Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
macht eine Handbewegung und sagt: »Meine Güte, fast hätte ich vergessen, euch eine charmante Reisebegleiterin vorzustellen: Schwester Anna Scharnhorst von der Rheinischen Missionsgesellschaft. Sie ist in einer ganz besonderen Mission in die Südsee unterwegs, wie mir mein alter Freund, der verehrte Präses der evangelischen Kirche des Rheinlandes, anvertraut hat – aber es ist wohl besser, wenn sie euch im Laufe eurer gemeinsamen Reise selber davon erzählt. Jedenfalls bin ich dem Wunsch der kirchlichen Würdenträger sehr gerne nachgekommen und habe Missionsschwester Scharnhorst zu dieser Überfahrt in die Südsee eingeladen, gegen Gottes Lohn sozusagen.«
Die junge Frau deutet einen mädchenhaften Knicks an und lächelte Theobald Kolber und Sebastian Kleine dabei selbstbewusst an.
»Ich möchte mich im Namen meiner Missionsgesellschaft und natürlich auch persönlich recht herzlich für Ihre Großmütigkeit bedanken. Ich hoffe, Gott wird Sie und Ihre Werke auch weiterhin beschützen.«
»Danke, das hoffe ich ebenfalls, Gottes Schutz können die Herren und ich gut gebrauchen«, sagte Godeffroy und verabschiedet sich noch einmal.
Kolber und Kleine lächeln die junge Frau an und verbeugen sich ein wenig geziert.
»Wir hatten ja bereits das Vergnügen«, sagt Theobald Kolber, »wir sind ja sozusagen übereinander gestolpert.«
Die Missionsschwester errötet, bevor sie in ein mitreißendes Lachen ausbricht, das sie hinter vorgehaltener Hand nur mühsam wieder einfängt. Die kleine Geste erinnert Sebastian Kleine an die abenteuerlustige Lehrertochter, die er vor Jahren beim Tanzball in der Schützenhalle seines Heimatortes beinahe geküsst hätte – wenn deren Mutter nicht dazwischengekommen wäre.
Godeffroy blickt auf seine Taschenuhr. Über dem Elbufer kommt jetzt das beliebte Hotel Jacobs mit seiner von prächtigen Linden gesäumten Terrasse in Sichtweite.
»Meine Herren«, sagt Godeffroy betont förmlich, »darf ich Sie bitten, diese junge Dame während der langen Überfahrt und auch noch in Neuguinea ein wenig in Ihre Obhut zu nehmen.« Als das erfreute Lächeln der beiden Männer in ein breites Grinsen mündet, fügt er hinzu: »Fräulein Anna Scharnhorst steht übrigens auch unter besonderem Schutz der Gattin unseres Kapitäns Tietjen, und die ist, wenn ich das offen sagen darf, sogar bei raubeinigen Seebären wegen ihrer Resolutheit gefürchtet.«
Der Kapitän nickt verlegen: »Wir erreichen bald Blankenese, Herr Godeffroy.«
Godeffroy zieht Theobald Kolber zu sich heran. »Wenn du mir aus Neuguinea dringende Nachrichten zukommen lassen willst, kannst du sie verschlüsselt über eine neue, geheime Telegrafenfunkstation unserer kaiserlichen Kriegsmarine übermitteln, die in Neuguinea in der Nähe von Rabaul erprobt werden soll. Auf dem Zettel hier ist der genaue Standort verzeichnet und der Name des verantwortlichen Mannes dort. Richte ihm Grüße von meinem Freund Admiral von Plankwitz aus und gib ihm diesen Brief hier.«
Godeffroy drückt Kolber an sich und schiebt ihm dabei verschwörerisch einen kleinen Umschlag zu.
Eine Stunde und zwanzig Minuten nach dem Ablegen der Emily Godeffroy von den Landungsbrücken im Hamburger Hafen klettert Johan Cesar Godeffroy rückwärts, mit dem Gesicht zur Bordwand, Sprosse für Sprosse, ein Fallreep hinunter, ohne in die Tiefe zu sehen, denn seit seiner Kindheit leidet er an Höhenangst. Unter ihm dümpelt ein kleines Beiboot an der Backbordseite des großen Frachtseglers.
Das Signalhorn der Emily Godeffroy ertönt zum Abschied des Schiffseigners dreimal hintereinander so kräftig, dass die Fensterscheiben in den Häusern am Blankeneser Süllberg vibrieren. Zwei muskulöse Matrosen legen sich mächtig in die Riemen und rudern Godeffroy zügig an Land. Die Reedereifahne mit dem goldenen Falken flattert im Fahrtwind.
Mit den Schuhen in der Hand und hochgekrempelter Anzughose watet Johan Cesar Godeffroy die letzten Meter durch flaches Wasser an Land. Er bleibt noch eine Weile am sandigen Elbufer stehen und winkt seinem Viermaster nach, ein stetiger kleiner Wind bläht die wenigen gesetzten Segel und treibt mit dem ablaufenden Wasser der Elbe die Emily Godeffroy zügig in Richtung Nordsee voran. Godeffroy weiß, dass er das Schicksal seines bald zweihundert Jahre alten Familienunternehmens in die Hände der beiden Männer gelegt hat, deren Silhouetten er schon bald nicht mehr erkennen kann.
An der Uferstraße wartet ein Zweispänner. Die Kutsche bringt Godeffroy zum Süllberg hinauf und weiter zur Familienvilla, deren großer Park zur Elbe hinausgeht. Vor der weißen Fassade weht eine große Fahne mit dem Falkenwappen an einem haushohen Mast, wie immer, wenn ein Schiff der Handelsflotte von Godeffroy & Sohn vorüberfährt.
5
»Nun denn«, sagt Theobald Kolber an Bord der Emily Godeffroy, »jetzt sind wir also auf uns allein gestellt, junger Mann.« Er klopft Sebastian Kleine so kräftig auf die Schulter, dass dessen Oberkörper gegen die Reling gedrückt wird. »Auf gute Zusammenarbeit, mein Freund!«
Missionsschwester Anna verabschiedet sich. Sie sagt, es habe sie gefreut. Sie werde die Herren ja bald wiedersehen, wolle sich nun aber um ihr Reisegepäck kümmern und sich in ihrer kleinen Kabine ein wenig einrichten.
Sebastian Kleine sieht ihr lange nach, als sie auf den im sanften Rhythmus des Elbstromes leicht schwankenden Deckplanken mit kleinen Hüftschwüngen und wippendem, wadenlangem Rock zum Vorderdeck geht, vorbei an Gruppen von Passagieren und an geschäftigen Seeleuten, die ihr ebenfalls länger nachblicken, als es ihre Arbeit eigentlich erlaubt.
»Da hat uns der liebe Herrgott aber eine ausgesprochen hübsche Prüfung auferlegt«, sagt Theobald Kolber.
»Warum hat sich so eine junge Frau wohl der Frömmigkeit und der Keuschheit verschrieben – was da wohl in ihrem Leben passiert sein mag?«, fragt Sebastian Kleine.
»Das mit der Keuschheit nimmt man in der evangelisch-lutherischen Kirche nicht so streng wie bei katholischen Betschwestern und Bettelmönchen«, sagt Kolber. Bekanntlich dürften die Pastoren und Missionare der Glaubensrichtung Martin Luthers sogar heiraten.
»Wir können sie ja bei Gelegenheit selber fragen, schließlich sollen wir uns doch um sie kümmern.«
Gemeinsam beobachten die beiden Männer den Steuermann, der das mannsgroße Ruder auf Kurs hält. An Backbord und Steuerbord breiten sich die flachen Ufer von Schleswig-Holstein und Niedersachen unter dem Horizont aus. In Höhe der Mündung des Flusses Oste und kurz vor dem Ort Otterndorf erreiche der Wind bereits eine Stärke von vier bis fünf, in Böen sechs, mit zunehmender Tendenz. In einer Stunde werde man Cuxhaven, die Elbmündung und die offene Nordsee erreichen, erklärt der Rudergänger, dann könne die Emily Godeffroy endlich auch die Großsegel setzen. An Helgoland vorbei gehe es zum englischen Kanal. In zwei, drei Tagen werde man im walisischen Hafen Cardiff noch tausend Tonnen Kohle für eine Bunkerstation in der indonesischen Hauptstadt Batavia in den Laderaum füllen, bevor es dann auf den Atlantik hinaus nach Süden gehe.
Die »Emily«, wie die Besatzung den Frachtsegler liebevoll nenne, sei vor vier Jahren in Bremerhaven vom Stapel gelaufen. Sie sei vermutlich einer der letzten Neubauten ihrer Art, denn die Zukunft gehöre den Dampfern. Doch immerhin habe man zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der australischen Küste im letzten Frühjahr bei günstigem Wind ein Etmal von 288 Seemeilen herausgefahren.
Ein Etmal?
Das sei die Strecke, die ein Schiff von 12 Uhr mittags an gerechnet in 24 Stunden zurücklege. Auf dieser Reise wolle man den eigenen Rekord brechen und mehr als 300 Seemeilen schaffen. Bei günstigen Winden könne man Batavia in sieben bis acht Wochen erreichen und zwei Wochen später voraussichtlich am Ziel der Reise Anker werfen: in der Blanchebai vor der Küste von Neupommern.
Er freue sich schon auf das Empfangsfest bei Queen Emma, sagt der Seemann. Dabei zeichnet er mit beiden Händen eine schwungvolle Frauenfigur in die Seeluft: so wohlgeformte, anschmiegsame Weiber würden dort warten, bildhübsche Samoanerinnen, die Queen Emma von ihrer Heimatinsel nach Neuguinea geholt habe. Wie immer werde es üppiges Essen und reichlich zu trinken geben und Musik und Tanz bis zum Anbruch des nächsten Tages. Der Mann lacht breit.
Theobald Kolber klopft dem Erzähler zustimmend auf