Kriegs – andere Sorgen? Sollte er seine älteste Tochter wirklich so gut wie vergessen haben? Oder warf er ihr – bewusst oder unbewusst – tatsächlich vor, seine über alles geliebte erste Frau umgebracht zu haben? Viele Gedanken um Magda kann er sich jedenfalls nicht gemacht haben, denn die Jahre, die sie bei den Mantellate eingeschlossen, unterfordert und gelangweilt absaß, wurden durch ein Jahr zur Vorbereitung auf ein Leben als Dame ergänzt: Auf der Haushaltsschule für höhere Töchter lernte Magda, wie man Spitze bügelt, dazu die lateinischen Namen aller Pflanzen, die als Tischdekoration dienen können. Auf die Idee, dass diese Jugendliche ganz andere Interessen haben könnte und auf einem Lyzeum, dem damaligen Mädchengymnasium, viel besser aufgehoben und endlich auch intellektuell gefordert worden wäre, kam weder Oscar noch sonst jemand.

      Fünf Jahre lang fühlte sich Magda wie abgestellt. Was sie lernen sollte, interessierte sie nicht, und was sie interessierte, ließ man sie nicht lernen. Dazu kam das Leben der Internatsschülerinnen, das wie in einem Internierungslager organisiert war. Und doch lernte Magda in diesen Jahren Entscheidendes: Sie lernte, aus der ängstlich-depressiven Haltung ihrer Kinderjahre herauszufinden. Magda wurde erst frech und dann froh.

      Vielleicht begann alles mit einem samstäglichen Gang zur Beichte.

      »Hochwürden, ich möchte nicht beichten«, begann Magda ihre »Beichte«.

      Der Pater auf der anderen Seite des »Fensters«, unsichtbar gemacht durch einen Vorhang aus schwerem, rotem Stoff, blieb einen kurzen Moment stumm.

      »Wa…, warum?« In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Überraschung und Empörung.

      »Weil ich nicht daran glaube«, sagte Magda und wollte schon aufstehen.

      »Warte!«, bat sie der Beichtvater. »Bleib noch einen Moment sitzen. Ich möchte nicht, dass die anderen sehen, dass du nicht … Du verstehst schon, das wäre kein gutes Vorbild für die anderen.«

      »Wollen Sie mich zum Lügen auffordern?« Jetzt war Magda die Empörte. »Meinen Klassenkameradinnen brauche ich nichts vorzumachen. Denen hab ich schon gesagt, dass ich nicht mehr beichte. Wegen so was werde ich doch nicht lügen!«

      »Ich regte mich auf, dabei machte der arme Priester doch nur seine Arbeit«, notierte Magda später. »Er wollte die Seelen meiner Mitschülerinnen retten. Ich sollte sie nicht anstecken! Er tat, was er konnte, und mir bereitete es eine boshafte Freude, ihn wie die Fliege im Netz der Spinne zappeln zu sehen. – Eine Diktatur ist immer gefährdet, egal ob sie sich auf politische oder religiöse Ideen stützt.«

      Dass Magda sich wieder der evangelischen Kirche annäherte, sich »heimlich« zu Gesprächen mit dem Waldenserpastor traf und schließlich auch offiziell aus der katholischen Kirche austrat, das alles erlebte Grand-Maman nicht mehr. Dabei zahlte Magda noch Jahre nach deren Tod ihren Mitgliederbeitrag weiter. Sie wollte, dass der Name Varia Wissotzky auf der Gemeindeliste blieb – und sie selbst anonym. »Freiheit, Freiheit – nach all diesen Schwierigkeiten!«, notierte sie.

      »Der Beginn meines Lebens war, was die Religion betrifft, bizarr. Orthodox? Protestantisch? Katholisch? Ohne Religion? – Die Zukunft würde darüber entscheiden.«

      Doch wohin sie sich auch wenden würde: Niemals würde »Mutter Kirche« die Mutter ersetzen, die Magda niemals kennengelernt hatte.

      5

      Aufbruch

      FLORENZ 1918 – NEW YORK 1926

      Das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg endete, war auch das Jahr der spanischen Grippe. Nicht nur Europa, fast die ganze Welt war im Griff der Seuche. Zwanzig- bis vierzigtausend Menschen starben täglich, vom westafrikanischen Accra über Berlin bis nach Boston an der Ostküste der USA. Auch in


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