Mit Baťa im Dschungel. Markéta Pilátová

Mit Baťa im Dschungel - Markéta Pilátová


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geschickt hatte, damit sie im Ausland Arbeit fanden und keine Visumprobleme hatten. Er hatte sie gerettet und wollte auch mich retten. Er glaubte, er selbst würde seinen Zlíner Leuten vom Ausland aus nützlicher sein, von dort könnte er eine größere Produktion sicherstellen und all jene unterstützen, die die Tschechoslowakei dann befreien würden. Und wer weiß, was er sich noch alles vorstellte … Aber ich wollte nicht fliehen. Wollte bei meiner Fabrik, meinen Arbeitern, meinen Bildern bleiben. Bei meinem Lebenswerk, wie der pathetische Jan Bat’a sagen würde. War es Naivität von mir? War es Mut? Weder noch. Ich war eben nur außer mir vor Wut. Ich erinnere mich, wie ich stundenlang durchs Zimmer marschierte und vor Zorn manchmal ein Glas in der Hand zerdrückte, worauf mir das Dienstmädchen die Hand desinfizieren und mit einem frischen Taschentuch verbinden musste. Die Scherben auf dem noch neuen Perserteppich … Manchmal rief ich das Mädchen gar nicht erst, sondern sah zu, wie kleine Blutstropfen durch meine geballte Faust sickerten. Es war offensichtlich, wie alles enden würde, und dennoch blieb ich. Aus blankem Trotz.

      Das alles spielte nun keine Rolle mehr, hier, in dieser dunklen havannischen Bude am Hafen, wo es so furchtbar heiß war, wo mein ganzer Körper wehtat und kein Insulin zu bekommen war. Wo es mich schmerzte, dass ich am Ende doch hatte gehen müssen, wenn auch auf andere Weise, über den viel wahnsinnigeren Umweg des Konzentrationslagers. Ich dachte daran zurück, wie Jan mich kurz vor seiner Abreise noch von Zlín aus angerufen hatte. Wie seine feste Stimme mit diesem allerliebsten ostmährischen Akzent aus dem Hörer dröhnte, sodass ich ihn ein Stück vom Ohr weghalten musste. Er begann immer mit seinem leutseligen »Nu«, und dann redete er Tacheles. »Nu werd doch verdammt noch mal vernünftig, Jindřich, du weißt, dass uns alle der Strang erwartet, ob wir den Fritzen die Fabriken herausgeben oder nicht. Und du mit deinem Starrkopf!« – »Weil ich Jude bin?« – »Ganz genau, Jindřich, weil du ein Jude bist. Aber du bist auch ein mutiger Mensch, und ich versteh dich, und wie ich dich verstehe … Ich werde ihn dir nicht ausreden, deinen Patriotismus, ich empfinde ihn ja auch, Herrschaftszeiten, aber noch mehr fühle ich die Verantwortung für mein Lebenswerk, das weiterleben muss! Ich muss draußen retten und wiederaufbauen, was geht. Zu große Worte für dich? Sei’s drum. Nu, wir beide verstehen uns, ich habe dich nur warnen wollen. Čipera schlägt sicher keinen blinden Alarm.« Darauf meinte ich, ich dächte doch. Und dass es mir genau wie ihm um mein Lebenswerk gehe, um alles, was ich über die Jahre hinweg aufgebaut und entwickelt hätte. Die Deutschen würden sich doch den eigenen Ast absägen, wollten sie den Kopf der Fabriken ausschalten, die seien doch auf wirtschaftliche Erfolge aus, oder nicht? »Jindřich, das hier ist nichts Rationales, besonders nicht in deinem … hm, jüdischen Fall. Bitte, überleg’s dir noch einmal. Und natürlich kann Hedvička, deine hübsche Ička, mit den Kindern das gleiche Schiff nehmen wie wir. Ich achte auf sie, versprochen.« Ich vertraute ihm. Er hielt immer sein Wort, war ein redlicher Kerl.

      Und nun war ich hier, in dieser schäbigen havannischen Absteige, wo mir eine Mulattin jeden Morgen etwas Wasser und Kokosmilch brachte, zum Trinken meinen Kopf stützte und meine Hand verband, wenn ich wieder vor Zorn eins ihrer schmierigen kleinen Gläschen zerdrückt hatte. Nur tropfte das Blut jetzt auf rissige alte Marmorfliesen. Zum Teufel mit meinem Glauben an die Heimat, mit meinem dummen Stolz! Mir ging es schrecklich schlecht, seit dieser deutsche Arzt, den ich nach Zahlung der Freikaufsumme von acht Millionen als Aufpasser auf die Schiffsreise mitnehmen musste, mir die Insulinspritze aufgezwungen hatte. Er war mit mir an Land gegangen und dann verschwunden, und ich blieb allein zurück. Seine kalten Hände, während er langsam den Metallkolben der Spritze aufzog. Die Nadel, die in meine Haut drang, verdammt, und dabei habe ich während der ganzen Überfahrt auf den Kerl achtgegeben, habe verflucht aufgepasst, dass ich im Speisesaal so fern wie möglich von ihm saß, dass ich kein einziges Stück Zucker aß und dass ich weder ihn noch irgendeinen anderen Arzt auf dem Schiff um Hilfe bitten musste. So viel Kraft hat mich das gekostet, völlig unnötigerweise! Ich hielt mich an Deck auf, beobachtete, wie sich tiefblaue, violette und rote Wolken zusammenballten und zu einem Gewitter anschwollen, und als es losging, zog ich mich nicht in die Kajüte zurück, sondern ließ mich von dem lauen Regenguss durchnässen, der die ganze Kälte von Dachau und Buchenwald aus mir herausspülte, sog die Wärme der schaukelnden Wellen und den salzigen Meeresduft und das Gelächter der hinter dem Schiff herziehenden Möwen in mich auf. Eine Freiheit, von der ich wusste, wie fragil sie ist, denn sie hatten mich zwar aus dem Lager entlassen, mussten sich jedoch darüber im Klaren sein, dass, sofern ich am Leben blieb, in allen Zeitungen der Welt bald Nachrichten aus Buchenwald stehen würden, weil die Welt endlich erfahren musste, was in den Lagern geschah. Und selbstverständlich hatte ich die Absicht, es überall lauthals zu verkünden. Davon sagte ich zwar nichts dem deutschen Arzt, in dem ich unzweifelhaft meinen Henker ausmachte, aber wir alle wussten, dass es das Erste wäre, was ich tun würde, sobald ich in New York an Land ging.

      Aber dann legten wir in Havanna an – es sollte nur für eine Nacht sein – und ich sah die Stadt, die ich immer schon hatte sehen wollen. Bin gierig in sie eingetaucht, in die abendliche Brise mit den Wellenspritzern, die über die Mole nieselten. Mich überkam so eine dunkle Vorahnung, dass ich womöglich zum letzten Mal einen Hafen und eine abendliche Stadt besuchte, und ich wanderte unruhig an den Kneipen entlang, lauschte der sanft rhythmischen, einlullenden Musik, die aus ihnen drang wie der Duft von scharf gewürztem, gebratenem Fleisch in dicker Tomatensoße. Ich betrachtete die Volantröcke der Tänzerinnen, die gewachsten Schnurrbärte ihrer Galane und wünschte mir so sehr, ich hätte nicht die Zuckerkrankheit und die Albträume von den Lagern und wäre nicht fünfundsechzig Jahre alt. Am liebsten hätte ich eines dieser Mädchen dafür bezahlt, dass es einfach nur mit mir auf ein Zimmer ging, sich an mich schmiegte und mich beruhigte, dass es mir die spanischen Schlaflieder vorsang, die mir ein spanischer Republikaner im Konzentrationslager beigebracht hatte. Er sang sie jeden Abend in der Baracke und ich kann sie nicht vergessen. Arrorró mi niňo, arrorró mi sol. Das Mädchen würde mir über den Kopf streichen und meine Tränen abwischen, dann würden wir draußen vor der Tür des Mietshauses mit den Jugendstilornamenten eine Zigarre zusammen rauchen, und am nächsten Morgen würde ich nirgendwohin eilen, sondern einen starken Kaffee mit vier Stück Zucker und süßen Reisauflauf mit Zimt zu mir nehmen. Das alles ging mir durch den Kopf, und ich konnte mich noch immer nicht entscheiden, in welcher Bar ich den ersten Drink zu mir nehmen würde. Ich kam an Tavernen vorbei, in denen Matrosen grölend lachten und ihre Karten auf die vom Salz zerfressenen Eichentische klatschten, an Luxusrestaurants, in die einzukehren ich keine Lust hatte, obwohl ich es mir hätte leisten können, an Tanzlokalen mit roten Lampions am Eingang, aus denen laute und zugleich ruhige Salsamusik drang, unterlegt vom Takt der scharrenden Schuhsohlen auf hölzernem Boden. Neugierig blickte ich in eines dieser Lokale hinein und stellte fest, dass es offenbar noch zu früh war. Das Orchester spielte zwar schon, aber nur ein einziges seltsames Paar drückte sich im Saal aneinander. Ein alter Mann führte ein junges Mädchen, vielleicht seine Enkelin, die ein eng anliegendes, langes weißes Kleid trug. Sie bewegten sich wie zwei Gespenster, er war einen Kopf kleiner als sie, weil sie hohe rote Absatzschuhe trug. Doch der Alte führte sie mit sicherem Griff, gab die Schritte und den Ton ihres vollendeten Tanzes vor. Ich hätte hineingehen und ein Teil dieses Bildes werden können. Hätte mich an einen der Tische setzen und mir eine gekühlte Limonade mit Rum oder einen Tequila bestellen können, das alles hätte ich tun können. Doch von diesen vielen Möglichkeiten drehte sich mir der Kopf und meine Knie wurden weich. Ich konnte keinen Schritt weiter tun.

      Ich erinnere mich, wie ich an einer feuchten, nach kaltem Schimmel riechenden Hausmauer entlang hinabrutschte. Ich leckte an dem Schimmel, kostete seinen Geschmack. Eine Frau kam aus dem Haus geeilt, kräftig gebaut, mollig, mit braungebrannten Armen. Mit diesen Armen gestikulierte sie wie eine Italienerin, und wie eine echte Mamma hob sie mich hoch, drückte mich an ihre Brust und schleifte mich hoch in ihr Zimmer im ersten Stock. Nur Arrorró mi niňo, arrorró mi sol sang sie nicht. Sie roch nach Zimt und brenzligem Fett, als hätte sie sich von Kopf bis Fuß mit diesem Duft eingerieben, der mich erregte und mir zugleich den Atem benahm. Ganze Sippschaften von ebenso lauten Menschen, die nach Palmöl und Knoblauch und gekochtem Reis rochen, kamen mich begutachten, fuchtelten mit ihren braunen, muskulösen oder üppigen Armen und wussten sich keinen Rat mit mir. Wie lange bin ich dort gewesen? Wie viel Zeit verging? Ich hielt mir einen meiner Druckknöpfe vors Auge wie ein Monokel und versuchte dadurch meine Aussichten zu erkennen. Dachte zurück an eine andere Schiffsreise vor fast dreißig


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