Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
der Kisten und Säcke vom Boden aufnimmt und ächzend auf ein Pferdefuhrwerk hebt. Dahinter ist ein breiter Ausschnitt der Blanchebai zu sehen. Hinter den Kanus der eingeborenen Fischer und der auf Reede liegenden Emily Godeffroy schiebt sich der Schattenriss eines großen Schiffes ins Bild. Die Segel des Dreimasters sind gerefft. In der Schiffsmitte stößt ein Schornstein schwarze Wolken aus. »Das müsste der Kreuzer SMS Cormoran sein«, sagt Sekretär Pellworm. »Das Kriegschiff Seiner Majestät soll ein paar Tage hier bleiben und dann zusammen mit der Polizeitruppe wieder einmal zu einer Strafexpedition auslaufen, es geht diesmal gegen einen Stamm an der Nordwest-Küste, der einen deutschen Pflanzer und einen australischen Händler umgebracht hat.«
»Kehrt denn hier nie Ruhe und Frieden ein, verdammt noch mal! Morde, Blutrache, Strafexpeditionen, Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Kolber wendet seinen Blick von der Bucht ab und dreht den Schaukelstuhl ins Zimmer.
»Haben Sie Papier und Bleistift, Pellworm? – Gut, dann schreiben Sie jetzt mal etwas Angenehmeres.«
»Sehr verehrte, gnädige Frau Emma Eliza Coe!«, beginnt Kolber sein Diktat. »Mit großer Freude habe ich nach meiner heutigen Ankunft noch auf der Reede von Herbertshöhe Ihre persönliche Einladung zu Ihrem Abendempfang am morgigen Dienstag auf Gunantambu in Empfang nehmen dürfen. Ihr geschätztes Einverständnis wie stets vorausgesetzt, werde ich mir erlauben, zwei äußerst sympathische, aufgeschlossene junge Menschen in meine Begleitung zu nehmen, deren Gesellschaft ich während der langen Überfahrt von Deutschland nach Neuguinea überaus schätzen gelernt habe ...«
Kolber stopft seine Pfeife und bläst eine Rauchwolke gezielt in Richtung eines mottenartigen Insekts, das immer wieder von innen gegen die Fensterscheibe anfliegt. Er schlägt mit einer zusammengefalteten alten Zeitung nach dem Flugobjekt und beobachtet, wie es zu Boden taumelt.
»Und weiter geht’s im Text, lieber Pellworm: ›Bei meinen jungen Freunden handelt es sich um Herrn Sebastian Kleine, einen aufstrebenden Mitarbeiter des renommierten Museums Godeffroy, und um Fräulein Anna Scharnhorst, Schwester der Rheinischen Missionsgesellschaft, die, wenn Sie mir den doppelsinnigen Ausdruck gestatten, sozusagen in besonderer Mission nach Neuguinea gekommen ist. Vielleicht wird sie Ihnen, gnädige Frau, bei passender Gelegenheit selbst ihre ebenso bewegende wie anrührende Geschichte berichten. Den beiden jungen Menschen stehen verantwortungsvolle und entbehrungsreiche Aufgaben in Deutsch-Neuguinea bevor. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass Sie die beiden jungen Leute mögen und dass diese von Ihnen und Ihrem glanzvollen Feste überaus beeindruckt sein werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, wie stets
Ihr sehr ergebener ...‹«
Pellworm zieht einen Schlussstrich quer über die Seite seines Schreibblockes.
»War es das, Herr Kolber?«
»Nicht ganz, jetzt kommt erst die eigentlich wichtige Mitteilung. Bitte schreiben Sie Folgendes unter Postskriptum:
»Bitte gestatten Sie mir, sehr verehrte, gnädige Frau, bei dieser Gelegenheit auch im Auftrag und im Namen von Herrn Johan Cesar Godeffroy um einen baldigen geschäftlichen Gesprächstermin nachzusuchen. Dabei handelt es um eine äußerst bedeutsame Angelegenheit, die zukünftigen geschäftlichen Beziehungen unserer Firmen betreffend.«
Mit spitzen Fingern hebt Kolber das tote Insekt vom Boden auf und schnippt es aus dem Fenster.
»Was für eine Kurzschrift schreiben Sie eigentlich?«, fragt er und blickt auf das vollgekritzelte Blatt Papier.
»Ich arbeite nach der Methode Stolze«, sagt der Sekretär, »das ist der Schöpfer der modernsten Art der Stenografie.«
»Sehr schön machen Sie das, Pellworm. Würden Sie mir einen Gefallen tun und diesen Brief gleich noch persönlich im Kontor von Queen Emma abgeben, sobald ich die Reinschrift unterzeichnet habe.«
Schon am nächsten Vormittag bringt der Bürodiener die kurze und präzise Antwort. Queen Emma teilt auf weißem Seidenpapier mit:
»Verehrter Theobald Kolber. Selbstverständlich sind Ihre neuen Freunde gern gesehene Gäste auf meinem Fest. Was die geschäftliche Angelegenheit anbetrifft, muss ich Sie wegen einer Reise zu meinen Plantagen auf Mioko leider vertrösten: Ich erwarte Sie diesbezüglich in der kommenden Woche, am Freitag, den 10. Juni um 11 Uhr vormittags in meinem Kontor.
Es grüßt Sie recht herzlich
Ihre
Emma Eliza Coe
PS. Falls wir nach unserer geschäftlichen Unterredung noch weiterhin freundschaftlich verbunden sein sollten, könnten wir gemeinsam das Mittagessen einnehmen.«
12
In den Faktoreien der Handelsfirmen und in der Kolonialverwaltung, in den besseren Wohnhäusern der Gazelle-Halbinsel, auf den Schiffen, die in der Blanchebai ankern, auch in der zentralen Missionsstation im Nachbarort Vunapope – überall bereiten sich die geladenen Gäste auf das Fest in Gunantambu vor, dem palastartigen Anwesen von Queen Emma in Ralum, einem Nachbarort von Herbertshöhe. Die Damen holen ihre schönsten, selten getragenen Kleider aus den Schränken. Die Herren lassen die Tropenanzüge aufbügeln. Sebastian Kleine und Anna Scharnhorst können ihre Vorfreude kaum verhehlen, während sie in den Tagen nach ihrer Ankunft den kleinen Ort Herbertshöhe und die nähere Umgebung erkunden. Theodor Kolber hat versprochen, sie mit seiner Kutsche abzuholen.
Anna Scharnhorst steht wartend im Eingang des Hotel Fürst Bismarck. Gebannt blickt sie die Straße hinunter auf die abendliche Blanchebai hinaus.
So einen Sonnenuntergang hat sie zuletzt als Schulkind vor Augen gehabt: Der Sonnenball hängt rot und riesig groß vor einem tiefblauen Himmel. Im Vordergrund plätschert dunkles Wasser, links und rechts ragen scherenschnittartige Weidenzweige in die Szenerie. Das Bild »Abendstimmung am Niederrhein« hatte sie mit farbigen Wachsstiften selbst gemalt, und Frau Töpfer, die Klassenlehrerin, hatte ihr die beste Note dafür gegeben. Sie war sehr stolz, denn das war die erste Eins in ihrer Schulzeit gewesen.
Nun bestaunt sie ehrfürchtig eine ähnliche Idylle. Diesmal ragen Palmenzweige in die gewaltige Sonne, die mit atemberaubendem Tempo im schwarzblauen Pazifik eintaucht, als wäre es für immer.
Der Widerschein färbt die Fassaden der Gebäude an der Hauptstraße von Herbertshöhe glutrot. Anna kennt bereits die Polizeistation, das Postamt, die Kolonialverwaltung, die Faktoreigebäude der Hamburger Handelshäuser Hernsheim und Godeffroy sowie kleinere Niederlassungen australischer Firmen. Über den deutschen Häusern hängen die schwarz-weiß-roten Fahnen schlaff an ihren Masten. Ein paar Menschen spazieren am Strand entlang. Fröhliches Kindergeschrei ist zu hören.
Zu ihrer Linken sind im Hintergrund die Silhouetten der drei Vulkane zu sehen. Bei völliger Windstille steigt aus dem größeren Kegel eine dünne Rauchfahne senkrecht in den dunkelblauen Himmel.
Anna sucht nach einem passenden Gebet, mit dem sie dem Schöpfer für den unvergesslichen Eindruck, für diesen Moment des Glücks danken könnte. Spontan fällt ihr stattdessen nur ein Lied ein »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ...« Gott hat ihr diese Gunst erwiesen. Ihre Enttäuschung, weil sie vergeblich auf ihren Verlobten gewartet hat, verblasst in diesen Momenten gegen das Glücksgefühl, das sie in sich aufsteigen fühlt.
Anna hat ihre Haare hochgesteckt. Eine schlichte Perlenkette betont ihren schlanken Hals. Sie trägt ein cremefarbenes, tailliertes Seidenkostüm mit kleinem Stehkragen, das ein wenig zu groß für sie ist, denn die bald geschiedene Frau von Theobald Kolber, aus deren Bestand das maßgeschneiderte gute Stück ausgeliehen ist, hat wohl eine vollschlankere Figur. Einige Herren in den Ausgehuniformen der kaiserlichen Marine sehen von der Hotelterrasse aus bewundernd zu ihr herüber.
Endlich kommt die Kutsche. Theobald Kolber steigt aus und hilft ihr galant in den Wagen. Sebastian Kleine starrt Anna an, als sehe er sie zum ersten Mal. Er will etwas Charmantes sagen.
»Sie sehen ja wie eine richtige Dame aus, Fräulein Anna, man mag gar nicht glauben, dass Sie nur eine Missionsschwester sind.«
»In dem weißen Tropenanzug