Von Liebe und Widerstand. Hanna Schott
Vater auf dem Thron. In einer feierlichen Zeremonie sollten die Gardeoffiziere den Eid auf den neuen Herrscher ablegen, doch sie verweigerten ihn. Nach ihrer Meinung blockierte die russische Krone längst überfällige Reformen. Besonders die Leibeigenschaft gehöre endlich abgeschafft, fanden sie – und riskierten damit Kopf und Kragen. Alexej konnte sich glücklich schätzen, nicht zu den Rädelsführern gerechnet zu werden. Die wurden umgehend gehängt. Die anderen Aufständischen, die man später Dekabristen nannte (dekabr ist das russische Wort für Dezember), wurden »nur« degradiert und nach Sibirien verbannt. Zu ihnen gehörte auch Alexej, der dort dreißig Jahre blieb, bis der Sohn des Zaren, Alexander II., den Thron bestieg und die Bestrafung der Dekabristen für abgeschlossen erklärte.
So kam es also, dass Grand-Maman in Sibirien geboren wurde. (Dass bei Licht betrachtet Alexej zwar ihr biologischer Vater, ein anderer Dekabrist aber ihr sozialer Vater und der Mann ihrer Mutter war, ist eine andere Geschichte. Die beiden Männer waren befreundet und wählten statt eines Duells eine stillschweigende Übereinkunft.)
Ein Leben, das in Sibirien begann und sie in die Toskana führte, hatte aus Grand-Maman eine Frau gemacht, die anpassungsfähig war und alles Neue erst einmal mit Neugierde betrachtete. Grand-Maman fand zum Entsetzen der anderen Erwachsenen im Florentiner Haus zum Beispiel, dass man ruhig Melonenscheiben vom fahrenden Händler kaufen konnte. Wenn der Melonenwagen kam, liefen die Leute zusammen und aßen die saftig tropfende Frucht fröhlich schmatzend gleich auf der Straße. Ein abstoßendes Schauspiel, da waren sich alle einig. Nur Grand-Maman fand es lustig.
Grand-Maman trug unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit immer Schwarz. Und sie war – jedenfalls im Urteil ihrer stilbewussten italienischen Verwandtschaft – immer schlecht gekleidet.
»Irgendwann wird dir noch mal jemand auf der Straße zwei Groschen zustecken!«, sagte Nonna Grilli, Magdas Oma väterlicherseits, der der Unterschied zwischen dem gemeinen Volk und einer Familie wie der ihren auch optisch stets vor Augen stand.
»Dann nehm ich sie und geb sie jemandem, der sie gebrauchen kann!«, antwortete die Unkonventionelle schlagfertig.
Grand-Maman war in Genf und Florenz zur Pianistin ausgebildet worden, aber sie pflegte auch ihre große Liebe zur Philosophie und Literatur. Als Magda älter war, führte die Großmutter anregende Gespräche mit ihr. Da ging es um den russischen Teil der Familiengeschichte, die Frage der Leibeigenschaft und den Kampf der Dekabristen. Das Wort »Menschenrechte« wird Magda sicher das erste Mal aus dem Mund von Grand-Maman gehört haben. Aber dann ging es wieder um das Alltägliche und Italienische. Grand-Maman hörte Magda ab, wenn Prüfungen anstanden; manchmal hatte sie den Stoff sogar parallel zur Enkelin selbst gelernt. Sie war die Lieblingsoma, vielleicht sogar eine ältere Freundin, in späteren Jahren ab und zu eine Komplizin. Niemals jedoch war sie zärtlich zu Magda. Das Mädchen auf den Schoß nehmen und ihm einen Kuss geben? Nein, das konnte Grand-Maman nicht.
Und noch etwas blieb ihr ein Leben lang unmöglich: Sie konnte nicht von Nelly, ihrer toten Tochter und Magdas Mutter, sprechen und ertrug es auch nicht, wenn andere es taten. Nellys Leben, Nellys Tod – beides war tabu in der Familie Grilli. Im Schlafzimmer von Magdas Vater hing ein Foto der Verstorbenen. Es zeigte Nelly als junge, zerbrechlich wirkende, wunderschöne Frau – die Angebetete, die sie für Oscar ein Leben lang blieb.
»Weißt du, wer das ist?«, fragte der Vater Magda einmal. Es war einer der seltenen Tage, an dem sie ihn besuchte und dieses Zimmer betrat.
»Die Frau auf dem Bild? Nein. Das weiß ich nicht.«
Konnte sie es nicht sagen, ging ihr das Wort »Maman« nicht über die Lippen? Oder wusste sie es wirklich nicht? Auch die sechzigjährige Magda, die von ihren Kindern gedrängt ihre Erinnerungen auf ein Tonband sprach, konnte auf diese Frage keine Antwort geben.
Zu Grand-Maman gehörte ein Grand-Papa. Der war nicht tot, aber er war unsichtbar. Grand-Maman sprach nie von ihm, doch ab und zu erreichte die Enkelin ein Geschenkpäckchen, das Grand-Papa an einem geheimnisvollen Ort für sie aufgegeben hatte. Wo dieser Ort war und warum der Großvater niemals wie andere Großväter leiblich sichtbar wurde, war eines der vielen Rätsel, die Magdas Kindheit begleiteten.
Die zweite Frau in Magdas früher Welt war Nonna Grilli, Vaters Mutter. Vornehm, streng und standesbewusst war es für die geborene Italienerin selbstverständlich, Französisch zu sprechen. Des Italienischen bediente sie sich nur, um Handwerkern und Lieferanten Anweisungen zu geben. Zwischen ihr und Magda standen zuerst die Amme, dann ein ganzer Kometenschweif von Gouvernanten und vor allem sämtliche Konventionen, die geeignet waren, den Nachwuchs den Erwachsenen buchstäblich vom Leibe zu halten.
Die dritte Frau, die ebenfalls im Haus wohnte und Magdas Leben und Weltsicht mitbestimmte, war Tante Olga, die Schwester von Nelly, Magdas Mutter. Auch sie war so gut wie unsichtbar, dabei ruhte sie nur einige Schritte entfernt im abgedunkelten Nebenzimmer. Tagein, tagaus lag sie dort auf ihrer Chaiselongue. Tante Olga litt an Migräne, und für einige Jahre war es Magdas Traum, ihr Leiden teilen zu dürfen. Wer Migräne hatte, bekam von den Bediensteten Tee und edles Gebäck gereicht, das er im Liegen zu sich nehmen durfte, dazu natürlich Anteilnahme und Nachsicht. Er musste nicht endlose Klavieretüden wiederholen oder eine tadellose Handschrift einüben. Er durfte einfach da sein und nichts tun. Was für ein Leben!
Tante Olga hatte eine Tochter, Lalli, das vierte weibliche Wesen in Magdas Welt. Aus den beiden fast gleich alten Cousinen wurden innige Vertraute – der Lichtblick in Magdas Kindheit.
Auch Lallis Familie war ohne einen Mann; der Vater hatte die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen und eine andere Frau geheiratet. Die kleine Magda zog daraus ihre eigenen Schlüsse: »Ich habe einen Vater. Lalli hat eine Mutter. Manche Kinder haben also einen Vater, andere haben eine Mutter.« Da man sich mit der Aufklärung der Kinder damals gehörig Zeit ließ, wurde Magdas Überzeugung erst nach Jahren erschüttert. Doch nicht etwa durch eine kindgemäße Aufklärung über Zeugung und Geburt, sondern durch eine jähe und geradezu brutale Aufklärung über ihr Schicksal, die ihr klarmachte, dass auch in ihrem Leben eine Mutter gewesen war. Eines Tages stand Magda daneben, als eine Kammerdienerin zur anderen sagte: »È lei che ha ammazzato sua madre!« (»Sie ist es, die ihre Mutter umgebracht hat!«) Erst begriff Magda gar nicht, von wem die Rede war. Aber dann sah sie den Blick der zweiten Zofe auf sich gerichtet. Sie war gemeint! Sie war die Mörderin ihrer Mutter!
Der Gedanke ließ Magda nicht mehr los, der Satz grub sich in ihr Herz ein. Einen Menschen, mit dem sie darüber hätte reden können, kannte sie nicht.
3
Angst
FLORENZ 1910–1911
Oscar Grilli di Cortona war ein Mann, der sein Herz nicht auf der Zunge trug. Vielleicht gehörte es nicht zu seinem Charakter und Temperament, Gefühle zu zeigen und zu benennen, vielleicht waren sie auch unter dem Panzer verschlossen, den die Erziehung in seinen Kreisen jedem jungen Mann um die Brust legte, damit er ein brauchbarer Offizier und würdevoller Repräsentant seines Standes wurde. Nur eine Regung seines Herzens blieb seiner Umwelt nicht verborgen: seine Liebe zu Elena Wissotzky Poggio, genannt Nelly. Nelly war die Liebe seines Lebens. Sie war es als Lebende, und sie blieb es als Tote. Daran änderte sich auch nichts, als Oscar noch einmal heiratete. Jahrelang hatte er der geballten Übermacht seiner Freunde und Ratgeber Widerstand geleistet. Ein Mann, zumal einer in seiner Stellung, müsse verheiratet sein, und so wie bisher gehe es einfach nicht weiter, fanden sie. Oscar hätte gerne so weitergelebt wie bisher, beruflich erfolgreich, privat jedoch einsam und zurückgezogen. Aber schließlich kapitulierte er und ließ sich nach neun Jahren als Witwer zu einer zweiten Ehe überreden.
Er wählte Marguerite, eine Italienerin, Katholikin, Florentinerin, nichts lag näher. Am 1. Dezember 1910 wurde Hochzeit gefeiert, anschließend bezog das Paar ein Haus in der Via Leone X°, nicht weit von der Fortezza – und übernahm Magda in den neu gegründeten Hausstand, jedenfalls für die Sonntage. Tatsächlich war die Zehnjährige für Marguerite so etwas wie eine Altlast ihres Gatten. Nicht, dass sie Kinder nicht gemocht hätte; sie wurde in der Folgezeit selbst Mutter von drei Kindern und war in dieser Rolle nicht unglücklich. Doch Magda war die wandelnde Erinnerung