Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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Gebet zu wiederholen. Es hat viele Strophen, die erste geht so:

      »Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet.

      Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute ...

      Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen.

      Denn heute fliegen sie auf meinen Flügeln in die Ewigkeit ...«

      Dieses Gebet spreche er bei jeder Reise in dieser Gegend – denn hier habe er eines Nachts vor acht Jahren seinen besten Freund, Lüder aus Bremen, verloren. Der hatte bei aufbrisendem Sturm seine Nachtwache angetreten. Danach habe man ihn nie wieder gesehen. Wahrscheinlich hat ihn während der Sturmnacht ein Kavenzmann, wie die Seeleute die riesigen Wellen nennen, über Bord gerissen. Und sosehr man auch bei nachlassendem Sturm die noch immer aufgewühlte See absuchte – es war natürlich hoffnungslos. Lüder tauchte nie wieder auf. Stattdessen seien die ersten Riesenvögel am Himmel erschienen, die Albtrosse, die »vergessenen Seelen der Seeleute«.

      Anna war von dieser Geschichte zu Tränen gerührt. Sie sagte, sie werde den toten Seemann und den lebenden Hinnerk in ihr Abendgebet einschließen.

      Nach diesem zweiten denkwürdigen Zusammentreffen sahen Anna und ich uns häufiger. Meist waren Theobald oder die Kapitänsfrau Olga Tietjen dabei. Wir vermieden es alle, über das Geschehen in der Nacht nach der Äquatortaufe zu reden. Dennoch spürte ich Annas Dankbarkeit und glaubte Zeichen der Zuneigung in kleinen Gesten und Blicken zu empfangen. Bei mir verstärkte sich ein Gefühl, das ich schwer bestimmen kann. Wahrscheinlich ist es mehr als Freundschaft, vielleicht eine Vorstufe des Verliebtseins. Besonders bei den romantischen Sonnenuntergängen auf hoher See ertappte ich mich dabei, dass ich sie am liebsten an mich gezogen und geküsst hätte. Und mehr als das. Allerdings verbiete ich mir selber derartige Gelüste, denn schließlich ist sie eine Missionsschwester und daher irgendwie unberührbar. Und dennoch geschah es, dass sich unsere Gefühle und unsere Körper so nahe kamen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.

      Bei blankem, blauem Himmel und gutem Wind hatten wir das bei den Seeleuten sonst so gefürchtete Kap der Guten Hoffung umsegelt. Doch ein paar Tage danach fiel das Barometer dramatisch. Der Wind drehte auf Ostnordost. Unaufhaltsam lief unsere Emily Godeffroy in eine schwarze Wetterfront hinein, die sich vor uns über den ganzen Horizont ausbreitete. Zwei Stunden vor der Zeit brach an diesem Abend schlagartig eine von Blitzen durchzuckte Finsternis herein. Der Sturm pfiff und heulte um die Masten und Rahen und wimmerte schrecklich in den Wanten. Sturzbäche ergossen sich in immer kürzeren Abständen über die Reling. Mal hob sich der Bug, mal das Heck steil aus dem tobenden, schäumenden Wasser. An Deck hatten sich die Seeleute angeschnallt, damit sie nicht über Bord gefegt werden konnten.

      Ich fand in meiner Kajüte keinen Halt mehr. Wie ein Kautschukball wurde ich zwischen den Wänden, zwischen Boden und Decke hin und her geworfen. Von Panik erfasst, stemmte ich die Tür auf und hangelte mich an Deck. Im selben Moment krachte ein gewaltiger Brecher auf die Mitte des Schiffs. Ein zweiter Kavenzmann folgte, ein dritter und ein vierter. Trillerpfeifen ertönten. Kommandos waren in dem Höllenlärm nicht zu verstehen. Schwere Holzteile trieben an Deck herum und zerfetzten die Persenning, die über die Luken gespannt war. Eines der Rettungsboote riss sich vor meinen Augen aus seinen Befestigungen los, rutschte und raste über das Deck, schlug die Brücke in Stücke und zertrümmerte das Ruderhaus, in dem eben noch zwei Seeleute in ihrem schwarz glänzenden Ölzeug gestanden hatten. Nirgendwo fanden meine Hände einen Halt. Trümmerteile trafen meinen Körper. Dann spürte ich einen Schlag an meinem Kopf. Mein letzter Eindruck war, dass ich über Bord in die tosende See geschleudert wurde.

      Drei endlose Stunden lang, so habe ich später erfahren, brodelte die Hölle. Dann war die größte Gewalt des Sturms vorüber. Das Heulen ließ nach. Das Schiff kehrte in eine stabile Lage zurück. Besatzungsmitglieder und die männlichen Auswanderer arbeiteten bis zur Erschöpfung an den Lenzpumpen. Entgegen allen Befürchtungen war der Bootskörper unbeschadet geblieben.

      Als ich wieder zu mir kam, hörte ich die asthmatischen Schreie des Esels, der in meiner Kindheit auf unserem Hof an der Unterelbe mit den Pferden zusammengelebt hatte. Es war allerdings das Quietschen der Pumpen.

      Es dauerte eine Weile, bis ich meine Lage begriff. Ich hing bereits halb über Bord in einem der Sicherheits-Fangnetze, das die Seeleute »Leichennetz« nennen, weil es verhindern soll, dass Menschen im Sturm über Bord gespült werden. So ein Netz hatte mich gerettet. Nun zappelte ich hilflos darin herum wie ein gefangener Fisch. An meiner Stirn klaffte eine Wunde. Blut drang in meine Augen, so dass ich alles durch einen roten, schlierigen Vorhang sah. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Mein Brustkorb schmerzte höllisch, vermutlich waren ein paar Rippen gebrochen. Jedenfalls hörte ich mich um Hilfe rufen, denn selber konnte ich mich nicht aus dem gerissenen und mehrfach um mich geschlungenen Netz befreien. Niemand hörte mich. Niemand bemerkte mich. Alle Mann waren damit beschäftigt, Wasser zu pumpen und die Schäden des Sturms zunächst provisorisch zu reparieren.

      Das Nächste, was ich durch den blutroten Vorhang vor meinen Augen ausmachen konnte, war eine Hand, die ein Messer hielt. Ich glaubte, man wolle mich umbringen. Ich schrie noch lauter um Hilfe als zuvor. Doch jemand durchschnitt das Netz mit dem Messer. Zunächst konnte ich meinen Kopf befreien und dann mühsam herauskriechen. Beinahe wäre ich dabei doch noch über Bord gegangen, doch zwei Hände zogen mich zurück, so dass ich wie ein nasser Sack auf das glitschige Schiffsdeck plumpste. Jetzt erkannte ich undeutlich, dass mich ein leibhaftiger Engel gerettet hatte – ein Engel in der Gestalt von Missionsschwester Anna Scharnhorst. Der Engel lächelte und sprach zu mir: »Offenbar hält der liebe Gott seine Hand schützend über uns, erst haben Sie mich gerettet und nun bin ich Ihnen zu Hilfe gekommen. Es scheint, unser Schicksal ist miteinander verknüpft.«

      Diese Worte haben sich mir eingeprägt.

      7

      »Wie geht es Ihnen, Herr Kleine, fühlen Sie sich besser?«

      Sebastian Kleine hockt auf dem Bett des kleinen Schiffshospitals, das zwischen der Offiziersmesse und dem Kabinentrakt eingerichtet ist und die Größe von gerade mal zwei kleinen Kajüten hat. Die Wunde an seiner Stirn ist mit Jod desinfiziert und verbunden. Anna Scharnhorst betrachtet zufrieden ihren Patienten, den sie fachgerecht verarztet hat.

      Kleine kann sich selber in einem halbmatten Spiegel an der gegenüberliegenden Spindtür sehen. Er trägt eine Art Turban. Seine Stirn und sein Kopf sind mit Verbandszeug umwickelt. Sein nackter Oberkörper ist an der linken Seite von Blutergüssen übersät. Anna reibt seinen Oberkörper vorsichtig mit einer nach Kampfer riechenden Heilsalbe ein. Er spürt ihre zarten Finger und schließt seine Augen, damit sie darin seine Gedanken nicht lesen kann. Ihm fällt ein, dass er sich in schlaflosen Nächten vorgestellt hat, von Missionsschwester Anna verwöhnt zu werden, mit ähnlichen und noch weitergehenden Zärtlichkeiten.

      »Ihre Rippen scheinen nicht gebrochen zu sein. Sie sind wohl mit schmerzhaften Prellungen davongekommen.«

      »Sie sind offenbar nicht nur Missionsschwester, sondern auch Krankenschwester«, sagt Kleine.

      »Ich bin eigentlich Hebamme von Beruf.«

      Anna betastet seinen Oberbauch.

      »Nach meiner ersten, oberflächlichen Untersuchung sind Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht schwanger.«

      Kleine verzieht sein Gesicht zu einem gequälten Grinsen.

      Anna steht hautnah vor ihm. Sie riecht nach Mandeln und Orangen, nach einem Parfüm mit fruchtigen Ingredienzien. Er spürt ihren Körper und ihre Schenkel. Und ihre kreisenden Finger auf seinem Oberkörper. Vergeblich versucht er, seine aufsteigende Erregung zu unterdrücken.

      »Geht es Ihnen schon besser?«, fragt sie mit einer Stimme, die ihm ein wenig belegt erscheint.

      Ob sie seine Erregung bemerkt hat?

      Kleine setzt sich breitbeinig auf die Eisenkante des Krankenbettes.

      Er zieht sie an sich, während seine Hände über ihren Rücken und ihre Hüften gleiten. Anna lässt seine Zärtlichkeiten sekundenlang geschehen. Erst als seine Hände unter ihre Hemdbluse wandern, stößt


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