Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
Das kleine Bild zeigt einen kräftigen Mann mit hellem Hemd, dunkler Hose und Tropenhelm. Der Mann steht vor einer Eingeborenenhütte. Er hält ein kleines, dunkelhäutiges Kind auf dem Arm. Der weiße Mann lächelt, das braune Kind weint.
Auf seiner Brust hängt ein großes Kreuz an einer Kette. Er hat einen kleinen, gut gestutzten Bart. Seine kräftige Nase wirft auf dem Bild einen schrägen Schatten. Seine Augen sind unter dem Rand des Tropenhelmes nicht zu sehen. Vermutlich ist er Ende dreißig, vielleicht vierzig Jahre alt.
»Das ist mein Zukünftiger.«
Theobald Kolber schüttelt nachdenklich den Kopf und schiebt das Bild zu Sebastian Kleine weiter.
»Heinrich Althoff? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber gesehen habe ich den Mann noch nie. Soviel ich weiß, gibt es kaum ein halbes Dutzend protestantischer Missionare auf der Gazelle-Halbinsel, die Katholiken vom Heiligsten Herzen Jesu aus Hiltrup aus Westfalen sind schon viel länger hier, und die haben überall an der Küste ihre Missionsstationen aufgebaut.«
»Heinrich leitet erst seit zwei Jahren eine kleine Missionsstation bei einem Eingeborenendorf, das Malaguna heißt.«
Theobald Kolber denkt nach.
»Malaguna mitten im Urwald, im Stammesgebiet der Baininger. Dort predigt der künftige Gatte also die christliche Lehre«.
Das sei wahrhaftig eine von der Zivilisation kaum berührte Gegend, dort lebten die Eingeborenen tatsächlich noch wie in der Steinzeit, und unter ihnen gebe es immer noch Menschen...«
Kolber verschluckt das Wort »Menschenfresser« bevor es vollständig über seine Lippen kommt.
8
Sebastian Kleine starrt in sein leeres Weinglas, schon seit Anna Scharnhorst ihre Verlobung bekanntgegeben hat.
»Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?«, fragt Olga Tietjen.
»Doch, doch, ich denke nur ein wenig nach«, sagt er wortkarg.
Theobald Kolber hebt sein bereits leeres Weinglas.
»Wenn Sie in Ihrer neuen Heimat sind, Fräulein Scharnhorst, kommen mein junger Freund und ich Sie eines Tages besuchen – Sie und Ihren künftigen Ehemann, denn wie der Zufall es will, werden wir in dieser Gegend beruflich zu tun haben.«
Als Sebastian Kleine ihn fragend ansieht, beugt er sich vor und sagt halblaut: »Malaguna liegt am Fuße des Varzin-Vulkanberges – das ist die Gegend, von der uns Johan Cesar Godeffroy am Tag unserer Abreise in Hamburg erzählt hat.«
Tagebuch Sebastian Kleine, Montag, 2. Mai 1898
Meine Gedanken und Gefühle waren nach der Offenbarung von Missionsschwester Anna über ihre bevorstehende Eheschließung ein wenig verwirrt. Einerseits wurde mir erst jetzt klar, dass ich im Begriff gewesen war, mich in Anna zu verlieben, andererseits kam ich zu der Einsicht, dass es gut ist, dass sie bereits gebunden ist. Es hätte nur allzu viele Verwirrungen in meinem Leben gegeben.
Erst seit sich meine Gefühle wieder beruhigt haben, kann ich mich wieder auf mein künftiges Leben und Arbeiten in Deutsch-Neuguinea vorbereiten.
Theobald Kolber hatte mich und meine Zuneigung zu Anna durchschaut. Er machte noch ein paar Scherze auf meine Kosten und sagte so etwas wie »Liebe kommt und Liebe geht«, und im Übrigen solle man Missionsschwestern im Allgemeinem und eine Frau mit einer so schwierigen Geschichte wie Anna Scharnhorst im Besonderen in Ruhe lassen. Es gelang ihm, mich von meinem diffusen Kummer abzulenken, indem er tage- und nächtelang von der wechselvollen Geschichte der Handelsreederei Godeffroy erzählte und von seinem eigenen Geschäften und Unternehmungen in der Südsee. So erfuhr ich, dass Theobald Kolber ursprünglich die Idee gehabt hat, ein Südseemuseum in Hamburg zu eröffnen und daraus ein erfolgreiches Nebengeschäft zu machen. Die Zeitschrift Journal des Museums Godeffroy sei nach Vorschlägen von Museumskustos Dr. Schmalz entstanden. Das Ansehen des Museums und des Journals verdanke man in erster Linie der Feld- und Forschungsarbeit sowie den fachkundigen und unterhaltsamen Artikeln der Naturforscher, die das Haus Godeffroy wohl ausgerüstet und mit guten Verträgen ausgestattet in die Südsee geschickt hat.
Diese Leute sind alle auf ihre Weise und auf ihrem Gebiet Koryphäen und ungewöhnliche Charaktere. Sie stammen aus verschiedenen Ländern. Der Schweizer Zoologe Eduard Graeffe sammelte zehn Jahre lang Tausende von Tieren, Pflanzen und ethnologischen Gegenständen auf Samoa. Von dem Amerikaner Andrew Garrett hatte ich bereits Berichte gelesen und seine haargenauen farbigen Zeichnungen exotischer Fische und Vögel bestaunt. Der Pole Stanislaus Kubary hatte während des Medizinstudiums seine Heimat aus politischen Gründen verlassen müssen und daraufhin halb Ozeanien bereist. Der Deutsche Eduard Dämel wurde von Godeffroy ins nördliche Australien geschickt. Der Forschungssammler Franz Hübner bearbeitete den Bismarckarchipel. Der deutsche Ornithologe Theodor Kleinschmidt entdeckte zahlreiche noch unbekannte Vogelarten, darunter auch die prächtigsten Paradiesvögel, die je gesehen worden waren. Am bekanntesten ist jedoch die einzige Frau unter Godeffroys Leuten: Amalie Dietrich. Sie hatte in Thüringen als eine Art Kräuterhexe angefangen und Apotheken und Ärzte ihrer Heimat mit seltenen Heilpflanzen aus dem Wald versorgt. Ein Geschäftsmann empfahl sie Johan Cesar Godeffroy, und der schickte sie nach Australien und in den Pazifik. Ihr Fleiß und Wagemut sind legendär. Ihre Arbeitsweise ist allerdings in Verruf geraten. Die ehrgeizige Frau soll ihre einheimischen Helfer beauftragt haben, Eingeborene von besonderem Interesse für die anthropologische Forschung umzubringen. Dann habe sie die Schädel, Knochen und ganze Skelette präpariert und nach Deutschland geschickt. Er könne sich das nicht so recht vorstellen, aber ihm sei diese Geschichte von glaubwürdigen Leuten zugetragen worden, erzählte Theobald Kolber.
Von einigen heftigen tropischen Gewittern abgesehen, durchsegelten wir bei meist ruhiger See und kräftigem Wind den Indischen Ozean und nahmen Kurs auf Australien.
Während des letzten Teils unserer Reise studierte ich intensiv die mitgebrachten wissenschaftlichen Werke sowie einige spannende Erlebnisberichte internationaler Forscher und Entdecker. Besonders gefesselt hat mich das umfangreiche Tagebuch unseres großen Deutschen Georg Forster, der vor mehr als hundert Jahren mit dem englischen Seehelden Captain James Cook die ganze Welt und speziell den Pazifik bereist hat. Forsters Aufzeichnungen mit dem Titel »Eine Reise um die Welt« sind sogar von Johann Wolfgang Goethe in hohen Tönen gepriesen worden. Manchmal träume ich davon, dass auch mein eigenes Tagebuch einmal zu solchem Ruhm gelangen wird.
In zwei bis drei Tagen, so verkündete Kapitän Tietjen bei einem gemeinsamen Abendessen in der Offiziersmesse, würden wir unser Ziel erreichen. Immerhin mehr als eine Woche früher, als in Hamburg berechnet worden sei. Herr Godeffroy werde sich freuen, wenn er davon höre, denn das englische Geschäftsprinzip »time is money« gelte ganz besonders für die internationale Frachtschifffahrt.
Am nächsten Tag kamen tatsächlich schon die ersten kleineren Inseln des Bismarckarchipels in Sicht.
Bei Sonnenuntergang zeigte Kapitän Tietjen auf ein Palmeneiland, auf das er sein einäugiges Messing-Fernrohr gerichtet hatte. Das sei die Insel Kabokan.
»Wollen Sie mal unseren deutschen Robinson Crusoe sehen?«, fragte er Anna Scharnhorst und mich, dabei lachte er und reichte sein Fernrohr zunächst an Anna. Als sie es mit Hilfe des Kapitäns auf einen bestimmten Punkt am weißen Sandstrand dieser Insel fixiert hatte, rief sie aufgeregt. »Ich sehe eine Hütte. Und an einem Mast davor weht ein großes Tuch. Lebt da wirklich ein Schiffbrüchiger, der uns ein Zeichen geben will?«
»Richten Sie das Okular ein wenig mehr nach links«, sagte der Kapitän.
»Oh Gott, da ist tatsächlich ein Mann. Ein weißer Mann offenbar. Der winkt uns zu!«
»Hat er einen langen Bart?«
»Ja, tatsächlich, einen langen Bart hat er!«
»Was hat er denn an?«
»Das kann ich nicht erkennen«, sagte Anna, dann rief sie plötzlich: »Oh Gott, oh Gott. Er hat gar nichts an ... Der Mann ist ja splitternackt!«
Der Kapitän klatschte lachend in die Hände. Anna gab mir das Fernglas.