Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
Herr Kleine, aber Sie brauchen noch dringend ein paar Tage Schonung.«
Mit geschlossenen Augen bleibt Sebastian Kleine liegen.
»In den nächsten drei Tagen sollten Sie sich möglichst ruhig verhalten. Wenn Sie Schwindelgefühle und Kopfschmerzen bekommen, werden Sie sich wohl eine Gehirnerschütterung zugezogen haben.«
»Sie machen mir Kopfschmerzen«, sagt er. »Wir beide wissen sehr wenig voneinander – obwohl wir uns nun schon wochenlang kennen.«
»Vielleicht ist es besser so.«
Anna dreht den Kopf zur Seite, zupft ihre Kleidung zurecht und ordnet Verbandszeug, Scheren und Tinkturen wieder in einen Arzneimittelschrank ein.
Kleine hebt seinen Kopf und beobachtet die Bewegungen ihrer grazilen, aber sehr weiblichen Figur.
»Ich würde gern mehr von Ihnen erfahren. Mich interessiert zum Beispiel sehr, warum Sie Missionsschwester geworden sind.«
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Erzählen Sie. Wir haben ja Zeit genug, und da wir uns in Neuguinea vermutlich auch des Öfteren begegnen werden, wäre es schön, wenn wir ein wenig vertraut miteinander würden. Jedenfalls wünsche ich mir das sehr.«
»Nein«, sagt sie leise, und fügt lauter hinzu: »Jedenfalls nicht hier und nicht jetzt!«
»Was halten Sie davon, wenn wir uns in den nächsten Tagen treffen – bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein?«
»Sie sind aber sehr hartnäckig, Herr Kleine.«
»Einverstanden?«
»Nun ja, vielleicht, warum nicht? Aber nicht bei Ihnen oder bei mir oder wie Sie sich das vorstellen mögen, nur an einem neutralen Ort und in Gegenwart von Zeugen.« Anna lacht.
»Wie Sie wünschen. Das wird sich arrangieren lassen. Wen bringen Sie als Sekundanten mit?
»Frau Olga Tietjen, die Kapitänsfrau, sie ist hier auf dem Schiff meine mütterliche Freundin geworden.«
»Nun gut, dann komme ich mit Theobald Kolber, den haben Sie ja bereits bei unserem Treffen mit Herrn Godeffroy kennengelernt. Er ist mein Vorgesetzter und mein älterer Freund zugleich.«
»Sie müssen aber wirklich abwarten, ob Sie eine Gehirnerschütterung haben.«
»Zu Befehl, Frau Doktor.« Sebastian Kleine erhebt sich übertrieben ächzend und sagt: »Ich lasse von mir hören.«
Am dritten Tag nach dem Sturm nimmt Sebastian Kleine seinen Kopfverband ab. Die Wunde über dem linken Auge ist verschorft. Er fühlt sich gut: Ein gewisses Glücksgefühl hat seine Genesung beschleunigt.
Theobald Kolber ist angetan von einer Verabredung zum gemütlichen Gesprächsabend zu viert. Kapitänsfrau Olga Tietjen hat sogar in gestochen scharfer Sütterlinschrift eine kleine schriftliche Einladung auf Büttenpapier verfasst: »Hiermit bitte ich anlässlich der Wiedergenesung von Herrn Sebastian Kleine zu einem kleinen Abendessen mit anschließendem Gedankenaustausch, heute, um 19 Uhr Ortszeit. Zu diesem Anlass ist die Offiziersmesse reserviert.«
Sebastian Kleine zieht zum ersten Mal seinen in Hamburg nach Maß gefertigten Tropenanzug an. Theobald Kolber erscheint ohne Absprache in gleicher Aufmachung. Kapitänsfrau Tietjen lächelt ihren Gästen aus einer Seidenbluse mit hochgestelltem Kragen entgegen, und Anna Scharnhorst sieht mit weißen Kniestrümpfen, blauem Faltenrock und farblich passendem, eng anliegendem Jäckchen wie die junge Studienrätin einer Lehranstalt für höhere Töchter aus. Unter den Arm hat sie eine kleine Ledermappe geklemmt.
»Ganz reizend sehen Sie aus, Fräulein Scharnhorst«, sagt Olga Tietjen, und die Herren nicken dazu, wobei Theobald Kolber zum Missfallen der Gastgeberin noch hinzufügt: »Die strenge Kleidung der Missionsschwester gefällt mir sowieso nicht so an Ihnen.«
Der Schiffskoch hat frisch gefangenen Schwertfisch zubereitet und persönlich serviert. Aus dem Weinvorrat ihres Mannes wählt die Kapitänsfrau einige Flaschen Pfälzer Riesling aus, einen »Forster Pechstück Kabinett«. Silberbesteck und Leinenservietten liegen auf der Mahagoniplatte des großen Tisches, an dem nur das obere Ende eingedeckt ist. Der Fisch ist gut gewürzt und genau richtig gebraten, mit brauner Haut und bissfest. Sebastian Kleine ist wieder einmal froh, dass er noch kurz vor der Abreise in Hamburg beim Zahnarzt gewesen ist. In den ersten Tagen hatten die neuen Goldplomben noch ein wenig gedrückt, aber nun spürt er sie schon lange nicht mehr.
Beim Kaffee sagt Theobald Kolber in einer jovialen, väterlichen Tonlage: »Und nun erzählen Sie uns doch mal, verehrtes Fräulein Scharnhorst: Wie kommt eine so hübsche junge Frau wie Sie dazu, ihr Leben in den gestrengen Dienst der Kirche und ihrer Missionsgesellschaft zu stellen?«
Anna, die bisher nur an ihrem Weinglas genippt hat, nimmt einen größeren Schluck.
»Vor ein paar Stunden wollte ich dieses Zusammentreffen noch absagen, aber nun denke ich, dass es mir möglicherweise sogar guttun wird, wenn ich einmal über meine Geschichte sprechen kann.«
Nach diesem Vorwort hören ihr alle aufmerksam zu. Selbst Theobald Kolber, der ein paarmal zu einer Zwischenfrage ansetzt, schließt seinen Mund wortlos wieder und kaut auf dem Stiel seiner kalten Pfeife herum, denn die Damen haben ihn gebeten, nicht zu rauchen. Anna Scharnhorst erzählt:
»Ich bin in dem kleinen Ort Kalkar am Niederrhein aufgewachsen, am Marktplatz, neben der holländischen Backsteinkirche. Meine Mutter ist Lehrerin für Deutsch und Religion. Einen Vater habe ich nicht – das heißt, ich habe ihn nicht kennengelernt. Er ist wohl schon vor meiner Geburt verschwunden, und meine Mutter hat nie vom ihm erzählt, auch nicht, wenn ich nach ihm gefragt habe.« Erst vor zwei Jahren habe sie gehört, dass er irgendwo in den deutschen Kolonien leben soll. Und erst kürzlich habe sie durch einen Zufall seinen Namen erfahren.
Anna stockt, als sei sie über sich selbst erschrocken, als habe sie bereits zu viel gesagt.
»Meine Mutter«, so fährt sie schnell fort, »meine Mutter hat mich immer spüren lassen, dass ich das ungewollte Kind eines Mannes war, der Schande über sie gebracht hat. Ich war der lebende Beweis für den einen großen Fehltritt in ihrem sonst so frommen und züchtigen Lebenswandel.« Ihre Mutter habe dann einen Apotheker geheiratet und noch einen ehelichen Sohn bekommen.
Anna dreht den dünnen Stiel ihres Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger, als warte sie auf Fragen zu diesem Thema. Doch niemand mag ihre Geschichte unterbrechen.
»Eigentlich wollte ich Ärztin werden, aber das Einkommen der Eltern hat nur für das Theologiestudium meines Halbbruders gereicht. So bin ich Hebamme im Diakonissen-Krankenhaus in Düsseldorf geworden. Und bis zu einem bestimmten Tag habe ich das nicht bereut, ganz im Gegenteil, denn Geburtshelferin ist ja der einzige medizinische Beruf, in dem man nicht Tag für Tag mit Krankheit und Tod zu tun hat, sondern zumeist mit freudigen Ereignissen, mit dem Beginn eines neuen Lebens. Jede schöne Geburt, jedes Neugeborene hat mich für eine Weile beinahe so glücklich gemacht wie die glücklichen Eltern selbst – bis zu jenem schrecklichen Ereignis, das mein Leben verändert hat ...«
Anna stockt. Sie trinkt einen kräftigen Schluck Wein, bevor sie mit kleiner, aber fester Stimme fortfährt.
»Nach seiner Ausbildung zum Pastor hat mein Halbbruder zur Freude meiner Mutter eine eigene Pfarrstelle in einem Nachbardorf bei uns am Niederrhein bekommen. Vor drei Jahren hat er geheiratet: Elisabeth, die Tochter eines vermögenden Textil-Großhändlers, ist genauso alt ist wie ich. Irgendwie mochten wir beide uns nicht. Elisabeth wurde noch im Jahr der Hochzeit schwanger, und natürlich habe ich mich, sozusagen als Familienhebamme, schon vor der Entbindung um meine Schwägerin und ihr ungeborenes Kind gekümmert, obwohl sie angeblich immerzu alles besser wusste.
Die Geburt setzte vorzeitig in einer frostklaren Winternacht ein. Viel Fruchtwasser trat aus, und die Wehen wurden schnell stärker. Die Straßen waren von Glatteis überzogen. Mit der Pferdekutsche hätte man es nicht bis ins Krankenhaus geschafft, und so holte mich mein völlig verstörter Bruder notgedrungen zur Hausgeburt. Als ich in seinem Pfarrhaus eintraf, hatte die Austreibungsphase bereits begonnen. Elisabeth