Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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und eine Südhälfte teilt. Diesen drei Burschen wurde nach altem Brauch ziemlich übel mitgespielt. Ein als Neptun verkleideter älterer Seebär tunkte sie mit Hilfe von einigen Spießgesellen in ein Fass voll stinkenden Wassers, in dem Küchenabfälle und Fischreste schwammen. Eine schwarz bemalte »Menschenfresserbande« tanzte um den Bottich herum, als würde darin aus den Täuflingen eine schmackhafte Suppe zubereitet. Nachher wurden die drei Opfer über die Reling in die Tiefe geworfen, was nach den durchlittenen Torturen bei glasklarem Wasser durchaus eine Wohltat gewesen sein muss. Nun wurde es ein richtiges, lustiges Fest mit Musik und Tanz und Shantygesängen. Bier und Schnaps flossen, bis beinahe alle Besatzungsmitglieder im Vollrausch waren, abgesehen von den Wachhabenden natürlich. Zur Erheiterung aller musste unser Kapitän mit schwerer Schlagseite von seiner tatkräftigen Gattin in sein Schlafgemach bugsiert werden.

      Auch Theobald Kolber und ich gaben uns an diesem Abend dem Alkohol nicht unbeschadet hin. Gegen Ende des Äquatorfestes hielt ich meinen schweren und schmerzenden Kopf über die Reling, in der Hoffnung, der frische Seewind und die salzige Meerwassergischt würden mein Leiden lindern. Was dann geschah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen ...

      In dieser Nacht geht der betrunkene Sebastian Kleine auf der Suche nach seiner Kabine über das schwankende Deck. Ein warmer Regen setzt ein und verdunkelt den tropischen Sternenhimmel. Kleine hangelt sich an der Reling entlang. In der Schiffsmitte, in Höhe der Werkstatt des Segelmachers, wird eine Tür auf- und zugeschlagen. Er hört kehlige Stimmen. Und einen Schrei – eine Frauenstimme, die gurgelnd erstickt.

      War das ein Hilferuf?

      Kleine wird sogleich nüchterner und läuft oder schlittert vielmehr auf die Werkstatt zu. Warum, kann er sich später nicht erklären, aber unterwegs ergreift er einen der armdicken langen Stöcke, mit denen das Ankerspill gedreht wird, aus der Halterung und quetscht sich in die halboffen stehende Tür. Durch einen Salzwasserschleier in seinen Augen erkennt er einen Mann, der ihm breitbeinig den Rücken zukehrt. In dessen linker Hand flackert eine Sturmlaterne. Mit der Rechten stützt er sich an der Wand ab. Der flackernde Lichtschein fällt auf einen zweiten Mann, der über einer am Boden liegenden Frau kniet. Ihr Körper windet sich.

      Im ersten Moment glaubt Kleine, die Männer würden einer verletzten Passagierin erste Hilfe leisten. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und erkennt dann im Zwielicht, was tatsächlich geschieht: Die beiden Kerle wollen die Frau vergewaltigen!

      Der Mann am Boden hat seine Hose bis in die Kniekehlen heruntergezogen. Sein knochiger weißer Hintern ist mit Schriftzeichen und einem Totenkopf tätowiert. Er hat die Bluse und den Rock der Frau aufgerissen und ihre Beine auseinandergespreizt. Er presst ihre Hände auf den Boden. Sie wehrt sich mit nachlassender Kraft.

      »Mach endlich, du Schlappschwanz. Lass mich endlich ran!«, brüllt der Kerl mit der Laterne und lacht.

      Ohne nachzudenken, schlägt Sebastian Kleine mit aller Kraft zu. Krachend knallt das Holzstücke auf den Hinterkopf des stehenden Mannes. Der fällt wie ein vom Blitz getroffener Baum. Die Sturmlaterne flackert am Boden weiter und beleuchtet das fassungslose Gesicht des anderen Mannes, als der sich umdreht, um zu sehen, was hinter ihm geschieht. Kleines zweiter Hieb zertrümmert ihm Zähne und Kiefer. Sein massiger Körper kippt seitlich von der Frau herunter. Die rafft ihren Rock zusammen und versucht aufzustehen. Kleine ergreift ihre Hand und hilft ihr auf die Beine.

      »Schnell, kommen Sie!«

      Sie lässt sich auf den Gang hinausziehen. Hinter ihnen sind Schmerzenschreie und lautes Fluchen zu hören.

      Nach wenigen Schritten erreicht Sebastian Kleine seine Kajüte. Er schiebt die Frau vor sich her und verriegelt die Tür von innen. Schwer atmend stehen sie eng nebeneinander im Dunkel. Er spürt ihre Herzschläge. Polternde Schritte kommen näher. Er drückt die Finger seiner rechten Hand auf ihren Mund. Die beiden Männer torkeln vorüber, kommen noch einmal zurück, flüstern miteinander und entfernen sich schließlich endgültig.

      Die Frau klammert sich angstvoll an Sebastian Kleine. In der Dunkelheit ist minutenlang nur ihr Atmen zu hören.

      »Danke«, flüstert sie. Erst jetzt kommt ihm die Stimme bekannt vor.

      »Schwester Anna?«, fragt er.

      »Der Herrgott hat Sie zu meiner Rettung geschickt.«

      Missionsschwester Anna Scharnhorst beginnt zu weinen.

      6

      Tagebuch Sebastian Kleine, Donnerstag, 14. April 1898

      Am Tag danach wusste ich nicht, ob ich das alles nur in meinem vom Alkohol verwirrten Kopf geträumt hatte: die versuchte Vergewaltigung, mein schlagkräftiges Eingreifen und die zaghafte Annäherung zwischen Anna und mir.

      Erst als Olga Tietjen, die Frau des Kapitäns, mir beim Frühstück in der Offiziersmesse für die Tapferkeit dankte, mit der ich Missionsschwester Anna geholfen und ihr möglicherweise das Leben gerettet hätte, ordneten sich meine Gedankensplitter zu einem Bild des Geschehens. Kapitän Tietjen berichtete Theobald und mir, seine Leute hätten die beiden Kerle vor ein paar Stunden geschnappt und in das Schiffsgefängnis neben dem Laderaum gesperrt, das für solch ein Gesindel vorgesehen ist.

      »Da unten sind sie in der richtigen Gesellschaft, da gibt es eine Menge Ratten«, hat der Kapitän gesagt.

      Schwester Anna stehe nach dem furchtbaren Erlebnis noch unter Schock, erklärte die Frau des Kapitäns auf meine Nachfrage. Sie wage sich noch nicht wieder aus ihrer Kabine. Sie bete viel. Sie lasse mich grüßen und mir danken.

      Also versuchte ich, meine Gedanken abzulenken. Zusammen mit Theobald habe ich unser Schiff näher erkundet und jeden Einzelnen der 24 Mann Besatzung kennengelernt, vom Kapitän bis zu dem erst 16 Jahre alten Smutje Gustav, einem Küchenjungen aus Altona, der trotz seiner Jugend bereits seine dritte große Reise um die halbe Welt unternimmt. Theobald Kolber brachte mir die Kunst des Schachspiels bei, dessen Regeln ich aus der Schulzeit nur mühsam beherrsche. So verbrachten wir jeden Tag einige Stunden an dem karierten Brett.

      Schon begann ich zu denken, Anna sei überhaupt nur eine Einbildung gewesen, eine Fata Morgana auf hoher See sozusagen, als ich die hübsche Schwester Gottes ganz unerwartet wieder zu Gesicht bekam.

      Es war am neunten Abend nach jenem nächtlichen Ereignis, wir müssen uns in Höhe von Swakopmund befunden haben, der Hafenstadt an der kalten und rauen Küste im Norden unserer Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Ich glaubte, allein auf dem Achterdeck zu sein, und genoss einen jener unwirklich schönen Sonnenuntergänge, wie es sie wohl nur bei klarer Sicht auf den Weltmeeren gibt. Über mir sirrten die geblähten Segel gleichmäßig wie eine Nähmaschine im Wind, unser Schiffsbug durchschnitt rauschend das Wasser, aus dem ab und zu große Fische sprangen. Sogar Robben und Pinguine tauchten aus der eiskalten Meeresströmung auf. Ein paar Matrosen sangen an diesem Abend bei der Arbeit das vertraute Lied vom Hamburger Veermaster. Und zum Greifen nahe sank der gewaltige Sonnenball in die stahlblaue See. Plötzlich erschienen wie aus einer anderen Welt große Schatten über den Mastspitzen unseres Schiffes – Albatrosse, die größten Vögel der Meere, die nur auf der südlichen Halbkugel anzutreffen sind und die mit ihren gewaltigen Schwingen von mehr als drei Metern Breite oft monatelang ununterbrochen in der Luft und auf dem Wasser leben. Für jeden Seemann aus dem Norden, so hörte ich später, sei es immer wieder ein magischer Moment, wenn nach langer Reise die ersten Albatrosse am Himmel erscheinen.

      Während ich also bequem und ein wenig versteckt in einem der Rettungsboote saß und erschaudernd diese betörenden Eindrücke aufnahm, erschien unser zweiter Offizier Hinnerk Onken, ein dicker, fröhlicher Ostfriese, an Deck. Zu meinem Erstaunen kniete er am Großmast nieder, faltete die Hände und blickte zu den Albatrossen empor. Dabei sprach er offenbar ein Gebet, doch wurden seine Worte vom Winde verweht, so dass ich nichts verstehen konnte. Die zweite, für mich noch größere Überraschung war, dass noch ein anderer Mensch den betenden Seemann beobachtete. Dieser Mensch war schmal und blass, trug ein blaues Kleid und saß nur ein paar Meter von mir entfernt hinter etlichen Kisten und Bergen von dickem Tauwerk. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte Anna mir schüchtern zu. Und als ich ihr zuwinkte und etwas sagen wollte, legte sie ihre Finger auf den Mund, zum Zeichen,


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