Von Liebe und Widerstand. Hanna Schott
angenehmer: Sie begleitete Spazierfahrten durch Florenz und Umgebung. Miss Wilcox, ein vermögendes amerikanisches Fräulein aus New Hampshire, das sich einige Monate in Florenz aufhielt, wollte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und suchte deshalb eine kulturbeflissene, einheimische Gesellschafterin, die ihr bei Museumsbesuchen und Landpartien ganz nebenbei Italienisch beibringen würde. Magda war die Idealbesetzung. Mehrsprachig und munter plaudernd belebte sie die Fahrten, und Miss Wilcox war so begeistert, dass sie die Ausflüge zu kleinen Reisen ausdehnte. Bald ging es nicht mehr nur nach Fiesole und zu anderen Ausflugszielen rund um Florenz. Die beiden Frauen erweiterten ihre Touren bis zum Lago Maggiore und nach Zermatt. Und dort, an der Poststelle von Zermatt, wartete eines Tages ein Umschlag auf Magda: Die New York School of Social Work hieß sie als Studentin für das kommende Academic Year willkommen. Und nicht nur das: Magda würde von ihrer Ausbildungsstätte sogar ein Stipendium erhalten!
Die Freude war riesig, die Erfüllung eines großen Traums plötzlich ganz nah. Doch Magdas Hochgefühl bekam schon bald einen Dämpfer: Erst wenige Monate zuvor hatte die US-Regierung eine Quote für Einwanderer aus Süd- und Osteuropa beschlossen. Nur wer aus Nord- und Westeuropa kam, konnte ungehindert einreisen. Und Florenz zählte zu Südeuropa, so vergleichsweise nördlich, wie es den meisten Italienern bis heute auch scheinen mag.
Aber eine Einwanderungsquote ist nicht dasselbe wie ein Einreisestopp. Wenn sie als Studentin die Einreise beantragte, wäre das ja vielleicht etwas anderes. Während Magda hoffte und bangte, hatte Miss Wilcox eine gute Idee: »Wie wäre es, wenn Sie mich auf meiner Heimreise nach New York begleiten würden? Wir könnten den Italienischunterricht an Bord fortsetzen.« Die zukünftige New Yorker Studentin würde also erst einmal als Lehrerin reisen – womit die Finanzierung der Hinreise bereits geklärt war.
Der Abschied von Florenz verlief so schmerzlos, dass es schon wieder wehtat. Wie wenige Menschen es hier doch gab, von denen Magda sich ungern trennte. Nicht nur, weil es August war und jeder, der es sich nur irgendwie leisten konnte, das brütend heiße Florenz Richtung Meer verlassen hatte. Grand-Maman war tot, Papa Oscar war ihr seit langem entrückt, zu seiner Frau hatte sie nie ein enges Verhältnis gehabt. Die Halbgeschwister? Sonntagsbekanntschaften. Nur Falkenberg, der ernsthafte belgische Banker, bestand darauf, Magda nicht nur bis zum Bahnhof, sondern bis zum Hafen zu begleiten und sie nicht zu verlassen, bis sie den italienischen Boden unter den Füßen verlieren würde. Nun gut, wenn er unbedingt wollte …
Ein einziger Abschied blieb Magda für den Rest ihres Lebens in Erinnerung. Wenige Tage vor der Abreise besuchte sie das Grab ihrer Mutter. Sie stand im Schatten der hohen Zypressen und las, was ihr Vater in Stein hatte meißeln lassen:
Nelly Wissotzky
morta a ventitre anni
il 29 novembre 1901
appena divenuta madre
e da solo dieci mesi sposa.
Anima eletta, purissima,
sbocciata come fiore
che morendo dà il frutto.
Oggi, riposa nella pace divina
ove attende l’inconsolabile marito
Oscar Grilli
per non lasciarlo più
Nelly Wissotzky
gestorben mit 23 Jahren
am 29. November 1901,
kaum dass sie Mutter geworden war
und seit erst zehn Monaten verheiratet.
Erwählte Seele, reiner als rein,
wie eine Knospe, die erblühend
Frucht bringt und stirbt.
Sie ruht im göttlichen Frieden,
wo sie ihren untröstlichen Ehemann
Oscar Grilli
erwartet, um ihn nie mehr loszulassen.
Ja, tatsächlich, es stand seit einem Vierteljahrhundert in Stein gemeißelt und hatte das Leben ihres Vaters bestimmt: Seine Ehefrau, die erste, die »eigentliche«, war eine Überirdische. Diese »Tatsache« hatte auch das Leben der Tochter geprägt. Doch nun würde sie, Magda, die ganz und gar Irdische, Lebenslustige, Praktische und Pragmatische, diesen Teil ihres Lebens hinter sich lassen und in das Land gehen, das zu ihr passte: das Land derer, die nach vorne sahen, die zupackten, die offensichtlich auch ohne zweitausend Jahre Kulturgeschichte glücklich werden konnten und die fünfundzwanzig Jahre verwickelter Familiengeschichte ebenfalls unbeeindruckt lassen würden.
Marseille – Genua – Neapel – Palermo – New York. Der französische Dampfer der Fabre Line legte die Strecke in zwei Wochen zurück. Magda stieg in Neapel zu, Miss Wilcox erwartete sie schon. Falkenberg, der hartnäckig Verliebte, hatte ihr im Zug ihren goldenen Armreif vom Handgelenk gestreift. »Was auch immer geschieht, ich werde dich wiedersehen«, hatte er geflüstert.
»Du Armer«, war alles, was Magda dazu einfiel. Was sie aber selbstverständlich nicht laut sagte.
Zumindest den Armreif sah sie nie wieder.
Magda hatte von einer viel längeren Schiffspassage geträumt, von Zwischenstopps auf unbekannten Inseln, davon, dass sie Menschen und Tiere sehen würde, die ganz anders waren als alles, was sie in Italien kennengelernt hatte. Das zügige Vorankommen auf einem Schiff voller armer süditalienischer Auswanderer, die ihr Glück trotz allem versuchen wollten, war nicht gerade romantisch. Aber immerhin: Dieses Ticket hatte sie geschenkt bekommen. Und die Richtung stimmte.
6
Geboren werden
SAINT-QUENTIN 1901–1910
Andrés Geburtshaus liegt nur wenige Meter von den Champs-Elysées entfernt. Das hört sich großartig an, ist es aber nicht. Denn nicht nur die Pracht-Avenue in Paris heißt Champs-Elysées, eine der größeren Straßen von Saint-Quentin heißt genauso. Und Saint-Quentin ist ein Industrieort im Norden Frankreichs, nicht weit von der belgischen Grenze. Keine Schönheit und wenn berühmt, dann von trauriger Berühmtheit. Die Stadt liegt nicht weit entfernt von der Somme, und der Name dieses Flusses weckt bis heute dunkle Erinnerungen. Schon während der Religionskriege, mehr als dreihundert Jahre vor Andrés Geburt, spielte Saint-Quentin als Grenzort eine Rolle. Damals ging es noch um die Grenze zwischen katholischen und protestantischen Ländern. Protestantische Weber flohen aus den zu dieser Zeit katholischen Niederlanden. Sie brachten nicht nur protestantische Gesangbücher mit, sie beherrschten auch eine eigene Kunst: das Weben feiner Stoffe. Die Textilindustrie bestimmte fortan die Geschichte der Stadt und damit, Jahrhunderte später, auch das Leben der Familie Trocmé. Paul Trocmé, Andrés Vater, war ein echter Sohn seiner Stadt. Er war Protestant, und er war in dritter Generation Inhaber einer Textilfabrik. Das (Wohl-)Leben der Familie fußte auf feiner Spitze und wollenem Tuch, wobei beides nicht nur produziert, sondern auch sehr erfolgreich an gediegene und vermögende Pariser Kunden verkauft wurde.
Auch wenn die Champs-Elysées von Saint-Quentin nur ein Abklatsch der »echten« Champs-Elysées waren – das Haus der Trocmés konnte sich sehen lassen. Achtzehn Zimmer hatte es – die Küche und die Hauswirtschaftsräume nicht mitgerechnet –, zwölf davon waren Schlafzimmer. Die Familie war nämlich nicht nur materiell reich, sie war auch kinderreich: Sieben Söhne und zwei Töchter bevölkerten das Haus, auch wenn der Altersabstand der Kinder so groß war, dass nie alle gleichzeitig zu Hause wohnten. Dafür war bei der Ankunft des letzten Kindes auch schon das erste Enkelkind auf der Welt. Weil es ein Ostersonntagmorgen war, als André, der Jüngste, geboren wurde, bekam er gleich einen zweiten Namen: Pascal, der Österliche. Auf Bildern erkennt man ihn an seinen langen blonden Locken, die ihm bis auf die Schultern fallen.
Das