Mit Baťa im Dschungel. Markéta Pilátová
in dem sie so nahe war und ich sie ansehen konnte, wollte ich so lange wie möglich auskosten. So lange wie möglich ausdehnen, ins Endlose ziehen.
DOLORES
Spitzbuben
240 g Mehl
140 g Butter
140 g Zucker
70 g geschälte und gehobelte Mandeln
2 Eigelb
Saft und geriebene Schale einer Zitrone
Der Teig wird dünn ausgerollt, mit Förmchen ausgestochen und gebacken.
Jeweils zwei gebackene Spitzbuben mit Konfitüre zusammenkleben.
Man bekam furchtbar klebrige Finger davon, denn gegen die weihnachtliche Hitze in Batatuba hatten Teig und Marmelade keine Chance. In das runde Loch in der Mitte der Plätzchen kam Jaboticaba- oder Mangomarmelade hinein. Eigentlich heißt das Gebäck anders, aber Linzer Augen sagen mir nichts, es waren eben einfach Spitzbuben, weil sie frech an den Fingern pappten. Doch als ich dann einmal welche in Zlín probierte, war es nicht dasselbe. So wie sich überhaupt alles anders anfühlte, als ich es mir vorgestellt hatte, als ich zum ersten Mal dorthin fuhr, wohin Großmutter und Großvater nicht mehr hatten zurückkehren können. Ich hatte Freiheit spüren wollen, stattdessen empfand ich Zärtlichkeit. Zärtlichkeit gegenüber diesen viel zu großen Gebäuden, dem bewölkten Himmel, der so nah war und auf mich herabzufallen schien, statt hell zu leuchten und mir die Richtung zu weisen, wie es der brasilianische Himmel vermag, der immer hoch, klar und endlos ist. Trotzdem erfüllten mich in Prag, wo alles so beengt und von finsterer, blutiger Historie belastet erschien, die steinernen Brücken, das barocke Pathos der Statuen, die Fülle von Kunst, die vielen aufwändigen Details, die verschwenderisch gesetzten Pflastersteine auf Straßen und Gehwegen … erfüllte mich dies alles mit Zärtlichkeit und Bewunderung und noch etwas Trübem, für das ich weder im Tschechischen noch im Portugiesischen je einen Ausdruck gefunden habe. Vor allem aber empfand ich, dass ich zu alledem ganz klar gehörte, dass dies endlich wirklich ich war, die sich da in einen Mantel mummelte und sich nicht frei, aber mit allem hier verbunden fühlte. Und auch eine Schwere überkam mich, eine Sehnsucht, ein Schmerz. Ich sah die Stein gewordenen Narben in diesem wunderschönen, so altertümlichen Antlitz der Stadt. Sah das immer wieder neue Auferstehen aus der Asche, diesen für mich unbegreiflichen Lebenswillen, den Willen, alle Ereignisse zu überdauern, die sich hier stets überstürzt hatten. Wie ist es möglich, dass ihr eure Sprache bewahrt habt, wie kann es sein, dass ihr trotz allem immer noch hier seid? Da war Bewunderung und zugleich Erschrecken vor diesen Narben, vor dem versehrten, rissigen Bild, das wie unter einem Schleier hervorschien, unter dem feinen Tüll, der über das Gesicht des Landes gebreitet war, das Jan Antonín und Maja mit ihren Kindern hatten verlassen müssen. Ihr Menschen hier seid immer als Erste im Fadenkreuz, und euer ganzes Gejammer kommt meiner Meinung nach daher, dass ihr völlig erdrückt seid von der Geschichte. In Brasilien konnte ich sein, wer und was immer ich sein wollte, dort verspürte ich die Freiheit des unendlich großen Landes, eines Landes, in dem keiner mit so vielen Narben leben musste.
Das Pathetische habe ich von Großvater geerbt.
Es war das Jahr 1982, als ich zum ersten Mal die Tschechoslowakei besuchte. Ein Grüppchen unbekümmerter junger Anwälte aus guten brasilianischen Familien reiste zu einem Kongress nach Rom, unternahm einen Ausflug nach Europa. Ich gehörte zu ihnen und wollte endlich einmal all das sehen, wovon sie mir zu Hause so viel erzählt hatten. Worüber sie Gedichte verfasst hatten. Was sie mir in so lebhaften Farben geschildert hatten. Ohne jemals dort gewesen zu sein, konnte ich genau sagen, wo in Rom sich welche Kirche befand oder wie Paris aussah, das ich von den Postkarten kannte, die meine Tanten und Mama in großen ramponierten Blechschachteln mit chinesischen Motiven aufbewahrt hatten. Von London, wo Mama und ihre Schwestern studiert hatten, kannte ich sogar etliche Straßennamen. Zunächst aber reisten wir zu dem Juristenkongress nach Rom. Als wir in einer Kaffeepause darüber sprachen, wer welche Sprachen beherrschte, erwähnte ich, dass ich Tschechisch und Serbisch konnte. »Aber … Prag ist ja nur ein Katzensprung von hier, wollen wir nicht nach Prag fahren, was meint ihr?«, meinte darauf einer. »Vergesst es, am Ende verhaften sie mich dort noch«, antwortete ich schnell. Überrascht sahen mich die anderen an. Dann wiegelten sie meine Sorgen mit dem Argument ab, der Krieg sei doch schon lange her, und ich sei immerhin brasilianische Staatsbürgerin. Kurz darauf berieten sie auch schon, wo man die Flugtickets besorgen konnte, und mir wurde ganz mulmig zumute. Ich wusste nicht, wie ich ihnen erklären sollte, dass ich nicht in die Tschechoslowakei hineindurfte. Dass ich auf der schwarzen Liste stand, wie meine ganze Familie. Dann dachte ich: Na ja, sie werden mir sowieso kein Visum geben. Aber als wir dann mit dem Chef der brasilianischen Anwaltskammer das tschechoslowakische Konsulat in Rom aufsuchten, wurde mir das Visum ausgestellt. Sie guckten dort zwar etwas seltsam – mehr überrascht als unfreundlich – und ließen uns lange warten, doch auf einmal hatte ich meinen Stempel im Pass. Und nun nur noch größere Angst. Ich bekam richtig weiche Knie. Ich fürchtete, das sei eine Falle, irgendein Trick der Geheimdienste. Sobald ich die Grenze überquerte, würden sie mich entführen, mich umbringen und meine Leiche irgendwo in einem Straßengraben liegen lassen. Aber das wollte ich meinen Kollegen nicht sagen. Sie sollten nicht wissen, dass ich solche paranoiden Ängste hegte. Außerdem hatten sie, als ich ihnen meine Familiengeschichte erzählt hatte, mich angesehen, als würden sie sich im Geiste an die Stirn tippen, als würden sie denken, dass ich das alles erfinde. Die Enkelin eines Schuhmagnaten? Weltweites Schuhimperium? Na klar doch! Dann soll sie uns diese Stadt, die ihre Familie aufgebaut hat, doch mal zeigen, jetzt erst recht! Ich hatte plötzlich das Gefühl, sie taten mir das absichtlich an und wollten mich auf die Probe stellen. Hätte ich doch lieber meinen Mund gehalten! Doch als wir dann morgens zum Flughafen aufbrachen, war ich mit einem Mal ganz ruhig. Ich hatte keine Angst mehr und freute mich ganz vorsichtig darauf, dass ich vielleicht wahrhaftig Zlín sehen würde. Und wenn ich nicht dorthin durfte, dann konnte ich vielleicht wenigstens Prag besuchen.
Die Beamten am Flughafen begutachteten meinen Pass eine halbe Ewigkeit, ließen ihn von Hand zu Hand wandern und musterten mich ausführlich. Mein Nachname Bat’a Arambašić musste wohl doch etwas in ihrem Kopf zum Rattern gebracht haben. Da gab es keine weibliche Endung mit -ová, nur einen männlichen Tabu-Nachnamen, kombiniert mit etwas Balkanischem … Doch keiner stellte mir eine Frage. Einer von ihnen machte einen Telefonanruf, dann nickten sie wieder, gaben mir schließlich den Pass zurück und ich durfte hindurch zur Ankunftshalle. Die anderen warteten schon auf mich, voller Neugier darauf, das kommunistische Land zu besichtigen. Ihre Begeisterung für das verbotene Abenteuer gefiel mir nicht. Ich war nicht neugierig. Ich war durcheinander. Ich verspürte zwar keine Angst mehr, aber es war, als hätte ich einen Schlag mit dem Eisenhammer auf den Kopf bekommen. Ein Bekannter unseres Chefs hatte ein Hotel für uns organisiert, das sich auf der Prager Kleinseite befand. Ich hatte mir etwas Kleines, Gemütliches vorgestellt, aber es war ein riesiger verglaster Kasten voller Ausländer. In der Hotelhalle herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof, und die Pagen bettelten einen glattweg um Trinkgeld an. Es war jedoch nicht weit entfernt von der Burg, und so brachen wir, nachdem wir ausgepackt hatten, gleich dorthin auf. Meine Kollegen wünschten sich, dass ich für sie dolmetschte, also tat ich es. Ich erinnere mich, wie ich im Taxi vom Flughafen meinen allerersten Satz übersetzte – der Taxifahrer guckte mich komisch an und fragte, wo ich denn herkäme. Als ich antwortete, aus Brasilien, meinte er, das sei nicht möglich, ich spräche ja mährischen Dialekt. »Ja, meine Familie stammt aus Mähren, aus Zlín.« Er schüttelte nur verständnislos den Kopf. Zuerst konnte ich das Prager Tschechisch nicht gut verstehen, die Betonung befremdete mich, und so war ich, Plaudertasche aller geselligen Abende und große Witzeerzählerin, auf einmal merkwürdig stumm. Ich hatte geglaubt, ich würde nach ewig langer Zeit endlich nach Hause kommen, dabei war ich hier nie zu Hause gewesen! Als wir zum Burgareal kamen, den ersten, dann den zweiten Hof durchquerten, stellte ich mich vor dem Portal des Domes auf und begann meinen Freunden zu erklären, wer ihn errichtet hatte, in welchem Jahr, und all diese Informationen, die ich wie eine Fremdenführerin aus mir herausschüttete. Und dann