Mit Baťa im Dschungel. Markéta Pilátová

Mit Baťa im Dschungel - Markéta Pilátová


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während die anderen den Dom besichtigten, und blieb etwa eine Stunde dort sitzen. Und während meine Freunde mich alleine ließen und zum Goldenen Gässchen gingen und sich die Kleinseite anschauten, Cafés und Souvenirläden durchstreiften, saß ich immer noch da und heulte. Manchmal schöpfte ich kurz Atem und beobachtete die Touristenströme, dann heulte ich wieder weiter. Es war wie ein Platzregen, ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe. Nie zuvor war mir so etwas passiert. Schließlich kamen die anderen mich abholen und brachten mich ins Hotel, wo ich mich ins Bett legte und leise weiterweinte. Abends gingen wir zum Essen ins Restaurant Zlatá Husa, die Goldene Gans. Die Speisen dort waren unglaublich billig, und mir gefielen die Holzverkleidung an den Wänden, der Biergeruch, die unwirschen Kellner. Mir kam alles so vertraut vor, und vielleicht deshalb fing ich wieder an zu weinen und weinte dann die ganze Nacht durch. Die armen Juristen wussten gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten, und begriffen nichts. Aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Am nächsten Morgen war es dann vorbei. Ich stand auf und beschloss, jetzt gleich nach Zlín zu fahren. Die anderen wollten mit mir kommen und sich die Stadt anschauen, von der ich behauptet hatte, dass meine Familie sie errichtet habe. Wir wollten für den ganzen Tag ein Taxi von Prag nach Zlín buchen. Aber ich glaubte dem Fahrer sagen zu müssen, wer ich war, denn ich fürchtete, er könnte Probleme bekommen, wenn er die Enkelin von Jan Antonín Bat’a fuhr. »Könnten Sie uns nach Zlín bringen?« – »Ach, Sie sind das?!« Es war derselbe Chauffeur, der uns vom Flughafen hergebracht hatte, offenbar wurde er von diesem Hotel oft angerufen. »Junge Dame, wissen Sie denn nicht, dass Zlín schon lange nicht mehr existiert?« – »Wie bitte?« Ich konnte es nicht fassen. »Na ja, als Stadt schon noch, aber es heißt jetzt Gottwaldov!« Er lachte, und mir fiel ein, dass Großvater es einmal erzählt hatte, als von der Schwiegermama Gerbecová ein Brief aus Zlín gekommen war, in dem es hieß: »Nu, Jan, schreib ab jetzt nach Gottwaldov«, und Großmutter Maja darauf vor Wut den Löffel auf den Tisch geknallt hatte. »Ach ja, richtig. Und würden Sie mich dorthin fahren, auch wenn ich die Enkelin von Jan Antonín Bat’a bin?«, vergewisserte ich mich. »Im Ernst?! Das gibt’s doch nicht!«, rief er aus und fügte hinzu: »Reinsetzen, los geht’s, wir fahren nach Zlín, junge Dame. Nach Zlín fahre ich Sie sehr gern, nach Gottwaldov würde ich nicht fahren, aber Zlín ist was andres«, erklärte er lächelnd und meinte noch, er werde schon keine Probleme bekommen.

      Also fuhren wir los. Hin zu dem mythischen Ort, dem Mittelpunkt aller Anekdoten und Legenden meiner Kindheit. Es war noch nicht die Suche nach dem heiligen Gral der Gerechtigkeit, die sollte erst später kommen, nach anderen, nicht ganz so abenteuerlichen Besuchen. Nun sah ich also das erste Mal Zlín. Prag war mir so grau verstaubt erschienen, überall bröckelnder Putz und Risse, und Zlín sah nicht viel anders aus. Ich fand, sie könnten hier doch mal streichen, vor allem Großvaters Fabrik. Wir hatten ein paar Straßen entfernt geparkt, und ich ging zu Fuß dorthin. Es war nachmittags, und die Leute kamen gerade aus dem Fabrikgebäude. Und da fiel mir auf, dass sie im Vergleich mit den Pragern irgendwie fröhlicher wirkten. Die Männer scherzten miteinander, die Frauen schwangen ihre Taschen und ihre langen Haare und erzählten sich etwas Lustiges. Vielleicht war ja doch noch etwas vom Geist der sogenannten Batamanen übrig geblieben? Ich nahm mir vor, meiner Mutter und meinen Tanten davon zu erzählen. Aber was, wenn auch vom Geist des Jahres 1947 etwas zurückgeblieben war, als, wie ein Foto bezeugt, am Haupttor ein Schild mit der Aufschrift hing: Höchststrafe für den Verräter J.A. Bat’a. Was blieb in dieser Fabrik überhaupt noch von Großvater?

      Anschließend wollte ich den Waldfriedhof besuchen, um am Grab meiner Urgroßmütter und von Großonkel Tomáš Blumen abzulegen. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber in dem Moment glaubte ich in meinem Kopf Worte zu hören, die eine besondere Vorstellung von diesem Ort heraufbeschworen. Diese Stimme in meinem Kopf war nicht die von Tomáš, sondern die meines Großvaters, und sie sagte: »Wir haben uns daran gewöhnt, den Friedhof als einen Ort des Jammerns und Wehklagens zu betrachten. Doch ein Friedhof sollte, wie alles auf der Welt, dem Leben dienen. Aus diesem Grunde sollte er so beschaffen sein, dass die Lebenden ihn gerne und mit ruhiger Heiterkeit aufsuchen. Sie könnten dort zum Beispiel etwas spielen, eine Kleinigkeit vespern und sich im Guten an die Angehörigen erinnern, die dort in Stille und Frieden und unter dem Rauschen der Bäume schlafen.« Ganz genau: Wie gerne wollte ich jetzt in friedlicher Ruhe dort auf dem Friedhof einen kleinen Imbiss einnehmen und darüber nachdenken, was ich hier eigentlich tue. Doch der Taxifahrer hatte keine Ahnung, wo das Ganze sein könnte. Wir fragten an der Straße eine alte Frau mit Kopftuch und Schürze, die sofort bereit war, es uns zu zeigen, es sei nicht weit, am besten fahre sie gleich mit. Mit einem Ächzen schob sie sich zu uns ins Taxi und wir fuhren los. Sie redete so wie ich, sagte »Nu« und »Herrschaftszeiten«, und nachdem sie uns aus der Nase gezogen hatte, was wir auf dem Friedhof suchten, zwinkerte sie mir zu und erklärte, sie wolle uns zuvor noch etwas zeigen. Sie dirigierte den Chauffeur bis draußen vor die Stadt, und dort auf dem Ortsschild hatte jemand GOTTWALDOV durchgestrichen und von Hand ZLÍN-BAŤA darübergeschrieben. Ich wollte es schon fotografieren, überlegte es mir aber anders, schließlich wollte ich auch wieder nach Brasilien zurückgelangen. Auf der Rückfahrt von Zlín nach Prag kamen wir an einem riesigen Transparent mit der roten Aufschrift Auf ewig mit der Sowjetunion vorbei, aber quer darüber stand mit schwarzem Spray gesprüht SCHEISS DRAUF. Ich musste so lachen, dass ich mir fast in die Hose machte, und als ich es den anderen übersetzte, bebte das ganze Taxi vor Gelächter. Auch der Chauffeur grinste und rauchte zufrieden. Dann wollte er von mir wissen, ob ich noch etwas von dem gespürt hätte, wie Zlín früher gewesen war.

      Nun, ich bin 1948 geboren, mitten in der schwierigsten Phase, als man Großvater in der Heimat für erfundene Verbrechen verurteilte, sein eigener Neffe und seine Schwägerin gegen ihn intrigierten und er auch noch seine ausländischen Fabriken verlor. Trotzdem hatte ich im Grunde alles mitbekommen, ich war ja Einzelkind und wohl deshalb mehr als die anderen Enkel mit Großvater und den Erwachsenen zusammen. Dabei hatte ich vieles aufgeschnappt und irgendwo in meinem blonden Köpfchen verwahrt, für meine spätere Melancholie. Bis ich sieben Jahre alt war, hatte ich nur Tschechisch gesprochen, Portugiesisch verstand ich zwar auch, aber so richtig lernte ich es erst in der Schule. Papa redete mit mir nur Serbisch, und diese Sprache liebte ich, auf eine andere Weise als das Tschechische. Vaters Sprache war etwas Selteneres, sie klang kerniger, oft schlugen aus ihr geradezu Funken. Allerdings erzählte Papa nicht gerne von Serbien und von früher. Also schaute ich mir stattdessen die Fotos meiner Großeltern an. Sie besaßen eine Unmenge davon, Alben jeder Größe, in Leder gebunden, in rotem Samt oder in flaschengrünem Leinen, nie sahen sie banal aus. Es waren sorgfältig beschriftete, systematisch geordnete Reliquien, sortierte Erinnerungen, und überall darin war Zlín. Ich kannte bis ins kleinste Detail Baupläne, sogar Entwürfe für den Wiederaufbau eines Nachkriegs-Zlíns, die Großvater sich hatte anfertigen und nach Brasilien schicken lassen und zu denen er Anmerkungen und eigene Skizzen gemacht hatte. Das Zlín meiner Kindheit war eine sagenhafte Stadt, ein Märchenreich, das man uns weggenommen hatte und das ich niemals vergessen durfte, denn das wäre ein Verrat an allen gewesen, besonders an Großvater. Und der war für mich ein König, ein großer, weiser, geduldiger, auch gebrochener Held. Insofern konnte ich vielleicht tatsächlich vergleichen, auch wenn ich niemals zuvor leibhaftig in Zlín gewesen war. Es steckte tief in mir drin, und nun, in dem schäbigen Taxi, in dem es nach Zigaretten und Bier roch und vor dessen Windschutzscheibe ein nacktes Püppchen baumelte, merkte ich, dass ich, nun ja, dass ich enttäuscht war. Die Stadt war überhaupt nicht so großartig, so hübsch geordnet und strukturiert, wie ich es mir mein Leben lang vorgestellt hatte. Müde hatte sie gewirkt, fast so wie Großvater. Und trotzdem wäre ich gerne noch dort geblieben. Hätte mir gerne eine kleine Wohnung oder eins der Backsteinhäuschen gemietet, um dort im Garten zu sitzen und mich von der Frühlingssonne wärmen zu lassen. Ich wäre auf den Hügeln der Umgebung spazieren gegangen und hätte zu begreifen versucht, was Tomáš und Jan Antonín sich bei alledem eigentlich gedacht hatten. Warum sie dies alles unternommen hatten, warum ihnen nie genügt hatte, was sie bereits hatten, warum sie ständig etwas Neues erfunden, organisiert und produziert hatten. Warum hatten sie sich nicht einfach hingesetzt und waren’s zufrieden gewesen? Vielleicht war es die Brasilianerin in mir, die so dachte, denn ich konnte noch so sehr die Tochter meiner Mutter und die Enkelin Jan Antonín Bat’as sein, Brasilien steckte doch ebenso tief in mir wie Zlín. Und das war gut so, denn nur das unbekümmerte Brasilien konnte diese Familienbürde aufwiegen, die man mir statt silbernen


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