Mit Baťa im Dschungel. Markéta Pilátová

Mit Baťa im Dschungel - Markéta Pilátová


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hatte ich auch an meinen Vater denken müssen. Dort wurde mir wieder bewusst, dass er nie wirklich von seinen dunklen Zeiten erzählt hatte. Nur einmal hatte er sich furchtbar aufgeregt, als meine Cousins und ich Partisanenkrieg spielten. Er verbot es uns und erklärte, wir wüssten ja gar nicht, was wir da täten, wir sollten uns ein anderes Spiel überlegen. Papa hatte nicht Partisan gespielt, er und Dragoslav waren wirklich Partisanen gewesen. Von dieser serbischen Seite in mir erfuhr ich nur stückweise, mal erzählte mir Mama etwas, mal meine Tanten, aber aus Papa war kaum etwas herauszubekommen. Am liebsten erzählte er uns Geschichten vom Lala. Herrschaftszeiten, waren seine Lala-Witze komisch! Als ich sie allerdings jemandem auf Tschechisch weitererzählen wollte, waren sie überhaupt nicht mehr so lustig. Auf Serbisch brauchte Papa nur ein, zwei Sätze vom Lala zu erzählen, und schon krümmten wir uns alle vor Lachen. Es war ein völliges Rätsel – oder im Gegenteil der Schlüssel zu allem? Zu meinem ganzen Leben? Großvater impfte uns immer ein, so viele Sprachen man spreche, so oft sei man Mensch, das habe schon Masaryk gesagt. Wie oft war ich also Mensch? Dreimal? War ich auf portugiesische, serbische oder tschechische Weise Mensch, oder doch nur auf mährische? Oder war ich womöglich die Essenz aus allem, was man mir beigebracht hatte, ein Gulasch aus all den Sprachbruchstücken, die unabhängig von den Ländern, in denen man sie sprach, in meinem Kopf existierten?

       LJUBODRAG

      (Schwiegersohn Jan Antonín Bat’as, Ehemann von Ludmila Bat’ová, Vater von Dolores Bat’a Arambašić)

      Ich bin Schuhmacher gewesen. Dann Partisan. Anschließend wieder Schuhmacher. Später Farmer. Und ich denke nicht gerne an früher. Lieber bin ich auf dem Pferderücken unterwegs oder küsse ein dralles Frauenzimmer. Keine Sorge also, dass ich zu geschwätzig werden könnte. Aber aufrichtig will ich schon sein. Ich vermisse die milde Adria, die nicht so weit ist wie das brasilianische Meer. Vermisse die Berge und den Schnee und kann auch unseren Himmel nicht vergessen, der ein völlig anderes Blau hatte. Dafür habe ich hier Ludmila gefunden. Und ich hab sie geheiratet – dass es nicht die romantischste aller Anbahnungen war, was soll’s. Anfangs war ich wohl nur eine geeignete Partie, aber dann konnte ich sie mit meiner temperamentvollen Art für mich einnehmen. Oder wie man es auch nennen mag. Die Leute wollen immer alles irgendwie nennen. Ihm einen Namen geben. Es in Schubladen stecken, die sie begreifen, obwohl es, wenn man etwas wohin steckt und benennt, noch überhaupt nicht heißt, dass man es auch begreift. Ludmila war mir ein echter Gefährte. Sie war wie geschaffen für mich, und ich hoffentlich auch für sie. Letztlich war sie nämlich auch so eine wilde Seele wie ich, auch wenn sie geglaubt hatte, dass ihre Kindheit und Jugend, die sie mit Klavierstunden und Tanznachmittagen, polierten Champagnerflöten und weißen Handschuhen und Kleidchen und Flitterkram von Dior verbracht hatte, sie zu etwas völlig anderem prädestinierten. Aber zum Glück hat das Schicksal sie mir zugespielt, und bei mir kam zum Vorschein, was Lidka alles konnte: schießen wie ein Mann, besser reiten als ich und einen Reifen wechseln, wenn der Jeep auf einem der Schlaglochwege eine Panne hatte. Eine Frau, die die Ärmel hochkrempeln und, wenn es drauf ankam, Befehle erteilen konnte. Eine mulher de comando, wie die Brasilianer sagen. Ich mag sie so sehr und würde ihr alles verzeihen, sogar diesen Pianisten, diesen Klavierling, der sich auf der ganzen Welt wichtigtut und die Tasten hoch- und runterklimpert, dass mir der Kopf davon schwummert. Der aufgeblasen durch die Zeitungen paradiert, aus denen Lidka dann jedes noch so kleine Artikelchen ausschneidet. Jeden Fitzel über den blassen Wicht klebt sie in ein rotes Heft und bemüht sich gar nicht erst, es vor mir zu verbergen. Mir wär’s lieber, sie würde es heimlich tun und nicht direkt vor meiner Nase, aber dazu ist sie in ihrer Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit nicht fähig. Manchmal könnte sie sich ein bisschen mehr wie meine Ehefrau verhalten und nicht wie jener Gefährte, von dem ich vorhin so lobend gesprochen habe. Aber das wäre wohl zu viel verlangt. Rudolf Firkušný … ein Name wie von einem Zirkusplakat! Aber ich bin hier, und Lidka ist hier bei mir, es kann also nichts passieren. Um uns der Dschungel, die Sonne, die jeden Zweifel verbrennt, mein Hund Kazan, mein Strohhut und mein Vieh. Was wollte ich da mehr? Genau so etwas habe ich mir schließlich erträumt, als ich im Gefängnis saß, mit zerschlagenen Zähnen und einem Hunger, dass ich die Kakerlaken hätte verputzen können, von denen es dort wimmelte. Und ich habe sie auch verputzt. Ich schwor mir, wenn ich da jemals lebendig herauskäme, wollte ich mich niemals über mein Leben beschweren. Und ich hab mich auch nicht beschwert und mir immer wieder gesagt, dass ich eben lebe, so gut ich kann. Oder so annähernd. Und nachdem ich Lidka geheiratet hatte und Dolores geboren war, wünschte ich mir nichts mehr weiter. War nie hinter dem großen Glück und großen Plänen her. Dafür hatten wir bei uns Jan Antonín. Sicher, es war schlimm, dass ihm die Roten in der Heimat alles weggenommen und ihn zum faschistischen Ungeheuer erklärt hatten, trotzdem konnte ich dafür nie so ein großes Mitleid aufbringen. Er hatte zu essen, konnte im Grunde machen, was er wollte, wenn auch sein Geld wohl nicht dafür reichte, alle, an denen ihm etwas lag, nach Lateinamerika zu holen und hier ein neues Zlín aufzubauen. Gut, na und? Es war eine Tragödie, ein Kummer so groß und massiv wie meine weißen Nelore-Rinder, dabei hätte er doch einfach alles in den Wind schießen und ganz von vorn beginnen können, hätte sich mit seinem dummen Neffen in Kanada einigen und allen Streit beilegen können. Aber da wäre er wohl nicht der Chef gewesen. Der Gigant!

      Der Gigant hatte jedoch nie in einer Zelle der Gestapo gesessen, hatte nie einen schimmeligen Brotkanten in mickrige Stücke zerteilt und sie im funzeligen Tageslicht getrocknet, um etwas für schlechtere Zeiten zu haben, in der Schnauze nur noch ein paar Zähne, weil die anderen ein Nazi mit dem Gewehrkolben ausgeschlagen hatte. Ich gehörte zwar zum Widerstand, war aber nur ein kleiner Fisch, die Gestapo hatte eigentlich meinen Bruder Dragoslav gewollt, weil der die Gruppe befehligte. Wir waren ebenfalls eine Schuhmacherfamilie, Vater besaß einen Betrieb, und wir hatten den Bergpartisanen um Draža Mihailović feste Stiefel geliefert, und am Ende hatten Dragoslav und ich uns ihnen angeschlossen. Wir wurden jedoch verpfiffen, und bei einem gescheiterten Gefecht konnte ich nicht mehr rechtzeitig das Weite suchen. Dragoslav war schon immer flinker gewesen. Sie hielten mich für ihn, und ich habe es zwei Tage lang durchgestanden, keinen Mucks zu sagen, obwohl sie mich übel zugerichtet haben. Schließlich haben sie ihren Irrtum bemerkt: So ein dünner, finsterer Kerl kam, um mich zu begutachten, und schüttelte nur missmutig den Kopf. Einen Monat lang saß ich dann in der Zelle, hobelte immer dünnere Scheibchen vom Brot und fing Kakerlaken ein, deren Deckflügel zwischen den Zähnen knirschten. Dann haben sie mich gehen lassen. Sie erklärten nicht, weshalb, und ich hatte keine Ahnung, warum sie mich nicht einfach erschossen oder erhängten. Ich dachte, dass mich vielleicht jemand freigekauft hatte, aber bis heute habe ich nichts darüber erfahren. Ich forschte auch nicht weiter nach, packte nur diese wundersame Chance beim Schopf und grübelte nicht lange darüber. Denn langes Grübeln bringt einen nur selten weiter. Ich sammelte mein Schusterwerkzeug zusammen und machte mich zu Fuß über Italien nach England auf, wo ich mich den Alliierten anschloss. In der Zelle hatte ich mir auch geschworen, dass ich in einer möglichst weiten Landschaft leben würde, dass mich niemand mehr irgendwo einsperren würde. Aber dass ich mal achttausend Hektar brasilianischen Urwald besitzen würde, das hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen.

      Nun hatte ich als Partisan nicht für die Kommunisten gekämpft, sondern für König Petar. Dragoslav und ich konnten uns also leicht ausrechnen, dass wir nach dem Krieg nicht sonderlich beliebt sein würden. Man musste nur einmal tief durch die Nase einatmen, und es stank bereits nach neuen Gräueln. Wir beide wollten ohnehin so weit weg wie möglich, wollten die Welt kennenlernen, anderen Schnaps, andere Frauen. Also ließ Dragoslav seinen Finger über der Weltkarte kreisen, und Brasilien gefiel uns nicht schlecht, weil es so riesengroß aussah und weil unserer Vorstellung nach viele Menschen dort barfuß gingen, denen wir Schuhwerk anfertigen konnten, wie unser Vater es uns beigebracht hatte. Nach diesem Krieg konnte uns nichts mehr schrecken. Wir fürchteten weder den Teufel noch irgendwelche Krokodile, Schlangen oder Urwaldindianer. Alles ließ sich überleben, wenn man nur ein Gewehr bei sich hatte und damit umgehen konnte. Und als wir im Hafen von Santos einliefen, kam uns zu Ohren, der legendäre Schuhmacherkönig Jan Antonín Bat’a habe die Stadt Batatuba gegründet und würde dort eine Fabrik aufbauen. Natürlich kannten wir ihn, denn auch in Jugoslawien hatte er vor dem Krieg Geschäfte und Fabriken besessen, gegen die Vaters Betrieb nur eine bescheidene Werkstätte war. Aber als wir Herrn Bat’a in Brasilien


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