Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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Und dabei bläst er Tabakswolken, die nach Honig und Trockenpflaumen riechen, in den blanken norddeutschen Himmel.

      Tagebuch Sebastian Kleine, Sonnabend, 12. März 1898

      Manchmal ist mir, als würden wir unter der Meeresoberfläche in die Südsee reisen. Seit Tagen und Nächten rast und schäumt glasklares, blaues Wasser am Bullauge meiner Kabine vorüber, deren Boden sich gleichzeitig wie bei einem nicht enden wollenden Beben hebt und senkt und dann wieder oft stundenlang in einer zitternden, schrägen Seitenlage verharrt. Ein gleichförmiger Wind bläst in die voll gesetzten Segel und treibt unser Schiff mit einer Geschwindigkeit von zehn bis zwölf Knoten voran.

      Kapitän Tietjen ist begeistert. Er meint, bei solcher Reisegeschwindigkeit können wir gut und gerne eine Woche früher als geplant unser Ziel erreichen.

      Der britische Kanal und die Bucht von Biskaya liegen bereits hinter uns. Den gewaltigen Orkan dort habe ich gut ertragen. Erst als wir in wärmere Gefilde und in ruhigere Gewässer kamen, bin ich doch noch seekrank geworden. Die Ausläufer des nun Hunderte von Kilometern entfernten Sturmes mit ihren meterhohen, sanften Dünungen haben mir den Magen umgedreht. Zum Amüsement der alten Seeleute hing ich stundenlang über der Reling und würgte meinen Mageninhalt bis zum letzten bitteren Tropfen heraus.

      Vorgestern Abend entdeckte ich nur ein paar Meter von mir entfernt an Bord unter dem Großmast stehend die Frau, nach der ich lange Zeit vergebens Ausschau gehalten hatte.

      Gern hätte ich Missionsschwester Anna unter angenehmeren Umständen wiedergetroffen, denn ihr ging es ganz offensichtlich noch schlechter als mir: Ihr Gesicht war grünlich blass und ihre fröhlichen Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Offenbar war es ihr unangenehm, dass ich sie in diesem Zustand sah. Wir lächelten uns aus einiger Entfernung wie Leidensgenossen zu. Sie winkte mit einer kleinen Handbewegung und ging wieder mit unsicheren Schritten die steile Treppe zu den Kajüten hinunter. Danach war mir, als hätte ich eine Erscheinung gehabt und mir die Begegnung nur eingebildet.

      Schiffszwieback und Wasser hielten mich in dieser Phase der Reise mühsam am Leben. Tagelang lag ich in meiner Koje, sah zu, wie das Wasser draußen vor dem Bullauge vorbeirauschte, und sann über mein bisheriges Leben und meine Zukunft nach. Und über meine Gespräche mit Theobald Kolber.

      Er ist mir in kurzer Zeit zu einem Vertrauten geworden. Ich weiß nicht, wie ich unser Verhältnis beschreiben soll: Manchmal ist er mir wie der Vater, den ich mir immer gewünscht habe, dann wieder ist unsere Beziehung trotz des Altersunterschiedes eher brüderlich zu nennen. Er hat mir das »Du« angeboten. Jedenfalls hat er mich bisher nicht spüren lassen, dass er mein Vorgesetzter ist, aber das mag sich ändern, wenn wir erst einmal am Ziel unserer Reise eingetroffen sind und an unsere große Aufgabe herangehen müssen: an die Suche nach den Hintermännern des Diamantenfundes und an die Verhandlungen über den Kauf der Diamantenmine. Merkwürdig, bisher haben wir vermieden, darüber zu reden. Jedenfalls reagiert Theobald Kolber abweisend, wenn ich auf dieses Thema zu sprechen komme.

      Stattdessen haben wir ganz persönliche Gedanken ausgetauscht. Wir haben uns näher kennengelernt, indem wir uns unsere Lebensgeschichten erzählt haben, mal bei Bier, Rotwein oder Rum in der Offiziersmesse, wo wir oft alleine sitzen, mal in seiner oder in meiner Kabine oder bei unseren gemeinsamen Wanderungen über das Schiffsdeck, das für mich genau 114 Schritte in der Länge und 15 Schritte in der Breite misst.

      Kolber hat mir von seiner Kindheit an der Elbe erzählt und von seinem Leben auf Samoa und in Neuguinea. Als Junge war er Anführer einer Bande, die vor Blankenese auf den Elbinseln Schweinesand und Kalbsand Piraten und Schatzsucher gespielt hat. Die Bücher von Robert Louis Stevenson haben seiner Fantasie damals Flügel verliehen, sagt er. Seither habe ihn die Sehnsucht nach der Südsee nicht mehr losgelassen.

      Mit seiner gutdotierten Arbeit als Generalbevollmächtigter für Godeffroy & Sohn und durch einen vereinbarten Gewinnanteil ist Theobald über die Jahre zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen. Sein Vater sei doch stolz auf ihn gewesen, obwohl der ihn lieber als Mitglied der Vereinigung Ehrbarer Hamburger Kaufleute in Frack und Zylinder an der Börse gesehen hätte. Sogar über seine bevorstehende Scheidung hat Theobald mit mir gesprochen. Er schien geradezu erleichtert darüber zu sein. Die Abfindung für seine Frau werde ihn zwar ein Vermögen kosten, aber als freier Mann werde er endlich wieder ein Leben nach seinem Gusto führen können.

      Gegen Ende der ersten Reisewoche berichtete Theobald zum ersten Mal ausführlicher von jener Frau, von der ich schon in Hamburg und an Bord unseres Schiffes des Öfteren gehört hatte. Das heißt, Theobald schwärmte wie ein Jüngling von »Queen Emma«, sobald ihr Name auch nur fiel.

      Seine Erzählungen lassen sich in etwa so zusammenfassen: Queen Emma ist die Tochter einer samoanischen Häuptlingsfrau und eines amerikanischen Abenteurers. In ihrer Jugend war sie selbst auf ihrer mit hübschen Frauen gesegneten Heimatinsel eine besonders auffallende Schönheit. Und heute, mit etwa vierzig Jahren, muss sie noch immer eine überaus attraktive Frau sein, der Männer jeglichen Alters und aller gesellschaftlichen Klassen zu Füßen liegen.

      Emma Eliza Coe, so hieß diese legendäre Frau bei ihrer Geburt, hat in Australien und Kalifornien studiert und dann das internationale Kaufmannsgeschäft erlernt. Schon mit zwanzig, erzählt Theobald, setzte sie den Grundstein für ihren Aufstieg zur großen Unternehmerin: Weitsichtiger als die meisten europäischen und amerikanischen Geschäftsleute, die im Pazifik kurzfristig viel Geld machen wollten, hat sie damals Kokosnuss-Plantagen anlegen lassen, nicht nur auf ihrer Heimatinsel Samoa, sondern vor allem in Neuguinea, wo Land und Arbeitskräfte noch billiger zu haben sind. Jetzt gehörten ihr mehr als zehntausend Hektar ertragreiches Plantagenland. Queen Emma ist längst zur reichsten Frau des Pazifik geworden. Sie errichtete in der Nähe der Kolonialverwaltung eine prächtige Residenz, die sie nach einem nahe gelegenen Eingeborenendorf Gunantambu getauft hat. Hier, so berichtet Theobald, pflegt die schöne Samoanerin ausschweifende Feste für Europäer und Amerikaner, für ihre Landsleute aus Samoa und für die großen Häuptlinge des Bismarckarchipels zu geben.

      Theobald scheint diese Frau zu verehren. Und als er mir von seinem Vorhaben erzählte, den gesamten Plantagenbesitz von Queen Emma für das Haus Godeffroy zu erwerben, da leuchteten seine Augen, als berichte er von einer geplanten Liebesheirat.

      Schließlich weihte mich Theobald bei einem unserer abendlichen Spaziergänge über das Schiffsdeck auch in die bedrohliche wirtschaftliche Lage des Hauses Godeffroy & Sohn ein. Zunächst glaubte ich, er übertreibe mit seiner vom Alkohol gelösten Zunge, denn wir hatten zuvor auf Einladung des Kapitäns schweren Portwein getrunken, aber ihn bedrückte diese Situation offenbar so sehr, dass er unbedingt darüber reden wollte. Nachdem er mir eine Art Schweigegelübde abgenommen hatte, erfuhr ich von der Bedeutung unseres Auftrages für das Bestehen der Firma Godeffroy & Sohn. Es könnte von dem Geschäft mit dem Diamantenvorkommen auf Neuguinea abhängen, ob das in aller Welt angesehene Unternehmen überleben oder zusammenbrechen wird. Theobald machte keinen Hehl daraus, dass ihm diese Geschichte um den Diamantenfund von Neuguinea nicht geheuer vorkommt. Es sei wie bei einem Roulettespiel, bei dem sein alter Freund Johan Cesar in seiner Verzweiflung alles auf eine einzelne Zahl setzen müsse. Das berge Risiken, auch für uns beide.

      Möglicherweise stecken irgendwelche skrupellosen Geschäftemacher hinter der Diamantensache. Andererseits, so meinte er, bevor wir an diesem Abend in unsere Kojen gingen, andererseits seien wir nun ja vom Schicksal auserkoren – vielleicht könnten wir das bedrohte Haus Godeffroy mit einem gelungenen Coup vor dem Ruin retten.

      In dieser und in den folgenden Nächten fand ich trotz der ruhigen See keinen ausreichenden Schlaf.

      Erst seit wir vor einer Woche Madeira passiert haben, geht es mir von Tag zu Tag besser. Die See ist ruhiger geworden. Wir haben am Horizont die Kapverdischen Inseln gesichtet und dann die Westküste Afrikas. Der Ausguck rief uns von seinem Aussichtskorb am Mast zu, dort am Horizont liege unser neues deutsches Vaterland. Er meinte die Kolonie Togo. Tage später kamen wir an Deutsch-Kamerun vorüber. Der Kapitän ließ über die Toppen flaggen. Aber wir konnten bei glasiger Sicht nicht ausmachen, ob unser Gruß irgendwo an Land erwidert wurde.

      Als wir den Äquator erreichten, wurde mit großem Trara das traditionelle Bordfest der Seeleute gefeiert – die Äquatortaufe.


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