Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
Mijnher Oranje um, aber sehr diskret, Elbertzhagen, unser Interesse sollte keineswegs Aufmerksamkeit in der Kolonie erregen. Im Moment kann ich Ihnen leider noch nicht mehr dazu sagen.«
Ob es denn sonst etwas Neues gebe, fragt Kolber seinen Prokuristen im Plauderton.
»Der neue Gouverneur Dr. Hahl hat sich gut eingearbeitet. Als Jurist und ehemaliger Richter geht er endlich auch gegen die kriminellen Elemente unter den Weißen vor, die Eingeborene nach Strich und Faden um ihr Land betrügen, ihnen Kunst- und Kultgegenstände abschwatzen und die ihre Arbeiter misshandeln.«
»Gut. Sehr gut, das wurde wirklich Zeit, dass da hart durchgegriffen wird«, sagt Kolber.
»Und sonst? Was redet man so? Gibt es interessante Geschichten und Gerüchte?«
Elbertzhagen grinst. »An der Nordküste bei den Tolai-Stämmen ist neulich ein katholischer Missionar von einem Häuptling und dessen Leuten verprügelt und aus dem Dorf getrieben worden ...«
»Und was ist daran so lustig?«
»Nun ja, der fromme Mann soll es mit zwei oder drei Dorfschönen getrieben haben, und dabei ist er wohl in einem Fall in flagranti erwischt worden. Der Herr Bischof war wohl nicht sehr amüsiert.«
Leider gebe es aber auch noch ein weniger komisches Ereignis: Die Frau des Farmers Fuchs sei am helllichten Tag in ihrem Haus am Fuß des Varzinberges von Eingeborenen mit Äxten erschlagen und von Speeren durchbohrt worden, während ihr Mann weit entfernt auf seinen Pflanzungen gearbeitet habe.
»Ein Raubüberfall?«
»Offenbar ein Racheakt. Fuchs soll absichtlich oder unwissentlich ein großes Stück Land gerodet haben, das an seinen Besitz grenzt. Dort hat sich offenbar ein Kultplatz des Iniet-Geheimbundes befunden ...«
»Oh Gott, da kennen diese Geheimbündler kein Pardon«, sagt Kolber. Was danach unternommen worden sei?
»Das Übliche. Eine Strafexpedition unter Leitung von Polizeikommandant Schmeile hat die Bewohner der nächstliegenden Dörfer vertrieben und sämtlich Hütten in Brand gesteckt. Einige Männer sind auf der Flucht erschossen worden. Zwei Mordverdächtige hat man festgenommen. Sie sollen demnächst hier in Herbertshöhe hingerichtet werden.«
»Das Übliche ...« Kolber schiebt ein paar Papiere hin und her.
»Und geschäftlich, was redet man da so?«
»Nichts Aufregendes«, sagt Elbertzhagen. »Allerdings sollen vor einigen Monaten ein paar Australier im Landesinneren gesehen worden sein. Es gibt ein Gerücht, dass sie nach Gold suchen.«
»Und? Haben sie was gefunden? Gold und Edelsteine – hier bei uns in Deutsch-Neuguinea, das wäre ja wirklich mal eine Neuigkeit.«
Elbertzhagen deutet mit einer Kopfbewegung zu Sebastian Kleine. Ob er in dessen Gegenwart weiterreden solle, heißt diese Geste.
»Nur zu«, sagt Kolber »wir haben keine Geheimnisse, er gehört schließlich zum Haus Godeffroy & Sohn!«
Der Prokurist räuspert sich. Er habe von einem Beamten der Kolonialverwaltung gehört, dass die Australier kein Gold, sondern Diamanten gefunden haben sollen.
»Diamanten in Deutsch-Neuguinea?« Kolber tut erstaunt. »Wo hat man Diamanten gefunden?«
»Keine Ahnung. Mein Gesprächspartner wusste das auch nicht.«
»Da wird wohl nichts dran sein«, sagt Kolber, »diese angeblichen Goldfunde am Taori-Fluss haben sich vor Jahren ja auch als Falschmeldung herausgestellt.«
Aber wenn er in dieser Sache irgendetwas Neues höre, möge er ihn sogleich informieren. Das könne für die Firma möglicherweise interessant sein.
Kolber und Elbertzhagen setzen ihre Schreibtischarbeit fort. Zwischendurch wendet sich Kolber an Kleine und reicht ihm eine dünne Mappe, als sei ihm gerade etwas eingefallen.
»Hier, lies dies mal, damit du dich nicht langweilst. Hier bekommst du einen kleinen Einblick in das, was hier vor sich geht und womit man in unserer Reichshauptstadt lieber nicht belästigt werden möchte. Als früheren Criminalinspektor wird dich das vielleicht besonders interessieren.«
Kleine nimmt ein eng beschriebenes Schriftstück mit mehreren Anhängen aus dem Ordner. Auf der ersten Seite prangt ein Stempelaufdruck mit zwei Ausrufezeichen, der ihm von seiner Polizeiarbeit in Hamburg bekannt ist: »Vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch!« Offenbar handelt es sich um die amtliche Abschrift eines Dokumentes, das vom Kolonialamt nach Berlin geschickt worden ist. Es geht um die zunehmende »Kette von Morden an Europäern in Deutsch-Neuguinea«, wie es in der Überschrift heißt. Insgesamt 34 Fälle werden aufgeführt. Bei den meisten Opfern handelt es sich um Händler und Pflanzer in abgelegenen Gegenden, aber auch Missionare, Beamte und ganze Familien wurden umgebracht. In fast allen Fällen, so liest Kleine, hätten die Ermordeten durch eigenes Verschulden den Zorn und die Rache der Eingeborenen auf sich gezogen. So habe der deutsche Farmer Wolf, ungeachtet der Warnungen und eindringlichen Ermahnungen der Kolonialverwaltung seine Pflanzungen auf das Gebiet einer alten Kultstätte des Tolai-Stammes ausgedehnt. Danach sind in seiner Abwesenheit seine Frau und sein Baby regelrecht zerstückelt worden.
Bei der darauffolgenden Strafexpedition kam der kommissarische Landeshauptmann Curt von Hagen ums Leben. In dem angehängten Schriftstück liest Sebastian Kleine den Augenzeugenbericht eines Expeditionsteilnehmers:
»Herr von Hagen beschleunigte den Marsch ganz erheblich. Im Laufschritt fassten wir einen Tamul, den Angehörigen eines Dschungelstammes, der durch laute Rufe seine Genossen warnte. Der aalglatte Bursche ließ sich nur mit Mühe fesseln. Seinem Schreien machte ein wuchtiger Schlag meines Gewehrkolbens ein Ende. Herr von Hagen rief mir noch zu: ›Na, endlich fertig?‹, und dann ging es immer weiter vorwärts, ringsum dröhnte der Urwald von den dumpfen Tönen der Kriegstrommeln ... Wir hatten eben einen Wasserlauf durchschritten, als ein feindlicher Schuss fiel. Aufblickend sah ich Herrn von Hagen drei oder vier Schritte rücklings stürzen. Ich konnte den Verwundeten noch mit den Armen auffangen, lehnte ihn an einen Baum und riss ihm die Kleider auf. Die Wunde saß mitten in der Brust, mein nochmaliges Rufen ›Herr von Hagen! Herr von Hagen‹ blieb ohne Echo ...«
Der stellvertretende Landeshauptmann, so habe sich später herausgestellt, sei mit einem gestohlenen deutschen Mausergewehr erschossen worden – von einem desertierten Eingeborenen-Soldaten namens Ranga.
Sebastian Kleine legt das Papier zur Seite. »Mein Gott, hier geht es ja ein bisschen brutaler zu als in meinem früheren Revier in St. Pauli«, sagt er, als Kolber ihn über seine Geschäftspapiere hinweg ansieht. »Lies nur weiter, es kommt noch besser«, sagt Kolber, »ich brauche noch eine Weile, bis ich dich in der Faktorei herumführen kann.«
Nach dem Tod des von Hagen, so heißt es im nächsten amtlichen Bericht, hätten die deutschen Strafverfolger mit Hilfe befreundeter Eingeborener den Täter im Dschungel gestellt. Der sei von zahlreichen Pfeilen und Speeren getroffen worden. »Ranga sprang noch in den nahen Fluss, um sich durch Tauchen und Schwimmen zu retten. Aber der Gegner waren zu viele und er schließlich zu sehr erschöpft. Sobald er aus dem Wasser herauskam, erlitt er eine weitere schwere Wunde am Kopf. Noch lebend wurde er an Land gezogen. 23 Pfeile und Speere sollen in seinem Körper gesteckt haben ...«
Rangas Leichnam und der eines Mittäters wurden vor dem nächsten Gefängnis aufgehängt. »Allen Plantagenarbeitern und allen aufrührerischen Eingeborenen als warnendes Beispiel, und um allen zu zeigen, dass von Hagens Tod angemessen gesühnt worden sei.«
Kleine schüttelt den Kopf. »Dass es hier so schlimm zugeht, habe ich nicht gewusst.«
»Wir sind in einem wilden Land und es sind wilde Zeiten – zugleich kann es aber auch das Paradies sein«, sagt Theobald Kolber. »Himmel und Hölle liegen hier nah beieinander.« Einen Blick auf die paradiesische Seite werde man morgen Abend bekommen, beim Empfangsfest von Queen Emma.
Er müsse deshalb noch einen Brief formulieren. Kleine bleibt im Büro, als Kolber seinen Sekretär Pellworm zum Diktat ruft. Dazu setzt sich der Generalbevollmächtigte des Hauses Godeffroy wie immer ans Fenster in einen