Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
Das wird Sie hoffentlich auf andere Gedanken bringen.«
Mit der zweispännigen Kutsche, die einen Gepäckwagen hinter sich herzieht, fahren die drei Passagiere der Emily Godeffroy über die Hauptstraße von Herbertshöhe, die am Ufer der Blanchebai entlang verläuft. Vor dem Gebäude der deutschen Neuguinea-Compagnie biegt der Kutscher in eine sandige Seitenstraße ein. Die Pferde halten schnaufend vor einem großen, doppelstöckigen Holzgebäude mit einem noch neu glänzenden, zweistufigen Blechdach, mit Erkern und Türmchen an den Ecken. Eine breite Terrasse im Erdgeschoss und eine umlaufenden Veranda in der ersten Etage mit geschnitzten Balustraden verleihen dem Gebäude den Charme einer barocken tropischen Villa. Vor dem breiten Eingang wehen die Flaggen des Deutschen Reiches, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Königreiches Samoa. Über dem Portal hängt ein Holzschild mit eingeschnitzten Buchstaben.
»Hotel Fürst Bismarck«, liest Anna.
»Das erste Haus am Platze«, erklärt Theobald Kolber. Das Hotel gehöre Queen Emma. Seit der Eröffnung vor einem Jahr sei es ständig ausgebucht, weil es nur zehn Zimmer habe, aber er werde sehen, was sich machen lässt.
Nach zehn Minuten kommt Kolber zurück. Dem Herrn Hoteldirektor Hellweg sei es eine Ehre, sie begrüßen zu dürfen, sagt er. Der Kutscher hebt ihr Reisegepäck, eine schwere Holzkiste mit Vorhängeschloss, ächzend vom Wagen und schleppt sie ins Hotel. Anna folgt ihm.
Die Missionsschwester bezieht ein geräumiges, hell möbliertes Zimmer, dessen bodentiefes Fenster auf die Veranda hinausgeht. Von hier aus hat man einen schönen Blick in den tropischen Park. In einer Voliere, so groß wie ein Gartenpavillon, flattern Dutzende von kleinen Vögeln herum. Und zwei große Papageien, der eine grün, der andere rot, hocken auf ihren Stangen. Die beiden könnten sprechen, erklärt der Hoteldirektor. Das werde sie bald selber vernehmen.
Als der Kutscher ihr Gepäck abgestellt hat, erfrischt Anna sich an der mit einem Spiegel versehenen Waschkommode. Sie legt ihre Luther-Bibel und ihr Gebetbuch auf den Nachttisch. Als sie auf die Veranda hinaustritt, beginnen die Papageien zu kreischen. Der Rote ruft immer wieder »Deutschland! Deutschland!« Der Grüne antwortet jedes Mal: »Über alles!« Anna Scharnhorst lacht. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft.
Auch Sebastian Kleine ist mit seinem Quartier zufrieden. Sein Zimmer ist spartanisch, aber zweckmäßig eingerichtet. Bett, Schrank und Stuhl, eine Schreibtischplatte unterm Fenster. Durch das kleine Fenster ist zwischen der Seitenwand der Faktorei und einem Lagerschuppen das Meer zu sehen. In der flirrenden Hitze taucht der Einbaum eines einheimischen Fischers auf, der unbeweglich mit erhobenem Speer in dem wackligen Gefährt steht und auf Beute lauert. Über dem Bett hängt ein blasses Aquarell vom winterlichen Hamburger Hafen mit dem schneebedeckten Michel im Hintergrund. Gemeinschaftsdusche und Plumpsklo sind nur ein paar Schritte entfernt in einem Nebengebäude auf dem Hof. Und hinter einem hohen, aber durchsichtigen Bambuszaun liegt in einem Garten mit großer Rasenfläche das Wohnhaus von Theobald Kolber. Es sieht aus wie eine verkleinerte Ausführung des Hotels Fürst Bismarck. Mitten auf dem Rasen steht eine mannshohe Figur aus Holz mit Palmenblättern und Federn, halb Mensch, halb Riesenvogel. Eine Kultfigur des Tolai-Stammes von der Küste, wie Kleine später erfährt. Schon gegen sechs Uhr abends wird es dunkel. Der Südost-Passat, der tagsüber die warmfeuchte Luft vor sich hergetrieben hatte, schläft ein.
Bei Tagesanbruch donnern drei Kanonenschüsse über die Bucht. Ein Kreuzer des großen deutschen Kaisers signalisiert weithin hörbar seine Einsatzbereitschaft. Die Eingeborenen sollen eingeschüchtert werden, nachdem es unlängst zu einigen Überfällen auf weiße Pflanzer gekommen ist. Einer von Sebastian Kleines Mitbewohnern im Gästehaus schreit »Scheißmarine! Ruhe da draußen, verdammt noch mal!«
Vom Kanonendonner aufgeschreckt, kreischen und schnattern die beiden großen Papageien und die bunten, kleinen Vögel vor Anna Scharnhorsts Hotelzimmer durcheinander. Anna wacht schweißgebadet auf. Sie versucht, ihren Traum in Erinnerung zu behalten, und hat zugleich Angst davor: Als Missionsschwester ist sie in einem Urwalddorf gewesen, bei einem gefürchteten Kannibalenstamm. Die Menschenfresser waren mit Bögen und Speeren bewaffnet. Sie hatten schulterlanges, verfilztes Haar, in dem die Knochen ihrer getöteten Feinde steckten. Auch der Häuptling trug solchen Kriegsschmuck – doch er hatte eine helle Haut. Seine Augen waren blau. Sein Haar war blond. Als Anna ihn nach seinem Namen fragte, antwortete er auf Deutsch: »Ich bin Gustav Wilhelm Fischer.«
Als Anna diesen Namen hörte, hat sie laut geschrien.
Gustav Wilhelm Fischer – so hieß doch ihr leiblicher Vater. Sie hat den Namen ein Jahr vor ihrer Abreise zum ersten Mal heimlich in den alten Briefen gelesen, die ihre Mutter ganz unten in einem Wäscheschrank versteckt hatte.
11
Theodor Kolber sitzt missgelaunt im ersten Stockwerk des langgestreckten Faktoreigebäudes von Johan Cesar Godeffroy & Sohn hinter einem ausladenden, aus Mangrovenholz grob geschreinerten Schreibtisch. Akten und Papiere stapeln sich zu kleineren und größeren Haufen. Drei große Rollschränke stehen an der Wand. Das Arbeitszimmer ist, von einer verblassten Weltkarte abgesehen, schmucklos eingerichtet. Der ehrgeizige Prokurist Elbertzhagen und Kolbers persönlicher Sekretär, der im Dienst der Firma Godeffroy schon im Alter von 45 ergraute Heinrich Pellworm, schieben ihrem Chef mit knappen Erläuterungen Schriftstücke, Rechnungen, Zahlungsanweisungen zu. Schon seit zwei Stunden.
Vieles hätten sie ja bereits auf eigene Faust erledigt, aber für die größeren Dinge sei Kolbers Unterschrift nötig, sagt der Prokurist. Es gehe um die Verlängerung von Pachtverträgen, um neue Lieferverträge mit deutschen und australischen Pflanzern, um Provisionen für die Vermittlung von Arbeitskräften von den Fidschi- und Tongainseln. Die Anschaffung einer neuen Dampfmaschine für ein Sägewerk muss genehmigt werden. Kolber soll Bestechungsgelder und sogenannte nützliche Geschenke für Eingeborenen-Häuptlinge bewilligen, die ihr Land günstig verkaufen oder ihre Leute als Plantagenarbeiter abstellen wollen. Und immer wieder unterzeichnet er vier- und fünfstellige Zahlungsanweisungen für Kopralieferungen der Firma »Emma Eliza Coe & Partner«.
Als Sebastian Kleine hereinkommt, blickt der Generalbevollmächtigte nur kurz auf.
»Gut gefrühstückt?«
»Wunderbar, es gab dünnen Kaffee und altes Brot mit klebriger Marmelade.«
»Das ist schon der gehobene Standard in unserem Gästehaus, du bist wohl vom Smutje der Emily Godeffroy Besseres gewohnt?«
Während der Prokurist und der Sekretär nach einer Abrechnung suchen, sagt Kolber leise zu Kleine, er solle die Diamantengeschichte noch nicht erwähnen. Laut fordert er ihn dann auf:
»Setz dich hin, dann kannst du miterleben, wie aufregend es bei uns Im- und Exportkaufleuten zugeht.«
Queen Emma, sagt Elbertzhagen, und wedelt mit einem Schriftstück, habe vor einem Monat ohne Vorankündigung und ohne erkennbaren Anlass die Koprapreise von 13 auf 18 Mark pro Tonne erhöht. Sie hätten ihr diese Quote zusagen müssen – denn ansonsten wollte sie an ein holländisches Konsortium verkaufen, das neuerdings verstärkt im Bismarckarchipel tätig werde.
»Sie nutzt ihre Vormachtstellung bei der Kokosnussproduktion ohne Rücksicht aus. Ihre Methoden grenzen immer mehr an Erpressung.«
»Keineswegs, das ist der freie, internationale Handel – oder würden Sie als Kaufmann anders handeln, wenn sich die Gelegenheit bietet?« Das mache man im Hause Godeffroy bekanntlich genauso, einer werde gegen den anderen ausgespielt. »Trotzdem will ich wohl mit ihr darüber reden, wie langjährige Geschäftspartner miteinander umgehen sollten und wie nicht.«
Kolber unterschreibt die vorgelegten Rechnungen, ohne zu zögern. Er überlegt einen Moment und sieht Kleine an, bevor er sich wieder an den Prokuristen wendet.
»Da Sie dieses holländische Konsortium erwähnt haben – ist Ihnen in letzter Zeit ein Mann namens Oranje begegnet? Oder haben Sie den Namen Klaas van Oranje schon einmal gehört? Es könnte sich auch um einen Buren aus Südafrika handeln.«
Elbertzhagen denkt nach und schüttelt den Kopf. Wenn es wichtig sei, könne er sich ja mal umhören, er kenne einen Händler aus Rotterdam, der müsste